Beitrag vom 15.03.2022
NZZ
«Wir werden hier in aller Stille hingerichtet» – Eindrücke von der Frontlinie eines fast vergessenen Krieges
Während Äthiopiens Ministerpräsident Abiy Ahmed der Welt vermittelt, der blutige Krieg in seinem Land sei vorbei, wird im Norden des Landes weitergekämpft. Das verursacht enormes menschliches Leid.
Bartholomäus Laffert, Afar
Wenige Tage bevor Äthiopiens Ministerpräsident Abiy Ahmed in Addis Abeba der versammelten afrikanischen Politik-Elite eine friedliche Lösung für den Konflikt in Äthiopien verspricht, greift sich der Viehhirt Mohamad Otman seine alte Kalaschnikow und zieht in den Krieg.
Das war vor drei Wochen. Der 62-jährige Otman, Vater von zwölf Kindern, stand seither an der Front. Er kämpfte, um seine Heimatregion Afar gegen den Angriff der Rebellen der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) zu verteidigen. Erst als die Niederlage unausweichlich schien, ergriff er die Flucht. Er wurde an der Hüfte verwundet und in einen Krankenwagen gebracht, in dem bereits andere Schwerverletzte auf den Transport nach Semera warteten.
Sieben Männer hätten die Fahrt in die Hauptstadt der Region überlebt, sagt Otman. Vier Verletzte starben. Er sitzt auf einer Matratze in einem Wohnblock der Kleinstadt im Nordosten Äthiopiens. Während er spricht, lässt er einen kleinen Schlüsselbund um seinen Ringfinger kreisen, seine Augen huschen unruhig hin und her.
Als das Gespräch auf den Ministerpräsidenten kommt, wird Otmans Blick starr, die Stimme hart. «Während Abiy der Welt einreden will, dass in Äthiopien Frieden herrscht, werden wir hier in aller Stille hingerichtet.»
Der Angriff auf Abala
Seit Ende Januar wird die Region Afar von der TPLF angegriffen. Rund 300 000 Menschen sollen seitdem laut Angaben der Regionalregierung vertrieben worden sein. Die Welt, in der Abiy Ahmed von Frieden spricht, ist für Menschen wie Otman weit weg.
Rund sechshundert Kilometer und zwölf Stunden Autofahrt liegen zwischen der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba und Semera. Die Schnellstrasse schlängelt sich über den Debre-Sina-Pass, durch den Tunnel, an dem die TPLF auf ihrem Marsch nach Addis Abeba im November 2021 gescheitert war, bevor sie einen hinabträgt in die Tiefebenen Amharas. Am Strassenrand zeugen die Skelette ausgebrannter Panzer und Pick-ups mit aufgebockten Maschinengewehren vom Krieg. Einst hatte die TPLF diese Fahrzeuge den Regierungstruppen entrissen, bevor diese sie – wahrscheinlich mit Drohnen – zerstörten. Der Krieg hat sich inzwischen zurückgezogen. In den Nordosten. Nach Afar.
Statt Eukalyptuswäldern wie auf den Hügeln von Addis Abeba wachsen hier Akazien und trockene Dornsträucher. Der Erdboden ist sandig und grau, als hätte jemand darüber einen Staubsaugerbeutel ausgeleert, darauf liegt schwarzes Geröll wie überdimensionale Grillkohlen. Dort hindurch treiben Jugendliche ihre Zebu-Rinder. Polizisten haben Seile über die Strasse gespannt, Checkpoints, um die Papiere der Passanten zu kontrollieren. Irgendwann erscheint am Horizont Semera.
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Was die Menschen hier, an der neuen Frontlinie, erzählen, erinnert daran, wie weit weg Äthiopien noch immer ist von einem Ende dieses Krieges, der fünfzehn Monaten anhält, Tausende Opfer gefordert und Millionen Menschen in die Flucht getrieben hat. Dabei war die Hoffnung auch hier kurzzeitig gross gewesen, den Schrecken hinter sich gelassen zu haben.
Im Dezember hatte die äthiopische Regierung verkündet, die zuvor von der TPLF besetzten Gliedstaaten Afar und Amhara zurückerobert zu haben. Die TPLF kündigte an, sich nach Tigray zurückzuziehen. Spätestens als Abiy Ahmed zum orthodoxen Weihnachtsfest am 7. Januar hochrangige politische Gefangene freiliess, von denen einer der Mitbegründer der TPLF war, und von einem «nationalen Dialog» zur Versöhnung sprach, schien das Ende der Gewalt für manche zum Greifen nahe.
Doch dann, so sagen die Menschen in Afar, kam der Angriff auf Abala.
«Wir wurden einfach allein gelassen»
Der 30-jährige Ibrahim Ahmed gehörte an jenem Tag zu den Freiwilligen, die Abala bewachten. Die Kleinstadt liegt direkt an der Grenze zwischen Afar und Tigray. Vierzig Tage lang hätten sie auf einen Angriff gewartet, aber es sei ruhig geblieben. «Doch am Morgen des 24. Januar haben sie die Stadt eingekreist und uns mit Mörsern und Raketen beschossen. Alles, was uns blieb, war die Flucht.» Kurz darauf nahmen die Kämpfer der TPLF Abala ein. Seitdem ist es, als wäre die Stadt in einem schwarzen Loch verschwunden. Internet und Telefonnetz wurden abgeschaltet, der Kontakt zur Aussenwelt gekappt.
Bis vor kurzem war Ibrahim Ahmed Viehhirt, wie die meisten in Afar. Einen Esel, fünf Rinder, achtundsiebzig Ziegen habe er besessen. Alles musste er zurücklassen. Das karierte Hemd, der Wickelrock, die kleine silberne Digitaluhr an seinem Handgelenk und der Dolch mit dem Messinggriff in seinem Gürtel sind alles, was ihm geblieben ist.
Seit drei Wochen ist er auf der Flucht, zusammen mit seiner schwangeren Frau und seinen drei kleinen Kindern. Vor fünf Tagen sind sie nach Afdera gelangt, einer Kleinstadt im Norden Afars, rund fünfzig Kilometer hinter der Front, wo in den letzten Tagen Tausende von Vertriebenen Zuflucht gefunden haben. Sie leben in den Klassenräumen der örtlichen Schule, in der seit drei Wochen kein Unterricht mehr stattfindet.
Ahmed ist müde. Schweiss rinnt ihm von der Stirn. Das Thermometer zeigt über 40 Grad. Barfüssige Kinder mit zerfetzten Klamotten schlurfen durch den heissen Sand. In der Mitte des Schulhofs hat eine Hilfsorganisation einen grossen Wasserkanister aufgestellt. Inzwischen ist er leer. «Unseren Kindern können wir das Wasser ohnehin kaum geben», sagt Aicha Mohammad. «Es ist salzig und heiss, wenn sie davon trinken, werden sie krank, bekommen Durchfall, und es ist niemand da, der dann hilft.» Sie ist 27 Jahre alt, hat vier Kinder. Auch sie kommt aus Abala. Als die TPLF angriff, hatte sich ihr Mann, ein Bauer, den Milizen angeschlossen, um die Stadt zu verteidigen. Zwei Tage später wurde er erschossen. «Wir hatten nicht einmal Zeit, ihn zu beerdigen», sagt Aicha Mohammad. «Wir wurden einfach allein gelassen.»
Im Stich gelassen
Im Stadtkern von Afdera riecht es nach Benzin und dem sauren Teig von Injera, dem traditionellen äthiopischen Fladenbrot. Im Minutentakt rauschen Toyota-Geländewagen, die zu Krankentransportern umfunktioniert wurden, aus der Stadt hinaus. In einer Holzbaracke am Strassenrand, in der junge Frauen Kaffee und Ziegenfleisch anrichten, sitzen erschöpfte Jugendliche. Manche tragen zerschlissene Hawaii-Hemden, andere Fussballtrikots, an den Füssen Plastiksandalen. Von ihren Schultern baumeln Feldflaschen und Kalaschnikows. Sie kommen von der Front, erzählen, sie hätten tagelang nur Wasser und Zucker zu sich genommen.
«Jeder, der kann, kommt hierher, um unser Land zu verteidigen», sagt Abdela Ali Nur. Der 45-Jährige ist der Vorsitzende des regionalen Sicherheitsbüros, das von hier aus die lokalen Milizen koordiniert. Wie viele Kämpfer er schon verloren hat, will er nicht sagen. Nur so viel: «Die TPLF ist ausgerüstet wie eine Armee, mit Panzern und Raketen – das Einzige, was ihnen fehlt, sind Flugzeuge», sagt er. «Wir hingegen kämpfen mit Messern und Kalaschnikows.» Seit Wochen versuche er Unterstützung aus Addis Abeba anzufordern. Lange passierte nichts, vergangene Woche sind schliesslich eine Handvoll Soldaten der Armee in Afdera eingetroffen. Man erkennt sie an den dunklen Uniformen, den Sonnenbrillen, den langen Scharfschützengewehren. An der Front hätten sie bisher nicht geholfen, sagt Abdela Ali Nur.
«Am Ende gibt es keinen Unterschied zwischen Abiy und der TPLF», sagt der 46-jährige Shifad Dawud, der ebenfalls mit seiner Familie aus Abala vertrieben wurde. «Alle interessieren sich für unsere Ressourcen – niemand für die Menschen in Afar.» Dabei seien sie es doch, die im Moment die Sicherheit Äthiopiens zu verteidigen versuchten.
Viele offene Fragen
Einen Tag nach der Eroberung Abalas hatte die TPLF-Führung am 25. Januar ein Statement veröffentlicht, in dem sie behauptet, dass der Angriff lediglich dazu diene, sich gegen aus Eritrea unterstützte Milizen zu wehren, die zuvor in Tigray eingefallen seien. Es ist eine Erzählung, der in Afar niemand glaubt.
In Wirklichkeit sei der Angriff auf Afar wahrscheinlich ein letztes Aufbäumen der TPLF, deren Führer mit dem Rücken zur Wand stünden, sagt Dawud Mohammad, der an der Universität in Semera Wirtschaft lehrt. Wie schon im Herbst vergangenen Jahres versuche die TPLF bis zur Autobahn zwischen Djibouti und Addis Abeba zu marschieren, um dem Land seine wichtigste Versorgungsstrasse abzuschneiden, Äthiopiens Zugang zum Roten Meer. «Die Strasse ist die Lunge Äthiopiens – und die TPLF versucht dem Land die Luft abzudrücken, um ihre Forderungen durchzusetzen.»
Gleichzeitig gehe es der TPLF darum, Verhandlungsmasse für einen möglichen Waffenstillstand zu schaffen. Zu Beginn des Krieges hatten Regierungstruppen gemeinsam mit der eritreischen Armee und amharischen Milizen die fruchtbare Region Welkait in West-Tigray erobert und halten diese bis heute besetzt. «Die TPLF weiss, dass sie zu schwach ist, Welkait zurückzuerobern, daher versuchen sie nun Afar zu besetzen, möglicherweise um die Regionen am Verhandlungstisch zu tauschen», sagt Dawud Mohammad. Im Norden Afars liegen wertvolle Salz- und Kali-Vorkommen, die vor allem für Düngemittelproduktion benutzt werden, sowie die grössten Goldminen des Landes.
All dies sind jedoch Mutmassungen, die sich genauso wenig belegen lassen wie die Begründungen der TPLF. Viele Fragen bleiben unbeantwortet: Wieso lässt die Regierung in Addis Abeba die Region Afar momentan offenbar im Stich? Wieso schickt sie keine Soldaten wie bei der Gegenoffensive in Amhara Ende vergangenen Jahres?
Selbst profunde Kenner des Konflikts tun sich derzeit schwer, das Vorgehen der äthiopischen Regierung nachzuvollziehen. In der afarischen Bevölkerung brodeln die Gerüchte. Sind die äthiopischen Truppen zu sehr damit beschäftigt, die westliche Front zu verteidigen? Ist es der Versuch, der Welt zu signalisieren, der Konflikt sei vorüber, um die vom Krieg gepeinigte Wirtschaft anzukurbeln? Oder sind die Menschen in Afar der Regierung einfach egal? Es sind Fragen, auf die niemand eine klare Antworten zu kennen scheint.
Ein überfülltes Krankenhaus
Eines aber wird an der Frontlinie bald klar: Am härtesten trifft dieser Krieg die Zivilbevölkerung. Nicht nur in Afar, wo niemand weiss, wie viele Opfer der Krieg bisher gefordert hat, sondern auch in Tigray. Dort sind laut der Uno derzeit 5,2 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Doch wegen der Blockade durch die äthiopische Regierung konnten in den vergangenen Monaten kaum Lastwagen mit Hilfslieferungen in die Region gelangen. In Semera warten derzeit Dutzende Transporter des Welternährungsprogramms auf ein Ende des Konflikts, infolgedessen die Strassen nach Tigray blockiert sind.
Wie gross das Leiden der Menschen in diesem Krieg auf beiden Seiten ist, wird besonders deutlich im Krankenhaus von Dubtie, einem Ort neben Semera. Hier werden die Verwundeten des Krieges behandelt. «Eigentlich haben wir hier Platz für 140 Patientinnen und Patienten», sagt Hussein Aden, der Chefarzt des Krankenhauses. «Doch inzwischen behandeln wir mehr als 300 Menschen.» Fast alle seien bei den jüngsten Angriffen verletzt worden. Weil das Krankenhaus auf Wasserlieferungen von Tanklastern angewiesen sei, fehle oft das Wasser, um die Verletzten zu operieren, sagt der 27-Jährige. Die Medikamente würden knapp. Anfang Februar hätten sie in nur fünf Tagen 98 neue Patienten aufgenommen. Viele von ihnen liegen jetzt auf Feldbetten und Matratzen im Freien. Frauen haben Moskitonetze über ihren Kindern aufgespannt, um sie vor den Schwärmen fetter Fliegen zu schützen.
Die meisten hier haben Schusswunden oder Verbrennungen. Wie die zwei Söhne von Aicha Nur. Sie sitzen auf dem Bett in dem überfüllten Patientenzimmer, im Raum steht der stumpfe Geruch von Wundsekreten und Schweiss, auf dem Boden sind Schlieren aus Dreck. Der 10-jährige Nur lässt die Beine von der Bettkante baumeln, über die sich ein Mosaik aus Brandnarben zieht. Der 9-jährige Tahir hat die dunklen Augen starr gegen die Wand gerichtet. Sein Gesicht ist komplett verbrannt, übersät mit eiternden Brandblasen, von denen die Mutter die Fliegen zu verscheuchen versucht.
Sie hätte gerade Frühstück zubereitet, erzählt sie, als eine Rakete in ihr Haus in der Nähe von Abala einschlug und die beiden Kinder verletzte. «Immerhin haben wir überlebt», sagt Aicha Nur. Bis heute wisse sie jedoch nicht, wo ihr Mann und die anderen sechs Kinder seien, die sie auf der Flucht verloren habe.
«Ich will einfach heim zu meinen Eltern»
Nur wenige Meter von hier steht hinter einem rostigen Maschendrahtzaun ein kleiner Gebäudekomplex. Davor sitzen zwei junge Polizisten in dunkelblauen Uniformen mit Kalaschnikows zwischen den Beinen, sie kontrollieren die Papiere der Besucher, als würden sie ein Gefängnis bewachen. In einem der beiden Räume stehen zwei Feldbetten, auf einem liegt Mabrit Tekleberhan. Die 18-Jährige ist abgemagert, kann ihren Oberkörper nur mit Mühe aufrichten. Ihr rechter Arm ist vernarbt. Der rechte Oberschenkel zertrümmert. Sie spricht leise, flüstert fast, als sie ihre Geschichte erzählt.
Sie habe die zehnte Klasse besucht, als die Soldaten der TPLF im Sommer 2021 zum Haus ihrer Familie in der Stadt Shire in Tigray gekommen seien und ihren Vater dazu aufgefordert hätten, sich ihnen anzuschliessen. Als sie den Männern erklärte, dass ihr Vater seit Jahren an einer chronischen Krankheit leide, sei sie gezwungen worden, an seiner Stelle mit ihnen zu kommen. Nach zwei Monaten Training sei sie in den Krieg geschickt worden. «Ich bin ein schreckhaftes Mädchen, das Angst vor der Dunkelheit hat. Ich habe jede Nacht geheult», erzählt sie. Sie habe mit der TPLF gegen die äthiopische Armee in der Stadt Chifra in Afar gekämpft. Dutzende Kameradinnen und Kameraden seien dabei gefallen. Sie sei schwer verwundet worden, und schliesslich hätten feindliche Soldatinnen sie nach Dubtie gebracht.
Hier im Krankenhaus ist sie Patientin und Kriegsgefangene zugleich, Hunderte Kilometer entfernt von zu Hause. Sie sagt: «Ich will einfach, dass dieser Krieg vorübergeht und ich heimkann zu meinen Eltern.»
Wie lange das dauern wird, darüber müssen andere entscheiden. Der TPLF-Führer Debretsion Gebremichael zum Beispiel und der äthiopische Ministerpräsident Abiy Ahmed. Der eine versucht mit letzter Kraft einen Krieg zu gewinnen, der längst verloren scheint. Der andere, so glauben viele hier, versucht ihn zu beenden, indem er sich einfach davon abwendet.