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Beitrag vom 19.09.2023

NZZ

Die Wurzeln des Eritrea-Konflikts

Vor zwei Wochen in Zürich, nun in Stuttgart – Landsleute aus Ostafrika gehen in Europa aufeinander los
Rewert Hoffer, Berlin

Giessen, Tel Aviv, Stuttgart und Zürich – diese Städte wurden in den vergangenen Wochen und Monaten zu Schauplätzen von Massenschlägereien zwischen Eritreern. Zuletzt traf es am Samstag die baden-württembergische Hauptstadt Stuttgart. Die Polizei wurde am Samstag von Gruppen eritreischer Männer mit Holzlatten, Steinen und Metallstangen angegriffen. Nur mit Mühe gelang es ihr nach einem stundenlangen Einsatz, die Lage unter Kontrolle zu bringen.

Die verstörenden Szenen in Stuttgart erinnern an einen ähnlichen Vorfall in Zürich zwei Wochen zuvor, als mehrere hundert Eritreer mit Fäusten und Stöcken aufeinander losgingen. Was ist die Wurzel der Gewalt? Die wichtigsten Antworten im Überblick.

Welcher Konflikt wird in Deutschland ausgetragen?

Die Massenschlägereien eskalieren immer zwischen Anhängern und Gegnern des Regimes in Eritrea. Eritrea gilt als die repressivste Diktatur in Afrika. Menschenrechtsorganisationen werfen dem Regime von Isaias Afewerki Folter, Zwangsarbeit und Mord vor. Das bekannteste Element der Diktatur ist ein unbefristeter Militärdienst, den die Uno mit Sklaverei verglichen hat.

Hunderttausende sind vor Afewerkis Diktatur geflohen – was dazu geführt hat, dass neben den fünf Millionen Eritreerinnen und Eritreern in der Heimat inzwischen ähnlich viele in der Diaspora leben. Etwa 70 000 Eritreer sind nach Deutschland ausgewandert, 43 000 in die Schweiz – gemessen an der Gesamtbevölkerung also weitaus mehr. 63 eritreische Randalierer sind am Wochenende aus der Schweiz nach Stuttgart angereist.

Der Stuttgarter Polizeivizepräsident beklagte, dass seine Beamten der «Prellbock für eine ethnische Auseinandersetzung» gewesen seien. Ethnische Differenzen seien allerdings nicht der Grund für die Auseinandersetzung, sagt die Eritrea-Expertin Nicole Hirt vom German Institute of Global and Area Studies. «Das ist ein Konflikt zwischen der alteingesessenen Diaspora, die zum grossen Teil auch die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, und den in jüngerer Zeit Geflüchteten.»

Diejenigen, die in den 1980er und den 1990er Jahren auswanderten, haben nie unter dem gegenwärtigen Machthaber Isaias Afewerki gelebt und mussten auch nicht den unbefristeten Militärdienst erfüllen, der erst im Jahr 2002 eingeführt wurde. Wenngleich es Ausnahmen gebe, stünden viele der Alteingesessenen eher auf der Seite des Regimes, sagt Hirt. Während viele jener, die nur die Diktatur Afewerkis kennten, das Regime ablehnten.

Von wem geht die Gewalt aus?

Wie bereits im Juli in Giessen ging die Gewalt auch in Stuttgart laut der Polizei von den Gegnern der als regierungsfreundlich geltenden Veranstaltung aus. Proteste gegen regimetreue eritreische Veranstaltungen gebe es seit Jahren. «Die rohe Gewalt ist allerdings ein neues Phänomen», sagt die Afrika-Expertin Hirt. Auch die Organisation der Gegenproteste sei professioneller geworden. Wer die gewalttätigen Demonstranten koordiniert, kann Hirt allerdings nicht mit Sicherheit sagen.

Weshalb wurde die Veranstaltung nicht verboten?

Da sich die gewaltsamen innereritreischen Konflikte in den letzten Wochen häuften, wurden das Land Baden-Württemberg sowie die Stadt Stuttgart dafür kritisiert, die Veranstaltung überhaupt zugelassen zu haben. Baden-Württembergs christlichdemokratischer Innenminister Thomas Strobl wies die Kritik von sich. Am Montag sprach Strobl von einem «plötzlichen und unerwarteten Gewaltexzess eines wütenden Mobs».

Die Politikwissenschafterin Hirt widerspricht dem Innenminister. «Spätestens nach den Ausschreitungen in Giessen und in Tel Aviv hätte man wissen können, was da auf einen zukommt.»

Eine Anfrage der NZZ, weshalb die Veranstaltung im Vorfeld nicht verboten worden sei, beantwortete das baden-württembergische Innenministerium am Montag mit Verweis auf den öffentlichen Auftritt Strobls nicht. Die nächste Eritrea-Veranstaltung in Stuttgart ist bereits für nächsten Samstag geplant.

Wie reagieren Politik und Sicherheitsbehörden?

Landesinnenminister Strobl versprach eine «klare und harte Antwort» des Rechtsstaats. Der Fraktionsvorsitzende der CDU im Landtag, Manuel Hagel, wurde deutlicher. Kurz nach den Ausschreitungen schrieb er auf X (vormals Twitter): «Diese Leute, die so brutal gegen andere Menschen, gegen unsere Polizistinnen und Polizisten vorgehen, haben ihr Recht, bei uns Schutz und Zuflucht zu finden, verwirkt.»

Marcel Emmerich, Obmann der Grünen-Fraktion im Innenausschuss des Bundestags, versteht nicht, weshalb die Gewalt nicht im Vorfeld verhindert wurde: «Es ist völlig unverständlich, warum diese Veranstaltung nicht gestoppt und damit die Verbreitung der Propaganda dieses Terrorstaates ermöglicht wurde.»

Emmerichs grüner Parteifreund und baden-württembergischer Ministerpräsident Winfried Kretschmann sagte, «die Bilder der brutalen Ausschreitungen» verstörten und seien «völlig inakzeptabel».

Bundesinnenministerin Nancy Faeser äusserte sich nahezu wortgleich wie nach den Ausschreitungen im Juli in Giessen. Wie auch damals verurteilte die SPD-Politikerin die Gewalt und wünschte den verletzten Polizistinnen und Polizisten eine schnelle Genesung.

Die Gewerkschaft der Polizei kritisierte angesichts von 31 verletzten Polizistinnen und Polizisten die deutsche Regierung scharf. «Ereignisse wie diese dürfen so nicht mehr stattfinden. Es muss ein konsequentes Verbot dieser Veranstaltungen geben», sagte der Bundesvorsitzende der Polizeigewerkschaft Jochen Kopelke am Montag.

Beobachtet der Verfassungsschutz die eritreische Diaspora?

Die eritreische Diaspora ist Beobachtungsobjekt weder des Bundesamtes für Verfassungsschutz noch des Inlandgeheimdienstes in Baden-Württemberg. «Das Bundesamt für Verfassungsschutz äussert sich grundsätzlich nicht zu Organisationen, die nicht im Verfassungsschutzbericht genannt sind», teilte eine Sprecherin am Montag mit.