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Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 31.12.2023

NZZ

Kolonialismus und Ausbeutung: Wir leben nicht vom Elend der anderen

Die globale Ungleichheit nimmt ab – anders als gerne behauptet wird. Die ärmeren zwei Drittel der Welt haben ihre Lage seit Ende der 1980er Jahre stark verbessert.

Thomas Fuster

Für Mani Matter war die Sache klar: «Dene wos guet geit, giengs besser, giengs dene besser, wos weniger guet geit, was aber nid geit, ohni dass es dene weniger guet geit, wos guet geit.» Wem das zu kompliziert ist, kann sich auch an Bertolt Brecht halten. Dieser brachte dieselbe Botschaft etwas direkter auf den Punkt: «Reicher Mann und armer Mann standen da und sah‘n sich an. Und der Arme sagte bleich: Wär‘ ich nicht arm, wärst Du nicht reich.»

Ob Berner Troubadour oder deutscher Dramatiker – beide sind sich einig: Die Reichen sind reich, weil die Armen arm sind. Denn was der eine hat, hat der andere nicht. Die Annahme dahinter: Der Wohlstand ist wie ein Kuchen. Wenn jemand ein grosses Stück davon abschneidet, bleibt für den anderen weniger übrig. Die Welt als Nullsummenspiel.

Stimmt die Logik? Kann Reichtum nur geschaffen werden, wenn jemand etwas verliert? Von der Antwort hängt ab, ob Länder wie die Schweiz vom Elend der anderen leben. Über das Thema wird hierzulande oft gestritten, zuletzt bei der Konzernverantwortungsinitiative. Im Raum stand damals der Vorwurf, unser Reichtum gründe auf der Ausbeutung von Menschen und Umwelt im Ausland.

Kolonialzeit war nicht entscheidend

In der Debatte wird oft auf die Kolonialzeit verwiesen. Ab dem späten 15. Jahrhundert begannen Europas Kolonialmächte, die Rohstoffe und Bewohner der eroberten Gebiete für ihre Wirtschaft zu nutzen. Spanien baute Gold und Silber in den Anden ab. Portugal holte Zucker aus Brasilien. Frankreich gewann Mineralien in Westafrika. England verschiffte Baumwolle, Getreide und Tee in die Heimat.

Die lokale Bevölkerung wurde versklavt. Der Mensch verkam zur Ware. Zwar gab es Leibeigenschaft schon immer, etwa im antiken Rom oder kaiserlichen China. Doch mit dem Kolonialismus nahm der Menschenhandel eine neue Dimension an. Millionenfach wurden die angeblich «Wilden» von Afrika in die Kolonien Amerikas verschifft. Laut Schätzungen starben 15 Prozent bei der Überfahrt.

Der auf diese Weise angehäufte Reichtum basierte zweifellos auf dem Elend anderer. Daraus lässt sich aber keine direkte Linie zur Gegenwart ziehen. Sozialistische Ökonomen wie Thomas Piketty sind zwar überzeugt, dass am Wohlstand des Westens noch immer Blut klebe. Der Industriekapitalismus sei untrennbar verknüpft mit Kolonialismus, Sklaverei und ungleichen Handelsverträgen.

Doch so eindeutig ist die Sache nicht. Unter Historikern ist umstritten, inwiefern der Kolonialismus die industrielle Revolution ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nach sich zog. Jene Revolution also, die im Westen den Übergang zu modernem Wirtschaftswachstum einleitete und breiten Bevölkerungsschichten grosse Verbesserungen brachte bei Einkommen, Bildung und Gesundheit.

Vieles spricht gegen eine direkte Verbindung. So wurde die industrielle Revolution durch Innovationen ausgelöst, die wenig mit den Kolonien zu tun hatten. Weder die Dampftechnologie noch die Stahlverarbeitung sind koloniales Raubgut. Auch die Behauptung, nur dank Ausbeutung der Kolonien sei die Industrialisierung finanzierbar gewesen, überzeugt nicht. Hierzu war Englands damaliger Handel mit Kolonien viel zu klein.

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist der Kolonialismus vorbei. Damit ist die Debatte aber nicht verstummt. Linke Anthropologen wie Jason Hickel argumentieren, der Imperialismus sei nie zu Ende gegangen, er habe nur seine Form verändert. Die Ausbeutung sei heute strukturell. Verwiesen wird auf die Macht der Multis, auf westlich kontrollierte Organisationen wie die Weltbank oder den Währungsfonds, auf unfaire Handelsbarrieren und die Dominanz des Dollars als globale Leitwährung.

Mancher Vorwurf ist begründet. Wahr ist aber auch, dass die Ungleichheit zwischen den Ländern sinkt. Wie der Armutsforscher Branko Milanovic zeigt, haben die ärmeren zwei Drittel der Welt ihre Lage seit den späten 1980er Jahren stark verbessert. Dies auch deshalb, weil in bevölkerungsreichen Ländern wie China und Indien eine neue Mittelschicht herangewachsen ist. Wer wachsende Ungleichheit sucht, findet sie nicht primär zwischen Nord und Süd, sondern innerhalb reicher Staaten wie den USA, wo der Mittelstand kaum noch vorankommt.

Einkommen der Armen steigen stärker

Der Länder des «globalen Südens» holen derweil auf. Die Einkommen der Armen steigen prozentual stärker als jene der Reichen. Auch beim Kampf gegen die extreme Armut gibt es grosse Fortschritte, trotz Rückschlag in der Covid-Pandemie. So ist die Zahl jener, die mit weniger als 2.15 Dollar pro Tag auskommen müssen, von 2 Milliarden zu Beginn der 1990er Jahre auf zirka 700 Millionen gesunken; über die Hälfte davon lebt im subsaharischen Afrika.

700 Millionen extrem arme Menschen bleiben ein humanitärer Skandal. Anerkennen muss man aber auch, dass das Vorankommen der Industrieländer im Zuge der Globalisierung nicht auf Kosten der Entwicklungsländer ging. Der Kuchen hat sich weltweit vergrössert. Nord und Süd wachsen gemeinsam – vor allem dort, wo die Institutionen stimmen, wo es also Rechtssicherheit gibt, einen Schutz von Personen und Eigentum, eine gute Regierungsführung und eine Kultur, die Leistung honoriert.

Die Schweiz ist nicht reich, weil sie andere ausbeutet, sondern weil sie einen institutionellen Rahmen bietet, der verlässlich ist und Erfolge belohnt. Bill Gates ist nicht Milliardär, weil er andere bestohlen hat, sondern weil Microsoft den Kunden offenbar einen Nutzen bot. Arbeitsteilung und Handel sind kein Nullsummenspiel. Wenn der eine gewinnt, kann auch der andere profitieren. Mani Matter und Bertolt Brecht mögen gute Lieder und Theaterstücke geschrieben haben. Als Ökonomen überzeugen sie nicht.