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Beitrag vom 29.04.2022

NZZ

Wie ein kleines burundisches Restaurant in Detroit zum Hotspot wurde

Die amerikanische «Motor City» hat sich nach dem Zerfall neu erfunden. Ein überraschendes Beispiel dafür ist das Restaurant «Baobab Fare». Die burundischen Besitzer kamen mit nichts in die USA, ergriffen ihre Chance und verkörpern nun für viele den amerikanischen Traum.

von David Signer

Amerikaner lieben Comeback-Geschichten wie jene von Detroit: Die «Motor City», Zentrum der Autoindustrie, ging 2013 bankrott. Sie hatte Schulden in Milliardenhöhe angehäuft. Die Bewohner verliessen das sinkende Schiff, Zehntausende von Häusern standen leer, es wurde gespenstisch und gefährlich. Dafür gab es Wohnraum plötzlich fast gratis. Die Stadt wurde zum Schauplatz aller möglichen Experimente, es entstanden Ateliers und Startups. Heute gilt Detroit als eine der aufregendsten Städte der USA. Es hat sich neu erfunden, als Brennpunkt der Kreativität, der Kunst, der Gastronomie.

Das burundische Restaurant als typische Detroit-Geschichte

Jemand ist ganz unten, aber kämpft sich wieder nach oben. Die Wiedergeburt von Detroit setzt sich zusammen aus Hunderten von solchen Einzelschicksalen. Von mutigen, zähen Leuten, die nichts mehr zu verlieren hatten, alles auf eine letzte Karte setzten und gewannen.

Ein Drama, das perfekt in dieses Narrativ passt, ist jenes von Nadia Nijimbere und Hamissi Mamba aus Burundi. Seit einem Jahr führen sie das «Baobab Fare», das innert kurzer Zeit zu einem der bekanntesten Restaurants in Detroit geworden ist. Wenn man sie für ein Interview treffen will, offenbart sich eine interessante Arbeitsteilung: Sie lässt sich fotografieren, während er, zwar extrovertierter als seine Frau, aber fotoscheu, für das Gespräch zuständig ist.

«Wenn Sie über Herausforderungen sprechen wollen, sprechen Sie mit mir», sagt er. In der Tat ist die Geschichte ihres Restaurants die Geschichte eines Hardcore-Hindernislaufs – mit Happy End.

Sie kamen als Asylsuchende mit nichts an

Die beiden waren in Burundi noch kein Jahr verheiratet, als Nadia Nijimbere, die als Menschenrechtsaktivistin im despotischen Kleinstaat in Ostafrika tätig war, in lebensgefährliche Schwierigkeiten geriet. Sie ersuchte um Asyl in den USA. Detroit war die einzige amerikanische Stadt, die ostafrikanischen Flüchtlingen Unterkunft und medizinische Versorgung bot; also landete sie 2013 in der Stadt in Michigan, und ihr Asylgesuch wurde angenommen.

Auf der Flucht, nach dem Abschied von ihrem Mann, wusste sie noch nicht, dass sie schwanger war. In Detroit kam sie im Freedom House unter, einer Institution für Asylsuchende, und brachte Zwillinge zur Welt. Es dauerte zwei Jahre, bis es Hamissi Mamba ebenfalls nach Detroit schaffte. Es war Ende 2015, als er seine Töchter zum ersten Mal sah. Inzwischen machten sie bereits ihre ersten Schritte und sprachen die ersten Wörter.

«Ich beherrschte kein Englisch und war überhaupt völlig überfordert, nur schon mit der Geschirrspülmaschine», sagt er rückblickend. «Das erste Jahr, als ich noch keine Arbeitserlaubnis hatte, verbrachte ich damit, die Sprache zu lernen, indem ich mit den Kindern Trickfilme schaute.» Sein Diplom als Marketingfachmann war in den USA nicht anerkannt. Er fand Jobs als Fahrer und in der Fabrik. Er fühlte sich unterfordert und frustriert, aber die Mittel für eine Ausbildung hatte er nicht, und einen Kredit für ein eigenes Projekt konnten sie in ihrer Situation nicht aufnehmen.

Hindernisse und Hilfe

Doch dann stiess das Ehepaar auf das «entrepreneurship training program» der Quartierentwicklungsorganisation ProsperUs. Sie konnten an einer Schulung teilnehmen, und der Traum eines eigenen Restaurants entstand. «Wir hatten keine gastronomische Ausbildung, keine Finanzen, keine Kreditwürdigkeit, keinen Businessplan, nur eine Idee und ein paar Rezepte von unseren Müttern und Schwestern im Kopf», sagt Mamba.

Als sie das Projekt ausgearbeitet hatten, nahmen sie an einem Wettbewerb von Comerica Hatch Detroit für Startups teil und gewannen den ersten Preis – eine Anschubfinanzierung von 50 000 Dollar inklusive professioneller Unterstützung. Als sie bereits im Halbfinal waren, scheiterte das Weiterkommen um ein Haar. Als Asylsuchenden war ihnen ein Auftritt in den Social Media verwehrt, und damit war auch die kostenlose Werbung für ihr geplantes Restaurant verunmöglicht. So verfielen sie auf die Idee mit den Essensständen an Anlässen und den Pop-up-Restaurants. Sie kamen vorübergehend und spontan bei verschiedenen anderen Restaurants unter und konnten sich so eine Fangemeinde aufbauen.

2020 wäre dann alles für die Eröffnung des «Baobab Fare»-Restaurants bereit gewesen, aber dann schlug Covid-19 zu. Erst im Februar 2021 konnten sie – provisorisch – die Türen öffnen. Das Lokal befindet sich an der 6568 Woodward Avenue, im aufstrebenden New-Center-Quartier, nicht weit vom historischen Fisher Building, das gerne von Touristen und Architekturinteressierten besucht wird.

Zu einem der besten neuen Restaurants in den USA gewählt

Trotzdem, die Chancen für einen Erfolg standen 1:100. Erstens ging wegen der Pandemie nach wie vor kaum jemand aus, und zweitens: Wer kennt schon die burundische Küche? Zwar sind rund 80 Prozent der Detroiter schwarz, aber afrikanische Restaurants gab es dort – abgesehen von einem äthiopischen – bisher kaum, und wenn, dann waren sie eher improvisiert und bedienten eine kleine Gruppe von Landsleuten. Aber vielleicht war gerade das Unerwartete ein Pluspunkt: «Die Leute hier probieren gerne Neues aus, und Essen aus Burundi kam ihnen sicher geheimnisvoll vor», sagt Mamba. «Darüber hinaus haben die Leute genug von Fast Food. Das lange und langsam gekochte afrikanische Essen ist Slow Food.»

Tatsächlich wurde das «Baobab Fare» rasch Kult. Das digitale Gastromagazin «Eater» wählte das Lokal unter die elf besten neuen Restaurants in den USA. Nijimbere sagt, und sie kann es immer noch kaum glauben, einmal sei sogar ein Paar aus Chicago hierhergekommen, nur um bei ihnen zu essen. Dabei ist das Menu recht bodenständig, und das Interieur ist freundlich, aber bescheiden. Viele der Angestellten sind selbst Flüchtlinge aus Afrika.

Die Afroamerikaner waren am schwersten zu verführen

Das «Baobab Fare» hat Schule gemacht. Inzwischen gibt es im Quartier auch noch ein senegalesisches und ein nigerianisches Restaurant. Aber während in Senegal Fisch dominiert und in Nigeria Fleisch, spielen in der burundischen Küche vor allem Gemüse, Bohnen, Kochbananen und Gewürze eine wichtige Rolle. Der Einfluss des Nahen Ostens auf die Gerichte ist unübersehbar.

Das «Baobab Fare» bietet neun Menus an, wobei zwei – wie zum Beispiel die Ugali genannten Maismehlbällchen – nur an bestimmten Tagen offeriert werden. Einige der Gerichte sind vegan, einige vegetarisch, alle halal, entsprechen also den muslimischen Speisevorschriften. Der Klassiker ist Nyumbani («Heimat») mit Rindfleisch, Kochbananen, Spinat, Kokosnussreis sowie Tomaten- und Erdnusssauce. Beliebt ist auch Intore, der Auberginen-Eintopf mit gelben Bohnen und Pilau-Reis, oder das vegane Mhogo mit Maniok.

Die Klientel ist auffällig gemischt; Weisse, Schwarze und Asiaten verkehren hier gleichermassen. Das hat auch Mamba erstaunt. Er ging nämlich davon aus, dass vor allem die Afroamerikaner an afrikanischer Küche interessiert seien würden. Das Gegenteil war der Fall. Die Schwarzen seien eher konservativ, sagt er. «Sie erwiesen sich als die Bevölkerungsgruppe, die am zurückhaltendsten war, wenn es darum ging, die unbekannte Küche aus Burundi zu entdecken.»

Die Sozial-Genies

Aber am Ende hat das Wirteehepaar offenbar auch die Afroamerikaner verführt. Mamba redet nicht vom Personal und von den Gästen, sondern einfach von der «Familie»; wenn er den Eingang erwähnt, wo Kaffee, Passionsfruchtsaft und scharfe Saucen verkauft werden, spricht er vom «Marktplatz»; und das Restaurant als Ganzes nennt er gerne einen «safe space» – das «Baobab Fare» ist für ihn nicht nur ein Restaurant, sondern vor allem ein sozialer Treffpunkt.

Und es funktioniert offensichtlich. Wer einmal hier war, kehrt wieder. Man freut sich, zur Familie zu gehören und Teil einer unwahrscheinlichen Stehaufmännchen-Story zu sein. Das ist wohl das Erfolgsrezept: Die Atmosphäre ist einfach angenehm, eine Erweiterung von Nadias und Mambas positiver Ausstrahlung. Vielleicht erklärt diese sympathische Art – oder ihre soziale Kompetenz – auch ihren Erfolg im Knüpfen von Beziehungen an einem unbekannten Ort und die Hilfe im richtigen Moment. Vielleicht ist es ein Beispiel für Serendipität – die Fähigkeit, den Zufall zu nutzen. Das schlägt sich in all dem sonnigen Gelb nieder und den frischen Blumen auf den Tischen, die auch wie ein unwahrscheinliches Wunder wirken im Detroiter Asphaltdschungel.