Beitrag vom 18.12.2023
NZZ
Entwicklungsländer in der Schuldenklemme
Steigende Zinsen und versiegende Kredite legen die Verletzlichkeit überschuldeter Entwicklungs- und Schwellenländer offen. Mit bitteren Folgen für die Bevölkerung. Das Problem ist ernst. Ob das den Industrieländern eine genügende Warnung ist?
Von Peter A. Fischer
Zwei besonders eindrückliche Beispiele von Ländern in der Schuldenfalle sind Argentinien und Sri Lanka. Argentinien hat laut seinem neuen Wirtschaftsminister in den vergangenen 123 Jahren 113 Mal ein Haushaltsdefizit erwirtschaftet. Derzeit droht die zehnte Zahlungsunfähigkeit in seiner Geschichte. Es erstaunt, dass im vergangenen Jahr überhaupt noch privates Geld in das Land geflossen ist. Wahrscheinlich schickten private Kreditoren gutes Geld schlechtem nach, um zu verhindern, dass sie ihre Investitionen ganz abschreiben müssen.
Ähnlich sieht es beim Internationalen Währungsfonds (IMF) aus. Dieser hat mit neuen Hilfszahlungen an Argentinien zwar verhindert, dass sein grösster Kreditnehmer seine IMF-Schulden überhaupt nicht mehr bedient. Natürlich musste er daraufhin feststellen, dass sich die Regierung nicht an die mit den Zahlungen verbundenen Abmachungen gehalten hat. Und dass sich das Land nicht erholt hat, sondern weiter in der korrupten wirtschaftspolitischen Misere versunken ist. Die Inflation ist im November auf über 160 Prozent hochgeschnellt und die Wirtschaftsleistung weiter eingebrochen. 40 Prozent der Bevölkerung gelten als arm. Nun muss der libertäre neugewählte Staatschef Javier Milei für neue Hoffnung sorgen.
Nicht viel besser dran ist Sri Lanka, das sich im Mai vergangenen Jahres zum ersten Mal in seiner Geschichte für zahlungsunfähig erklärt hat. Seither verhandelt die Regierung über eine Umschuldung, die unter anderem dadurch erschwert wird, dass Sri Lankas grösster Kreditor China ist, das 16 Prozent aller Schulden hält. China ist ebenso wie Indien nicht Mitglied des Pariser Klubs, der bisher die betroffenen Gläubigerstaaten in gemeinsamen Umschuldungsverhandlungen vertreten hat.
Sri Lanka steckt nach jahrelanger korrupter Misswirtschaft in seiner grössten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten. Es kam zu Versorgungsengpässen und Volksprotesten, das Bruttoinlandprodukt brach 2022 um 7,8 Prozent ein, und die Inflationsrate erreichte 54,5 Prozent.
Chance verpasst
Argentinien und Sri Lanka sind nicht allein, wie der 50. International Debt Report der Weltbank eindrücklich aufzeigt. Seit 2020 kam es in den Entwicklungs- und Schwellenländern zu 18 neuen Zahlungsausfällen der Staaten. Gegenwärtig stecken ein Dutzend in einem akuten Schuldennotstand, bei 28 ist das Risiko hoch, dass sie ihre Schulden bald nicht mehr werden bedienen können.
Dabei waren die Jahre zwischen 2012 und 2022 abgesehen von der Pandemie keine schlechten Jahre. Doch gerade die ärmsten Länder haben es verpasst, ihre Schulden abzubauen. Stattdessen sind die Auslandschulden mehr als doppelt so schnell gewachsen wie die Wirtschaftsleistung.
Statt dass sie die weltweit extrem niedrigen Zinsen nutzten, um ihre Schuldenlast spürbar zu vermindern, haben es die 75 ärmsten Länder (IDA-Staaten) zugelassen, dass sich ihre Auslandschulden während der vergangenen zehn Jahre verdoppelt, der Schuldendienst sich verdreifacht und die Zinszahlungen sich vervierfacht haben. Die Pandemie war da nur noch das Tüpfchen auf dem i.
Noch vor der eigentlichen Zinswende mussten 2020/21 die IDA-Staaten 9 Prozent aller Staatsausgaben für Zinszahlungen aufwenden. Die Weltbank erwartet, dass ihre im laufenden und im nächsten Jahr fällig werdenden Zinszahlungen um weitere 40 Prozent steigen. Immer mehr Entwicklungs- und Schwellenländer werden deshalb Schwierigkeiten haben, den fällig werdenden Schuldendienst zu leisten.
Dabei waren die Jahre zwischen 2012 und 2022 abgesehen von der Pandemie keine schlechten Jahre. Doch gerade die ärmsten Länder haben es verpasst, ihre Schulden abzubauen. Stattdessen sind die Auslandschulden mehr als doppelt so schnell gewachsen wie die Wirtschaftsleistung.
Statt dass sie die weltweit extrem niedrigen Zinsen nutzten, um ihre Schuldenlast spürbar zu vermindern, haben es die 75 ärmsten Länder (IDA-Staaten) zugelassen, dass sich ihre Auslandschulden während der vergangenen zehn Jahre verdoppelt, der Schuldendienst sich verdreifacht und die Zinszahlungen sich vervierfacht haben. Die Pandemie war da nur noch das Tüpfchen auf dem i.
Noch vor der eigentlichen Zinswende mussten 2020/21 die IDA-Staaten 9 Prozent aller Staatsausgaben für Zinszahlungen aufwenden. Die Weltbank erwartet, dass ihre im laufenden und im nächsten Jahr fällig werdenden Zinszahlungen um weitere 40 Prozent steigen. Immer mehr Entwicklungs- und Schwellenländer werden deshalb Schwierigkeiten haben, den fällig werdenden Schuldendienst zu leisten.
Da dies auch die Gläubiger sehen, werden diese immer zurückhaltender mit der Vergabe von neuen Krediten an ärmere Länder. Zuerst steigen die Renditeerwartungen für private, von keiner staatlichen Stelle garantierte längerfristige Kredite so sehr, dass diese unerschwinglich werden. Es bleibt die Finanzierung (oft auch der fällig werdenden Zins- und Rückzahlungen) mit kurzfristigen Krediten, die schnell versiegen können. Zuletzt bleiben zur Neuverschuldung nur noch bilaterale und multilaterale staatliche Kredite. Der Zugang zu den Kapitalmärkten ist versperrt. Häufig bleibt dann nur noch die Zahlungsunfähigkeit.
Das fürchten auch die staatlichen Gläubiger. Seit 2016 hat sich das Volumen ihrer neuen Kredite an die Entwicklungsländer halbiert. Den grössten Anteil am Rückgang haben China und Mitglieder des Pariser Klubs ausser Japan. Zu dem Klub gehören die meisten europäischen Geberländer, die USA, Australien, aber auch Korea. Er trat 1956 in Paris erstmals zusammen – um mit Argentinien über eine Umschuldung zu verhandeln.
Sonderstellung von China
Besonders interessant ist die Rolle Chinas, das nicht im Pariser Klub mitmacht, was international abgestimmte Schuldensanierungen, an die sich alle halten, erschwert. Als Land, das laut der Definition der Weltbank inzwischen zu den Staaten mit oberem mittlerem Einkommen zählt, ist es der weltweit grösste Auslandschuldner unter allen Entwicklungs- und Schwellenländern. In den vergangenen zehn Jahren sind Hunderte Milliarden Dollar an Eigen- und Fremdkapital aus dem Ausland ins Reich der Mitte geflossen. Wegen der geopolitischen Lage und wegen der Zinswende im Westen, die Investitionen in China weniger interessant machten, wurden im vergangenen Jahr jedoch erstmals seit 2015 netto 297 Milliarden an Fremdkapital aus China abgezogen.
Gleichzeitig hat China im Zeichen der Belt-and-Road-Initiative enorme Mittel in Infrastruktur- und Rohstoffprojekte vor allem in südlich der Sahara gelegenen afrikanischen Ländern, in Südasien und Lateinamerika investiert. Doch in den letzten Pandemie-Jahren ist sich wohl auch China der Risiken von staatlichen Auslandsinvestitionen verstärkt bewusst geworden und hat gemerkt, dass das Geld auch zu Hause gebraucht wird. Seit 2020 hat China in Afrika und Lateinamerika kaum mehr neue Investitionen getätigt und Kredite vergeben. Stattdessen musste auch China an seine Schuldner vergebene Kredite umstrukturieren (und hat dies in Zusammenarbeit mit der Entschuldungsinitiative der G-20-Länder getan).
Bisher haben all diese Bemühungen allerdings nicht zu einer echten Entlastung der überschuldeten Entwicklungsländer geführt. Zinszahlungen wurden primär herausgeschoben, und die Schuldenlast ist nicht wirklich gesunken – teilweise auch, weil sich die Regierungen sofort andernorts wieder neu verschuldet haben.
Der Ausblick auf die Schuldensituation der Schwellen- und Entwicklungsländer ist düster. Wer einmal in die Schuldenfalle geraten ist, kommt kaum mehr heraus. Wobei dies meist eher am Versagen korrupter Regierungen und am Fehlen funktionierender wirtschaftspolitischer Institutionen liegt als an den hohen Schulden. Zu den Lehren, welche die Industriestaaten aus den schmerzhaften Erfahrungen der armen Länder ziehen sollten, zählen:
Wer stark verschuldet ist, den können höhere Zinsen schnell in Bedrängnis bringen. Der Schuldendienst kann dann für das längerfristige Wohlergehen so wichtige Aufgaben wie Ausbildung und Forschung gefährden.
Übermässig hohe Schulden schwächen die geopolitische Position und schaffen neue, heikle bilaterale Abhängigkeiten. Wer Geld von Dritten braucht, ist verletzlicher.
Wer hoch verschuldet ist, kann das Vertrauen seiner Gläubiger und Investoren unvermittelt verlieren. Dann drohen erst recht hohe Zinsen, Kapitalflucht und die Zahlungsunfähigkeit. Schwere Wirtschaftskrisen sind die Folge.
Schuldenkrisen haben schwere soziale Konsequenzen und treffen die Armen und den Mittelstand am härtesten.
Schulden bei Inländern in eigener Währung sind besser zu managen als Auslandschulden in Dollar.
Gute Zeiten sind unbedingt dazu zu nutzen, die Schuldenlast relativ zur Wirtschaftsleistung rechtzeitig wieder zu senken.
Der beste Weg dazu sind wachstumsfördernde strukturelle Reformen. Den meisten armen Ländern geht es nicht primär schlecht, weil sie so hohe Schulden haben, sondern weil eine schlechte Wirtschaftspolitik verhindert, dass ihre Wirtschaft wächst und sie auf einen grünen Zweig kommen.
Umschuldungsverhandlungen und Schuldenschnitte sind schwierig und teuer. Oft verschieben sie das Problem nur in die Zukunft. Weil das Vertrauen der Anleger leichter verspielt ist als zurückgewonnen, muss mit künftig höheren Kreditkosten rechnen, wer einmal in eine Schuldenkrise gerät.
In den Industriestaaten hat sich die Bruttoverschuldung gemessen an der Wirtschaftsleistung in den vergangenen zehn Jahren zum Glück deutlich weniger stark erhöht als in den ärmsten Ländern. Doch auch die reicheren Länder sollten sich nicht in falscher Sicherheit wiegen. Mit einem Durchschnitt von laut dem IMF im vergangenen Jahr 127 Prozent des Bruttoinlandprodukts bewegt sich die Verschuldung in den entwickelten Ländern auf einem Niveau, das von den meisten Ökonomen als ungesund angesehen wird.
Die Pandemie-Hilfen haben eine Anspruchsmentalität gestärkt, die nicht nachhaltig ist und weiterer Verschuldung Vorschub leistet. Statt neue Vorwände für das Leben auf Kosten der nächsten Generation brauchen die entwickelten Länder griffige Schuldenbremsen. Das traurige Schicksal von Ländern wie Argentinien und Sri Lanka sollte ihnen genug der Warnung sein.