Beitrag vom 30.08.2024
Die Presse, Wien
Hunderttausende Migranten planen Überfahrt auf die Kanaren
Migranten kommen nach tagelanger Überfahrt auf El Hierro an.
von Anna Gabriel
Westafrikas Transitländer sollen sich für Hilfszahlungen dazu verpflichten, die Boote an der Abfahrt zu hindern. Doch in den kommenden Wochen dürften die Zahlen witterungsbedingt weiter steigen.
An der Steinküste nahe dem Hafen La Restinga auf der Kanareninsel El Hierro haben sich mehrere Touristen versammelt und winken den Neuankömmlingen freundlich zu. Im Geleit der spanischen Küstenwache läuft ein bunt bemalter Kahn ein, der Tage zuvor an der nordwestafrikanischen Küste in See gestochen ist. An Bord: etwa 150 Migranten; sie jubeln, sind erleichtert, dass sie die Überfahrt unbeschadet überstanden haben. Kein Tag vergeht, an dem die Küstenwache nicht neue Boote bergen und zum Festland eskortieren muss.
Das spiegelt sich auch in den Zahlen wider: Laut Grenzschutzagentur Frontex sind die Ankünfte bis Ende Juli um 154 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum angestiegen, die Behörden auf den zu Spanien gehörenden Kanaren haben bis Mitte August 22.304 Migranten registriert. Premier Pedro Sánchez, der deshalb bereits unter gehörigem Druck seiner politischen Gegner steht, hat in dieser Woche eine dreitägige Reise absolviert: nach Mauretanien, in den Senegal – jene beiden Länder, von wo die meisten Boote ablegen – und nach Gambia. Allein in Mauretanien warten zurzeit 150.000 Migranten aus dem Kriegsland Mali darauf, ein Boot in Richtung Kanaren zu besteigen, mahnen die Experten von Frontex. Die Schätzungen der Regierung in Madrid belaufen sich auf nicht weniger als auf das Doppelte.
Dieser Entwicklung will Sánchez mit millionenschweren Investitionen und Wirtschaftshilfen für die Transitländer an der westafrikanischen Küste entgegentreten – so deren Regierungen sich verpflichten, Migrantenboote am Ablegen zu hindern. Bereits im Februar ist der Sozialdemokrat mit Kommissionschefin Ursula von der Leyen in selber Mission nach Mauretanien gereist, mit einem Versprechen von 500 Millionen Euro im Gepäck zur Bekämpfung der Schlepperbanden – bisher aber ohne nennenswerten Erfolg.
Tunesien-Deal erfolgreich
Gänzlich anders sieht die Lage an der zentralen Mittelmeer-Route aus: In Tunesien, von wo noch im vergangenen Jahr ein Großteil der Migranten aus der Sahelzone in Richtung Europa abgelegt hat, hat der EU-Deal vom Sommer 2023 endlich Wirkung gezeigt: Die verstärkten Grenzkontrollen im Maghreb-Staat haben den Migrantenstrom in Richtung Westafrika umgelenkt. Die Frontex-Zahlen zeigen einen Rückgang der illegalen Migration um 64 Prozent auf der klassischen Route zwischen Nordafrika und Italien – wenngleich sie in absoluten Zahlen (32.239 Aufgriffe von Jänner bis Ende Juli) die am meisten frequentierte vor der östlichen Mittelmeer-Route (29.673 Aufgriffe) bleibt.
Das Problem: Die Überfahrt auf dem Atlantik ist mit über 1000 Kilometern und häufig sehr starkem Seegang noch gefährlicher als jene über das Mittelmeer. Laut spanischen Hilfsorganisationen starben heuer bereits knapp 5000 Menschen beim Versuch, per Boot von Afrikas Küste auf die Kanaren zu gelangen. Die NGOs gehen von einer Todesrate von 25 Prozent bei der Überquerung aus: Manche verdursten oder ertrinken, andere werden von der starken Strömung an den Kanaren vorbei auf das offene Meer getrieben.
Zudem wird auf den bei Touristen beliebten Inseln bereits der Platz in den Unterkünften knapp: Militärlager und Zelte sollen künftig als Notlager dienen, heißt es von den regionalen Behörden. „Wir haben unsere Grenzen und Kapazitäten längst überschritten“, warnt der Regionalpräsident der Kanaren, Fernando Clavijo. Die Situation dürfte sich in den kommenden Wochen weiter zuspitzen: Von September bis November, wenn die Winde und Wellen üblicherweise abnehmen, werden noch mehr Migranten die Überfahrt wagen.
Österreich auf dem fünften Platz
Kein Wunder also, dass Spanien im Mai bereits 31,7 Asylanträge pro 100.000 Einwohner verzeichnet hat und damit EU-weit nunmehr an dritter Stelle liegt – hinter Irland und Griechenland. Österreich belegt mit 2470 Anträgen „nur“ noch den fünften Platz, Schlusslicht ist Ungarn, dessen restriktive Asylpolitik dazu führt, dass die Behörden in den vergangenen Monaten keinen einzigen Antrag verzeichnet haben.