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Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 26.10.2021

stern.de

VORABDRUCK "AFRIKA!"

Viele Menschen gleich viel Hunger? Über den Zusammenhang von Überbevölkerung und Unterernährung

Die Bevölkerung Afrikas wächst so rasant wie die sonst keines Erdteils. Hängen damit die Hungerkrisen des Kontinents zusammen? Lesen Sie einen Vorabdruck aus dem neusten Buch des langjährigen Afrika-Korrespondenten Bartholomäus Grill.

Mehr als vier Jahrzehnte hat Bartholomäus Grill aus Afrika berichtet, zunächst als Korrespondent der "Zeit", später des "Spiegel". In seinem jetzt erschienenen Buch "Afrika! Rückblicke in die Zukunft eines Kontinents" zieht der Reporter Bilanz. Grill widmet sich auch dem Thema Hunger – und der heiklen Frage des Zusammenhangs von Unterernährung und Überbevölkerung. Lesen Sie hier als Vorabdruck seine Analyse.

Hamidou Moumouni steht am Rande seines Hirseackers und begutachtet die mickrigen Kolben an den Stauden. "Wieder kein guter Ertrag. Wie soll das nur weitergehen?", stellt er besorgt fest. Schon die letzte Ernte war miserabel ausgefallen, weil es zu wenig geregnet hat. Und weil die Bo?den ausgelaugt sind. "Die Erde ist mu?de geworden", sagt der Bauer, ein hagerer Mann von 59 Jahren. Sein tannengru?ner Bubu, das traditionelle Ma?nnergewand, hat goldene Sticksa?ume – ein Zeichen des Wohlstands, um den er nun fu?rchtet: "Wir werden irgendwann nicht mehr genug Getreide haben, weil das Wetter verru?ckt geworden ist."

Moumouni ist nicht allein mit seinen Sorgen, hier in Libore, einem Dorf unweit von Niamey, der Hauptstadt des Niger. Fru?her haben die Kleinbauern U?berschu?sse eingefahren, die Kornspeicher waren voll, aber seit ein paar Jahren reichen die Ertra?ge gerade noch, um ihre Familien zu erna?hren. Meteorologen haben in den vergangenen drei Jahrzehnten eine stetige Abnahme der Niederschla?ge in der Sahelregion gemessen. Aber der schleichende Klimawandel ist nur ein Faktor, der die Versorgungskrise heraufbeschwo?rt. Der andere Faktor ist das rasante Wachstum der Bevo?lkerung. Jedes Jahr nimmt die Zahl der Nigrer um 3,9 Prozent zu. Wenn die Wachstumsrate unvera?ndert hoch bleibt, ko?nnte das Land nach regierungsamtlichen Prognosen schon 2050 nahezu 90 Millionen Einwohner haben – fast dreißigmal so viele wie 1960, als Niger unabha?ngig wurde. Bis dahin ko?nnte sich nach Scha?tzungen der Vereinten Nationen die Einwohnerzahl des gesamten Kontinents auf 2,5 Milliarden Menschen verdoppeln.

Afrika als unberechenbare Bedrohung

Derartige Prognosen lo?sen in Europa A?ngste vor einem baldigen "Flu?chtlingsansturm" aus, und sie beflu?geln Rechtspopulisten, die diese A?ngste systematisch befeuern. Afrika wird als große, unberechenbare Bedrohung wahrgenommen. Sogar Hilfsorganisationen, die sich fu?r die Wahrung der Menschenrechte an den EU-Außengrenzen einsetzen, na?hren ungewollt die Furcht. In einer Anzeige von borderline.europe sind ausgehungerte Gestalten zu sehen, die Aliens a?hneln und aus einer Du?rrezone massenhaft auf Europa zumarschieren.

"Die spektakula?rsten demografischen Vera?nderungen, die sich jemals in der Geschichte der Menschheit ereignet haben, vollziehen sich gerade auf dem afrikanischen Kontinent", stellt der franzo?sische Politikprofessor Serge Michailof fest. Er ist kein Apokalyptiker, sondern ein serio?ser Wissenschaftler, der in Afrika intensiv geforscht und lange im humanita?ren Sektor gearbeitet hat, unter anderem als Direktor der staatlichen Entwicklungshilfeagentur Frankreichs. Michailof prophezeit, dass die kommenden Jahrzehnte in Afrika eine Zeit voller Gefahren sein werden. Eine Zeit, in der infolge des ungebremsten Bevo?lkerungswachstums Armut und Verelendung zunehmen werden. Eine Zeit der großen Hungersno?te, die Landflucht und Migrationsbewegungen in einem ungeahnten Ausmaß auslo?sen ko?nnten. Auch eine Zeit der Anarchie und Gewalt, in der sich immer mehr arbeitslose junge Ma?nner, die keine Zukunftsperspektive haben, dem islamistischen Terror zuwenden ko?nnten.

Auch Jeffrey Sachs, ein Schwergewicht in der entwicklungspolitischen Debatte, wirkt nicht mehr so optimistisch wie in den Jahren, als er seinen Bestseller Das Ende der Armut vero?ffentlichte und Sonderberater des Millenniumprogramms der Vereinten Nationen war, das dieses Ende herbeifu?hren sollte. Der amerikanische O?konom leitet das Earth Institute an der Columbia University in New York. Dort habe ich ihn im Dezember 2013 interviewt. Sachs rechnete vor, dass bei den derzeitigen Zuwachsraten Ende des 21. Jahrhunderts rund 3,8 Milliarden Menschen in Afrika leben werden, und ra?umte zum Schluss des Gespra?chs ein: "Und fu?r ein Afrika mit 3,8 Milliarden Menschen kenne auch ich keine Lo?sung."

Hamidou Moumouni, der Bauer aus Libore, versteht die ganze Aufregung nicht. "Die Weißen reden immer von der Bevo?lkerungsexplosion. Sie behaupten, dass wir zu viele Kinder haben. Fu?r uns sind viele Kinder ein Geschenk Gottes." Im U?brigen ko?nne man die Versorgungslu?cke ganz einfach u?berwinden. "Wir brauchen Maschinen und hochwertigen Kunstdu?nger, dann wu?rden wir dreimal so viel produzieren." Und wenn man das Problem auch von der anderen Seite angehen und das schnelle Bevo?lkerungswachstum verlangsamen wu?rde? Moumouni hat sich diese Frage schon mehrmals gestellt, aber er kommt immer zu derselben Antwort: "Viele Menschen, das sind viele Ha?nde, die Wohlstand schaffen. Und wenn jeder Arbeit hat, dann sind alle versorgt." Er geht zuru?ck in sein Lehmhaus und setzt sich zu seiner Frau und den acht Kindern, die sich auf einer Liege im luftigen Innenhof versammelt haben. Faty, 40, die Ehefrau, stillt gerade den 16 Monate alten Kidirou, den ju?ngsten der vier So?hne. Sie ha?tte gern noch mehr Kinder, sagt sie, und Moumouni fu?gt hinzu: "Die Familie muss gro?ßer werden, dann haben wir eine bessere Altersvorsorge." Aber werden denn die So?hne davon leben ko?nnen, wenn er seine zwo?lf Hektar große Farm unter ihnen aufteilt? Das Erbe erhalte nur der Erstgeborene, sagt Moumouni. Der zweite Sohn mo?ge sich einen Posten bei der Regierung suchen, der dritte solle Koranlehrer werden, der vierte ko?nne sich irgendwie nach Europa durchschlagen, um dort sein Glu?ck zu machen. Und die Ma?dchen? "Die sollen reiche Ma?nner heiraten." Nima, die hu?bsche zwo?lfja?hrige Tochter, wird wohl bald verkuppelt werden. Sie wu?nscht sich zehn Kinder, mindestens.

Genau hier liegt das Problem: Niger hat die ho?chste Fruchtbarkeitsrate der Welt, im Schnitt geba?rt jede Frau mehr als sieben Kinder. In einer anderen Statistik steht das Land hingegen ganz unten: Auf dem globalen Index, mit dem die Vereinten Nationen Wohlstand und Lebensqualita?t bewerten, ist es das Schlusslicht unter 189 Staaten. Nirgendwo zeigt sich drastischer, wie Armut extremes Bevo?lkerungswachstum produziert (und vice versa) und diese Dynamik jeden Entwicklungsfortschritt aufzehrt. Niger ist zwar mit 1,3 Millionen Quadratkilometern dreieinhalbmal so groß wie Deutschland, aber zwei Drittel des Staatsgebiets sind Wu?ste, und nur knapp acht Prozent der Landesfla?che ko?nnen landwirtschaftlich genutzt werden. Denn nur dort fallen pro Jahr durchschnittlich mehr als 400 Millimeter Niederschlag, die den Regenfeldbau erst mo?glich machen. Schon heute verbraucht die nigrische Bevo?lkerung mehr Nahrungsmittel, als auf ihren Feldern wachsen. In langen Trockenzeiten muss die Regierung bis zu eine Million Tonnen Getreide importieren, um die Versorgungslu?cke auszugleichen. Entwicklungsexperten nennen das ein strukturelles Nahrungsmitteldefizit. Manche verwenden auch das Bild von der Schere zwischen Storch und Pflug, die sich immer weiter o?ffne; sie warnen vor der "malthusianischen Falle".

Der Staat ist überfordert

Thomas Malthus war ein britischer O?konom, seine umstrittene Kernthese besagt grob vereinfacht, dass das Massenelend gro?ßer werde, wenn die Bevo?lkerung exponentiell wa?chst, wa?hrend die Nahrungsmittelproduktion nur linear zunimmt. Malthus wurde im 20. Jahrhundert durch den wissenschaftlichen Fortschritt, die Bildungsrevolution und die Modernisierung der Landwirtschaft gru?ndlich widerlegt, doch in der Sahel-Region sind seine Vorhersagen Realita?t geworden. Dort drohen im 21. Jahrhundert gewaltige Versorgungskrisen, und es wird trotz aller Hilfsanstrengungen der internationalen Gemeinschaft unmo?glich sein, Millionen und Abermillionen von Menschen vor dem Hungertod zu retten. Aus eigener Kraft ko?nnte Niger vielleicht 10 Millionen Menschen erna?hren. Das Land hat aber 20 Millionen Einwohner. Der schon jetzt u?berforderte Staat wird nicht in der Lage sein, die 750.000 Kinder, die jedes Jahr geboren werden, auszubilden, gesundheitlich zu versorgen und in Brot und Arbeit zu bringen.

Die ehemalige franzo?sische Kolonie ist seit der Unabha?ngigkeit wirtschaftlich kaum vorangekommen, im Gegenteil: Wa?hrend das Pro-Kopf-Einkommen im Gru?ndungsjahr 1960 bei 476 Dollar lag, betrug es 2016 nur noch 441 Dollar. Die Entwicklungsdefizite sind vor allem der politischen Instabilita?t und der Unfa?higkeit korrupter Regierungen geschuldet. Niger wurde in seiner kurzen Geschichte durch mehrere Staatsstreiche erschu?ttert, erst 2011, mit der Wahl Mahamadou Issoufous, kam das Land einigermaßen zur Ruhe. Der ehemalige Pra?sident galt als moderater Sozialdemokrat, der das Kardinalproblem des Landes angehen wollte: die Massenarmut, die durch den Bevo?lkerungsdruck verscha?rft wird. Aber die Mittel der Regierung sind beschra?nkt. Außer Uran hat das Land keine nennenswerten Exportgu?ter, bei der Mehrheit der Bevo?lkerung handelt es sich um Subsistenzbauern, von denen u?ber die Ha?lfte mit einem Dollar pro Tag auskommen mu?ssen.

Die dramatischen Folgen der Bevo?lkerungsexplosion seien jahrzehntelang verdra?ngt worden, sagt Serge Michailof, von den reichen Geberstaaten, von den einheimischen Politikern, von christlichen und muslimischen Dogmatikern. Aber auch humanita?re Organisationen haben das Problem bagatellisiert oder verdra?ngt, es war politisch nicht korrekt, daru?ber zu reden. Jetzt kehrt es in einer der a?rmsten Regionen der Welt mit voller Wucht zuru?ck, und alle Maßnahmen, die dagegen unternommen werden, kommen reichlich spa?t oder bleiben Stu?ckwerk.

Vor dem Entbindungsheim in der Bezirksstadt Dosso warten vierzig Mu?tter mit ihren kranken Kleinkindern, viele wimmern oder schreien. Zeinabou Abdou, eine schon nach vierzig Lebensjahren ausgemergelte Frau, hat sich bereits fru?hmorgens angestellt. Sie tra?gt ihre elf Monate alten Zwillinge auf dem Ru?cken, zwei Ma?dchen. Das eine sieht proper aus, das andere zeigt Zeichen von Untererna?hrung: spindeldu?rre Gliedmaßen, schu?tteres, rotstichiges Haar. Es bekommt nicht genug Milch, die Mutter ist ratlos. Zwo?lf Kinder hat Zeinabou Abdou zur Welt gebracht, drei starben, das dreizehnte ist in ihrem Bauch. "Du bist eine Frau, du musst liefern. Du hast keine Wahl", sagt sie schicksalsergeben. Will sie noch mehr Kinder? "Nein, jetzt reicht es mir. Ich will verhu?ten."

Verhu?tungsmittel? In Darey Maliki wussten viele Ma?dchen und Frauen vor ein paar Monaten noch gar nicht, dass es so etwas gibt. Ihr Dorf liegt 15 Kilometer außerhalb von Dosso, traditionelle Hu?tten, Lehmmoschee, Brunnen mit Handpumpe, ringsum Hirsefelder. Und ein Versammlungshaus, in dem drei Dutzend aufgeregte Ma?dchen in ostereierfarbenen Hidschabs sitzen. Sie sind zwischen 13 und 19 Jahre alt und besuchen einen Lehrgang fu?r Familienplanung, den die amerikanische Hilfsorganisation Pathfinder durchfu?hrt.

Die jungen Frauen ko?nnen weder lesen noch schreiben, sie mussten die Schule abbrechen, weil sie fru?h in die Ehe gezwungen wurden. Die meisten erleben zum ersten Mal so etwas wie Unterricht. "Manche Ehema?nner haben ihnen die Teilnahme an unserer Schulung verboten", sagt Ramatou Halitou, die Kursleiterin. "Sie wollen nicht, dass ihnen die Frauen wiedersprechen." Halitou wiederholt anhand von bunten Schautafeln die letzten Lektionen: Sexualleben, Funktion der Geschlechtsorgane, Komplikationen bei der Geburt, weibliche Gesundheitspflege. Die Ma?dchen ho?ren aufmerksam zu, stellen schu?chtern Fragen. Machen Kontrazeptiva unfruchtbar? Was tun, wenn sie mein Mann verbietet und mich schla?gt? Wie gefa?hrlich sind Schutzimpfungen? "Wir lernen hier, selbststa?ndig zu denken, und werden zu Vorbildern fu?r andere Frauen", sagt Balkissa Hassane, eine aufgeweckte Achtzehnja?hrige. Sie ist zum ersten Mal schwanger – und wu?nscht sich sieben Kinder. Sie will aber auch verhu?ten, um gro?ßere Absta?nde zwischen die Geburten zu legen. Ein kleiner Fortschritt, immerhin. Hassanes Wunsch zeigt allerdings auch, dass die Aufkla?rungskampagnen ihr Hauptziel – weniger und gesu?ndere Kinder – oft verfehlen. Denn auch bei jungen Frauen bleibt die U?berzeugung sta?rker, dass viel Nachwuchs ein Segen ist.

Mehr Kinder gleich mehr Chancen

"Man muss sich das wie eine Lotterie vorstellen", sagt Sani Aliou, der Landesdirektor von Pathfinder. "Je mehr du einsetzt, desto ho?her sind die Gewinnchancen: Irgendein Kind wird schon das Glu?ckslos ziehen." Aliou ist praktischer Arzt, er plant die Einsa?tze seiner Organisation generalstabsma?ßig. An der Wand ha?ngt eine Karte, in der mit Stecknadeln die Gesundheitsposten und Einsatzteams markiert sind. Das Misstrauen gegen die moderne Medizin sei nach wie vor groß, sagt er und nennt ein typisches Beispiel: Werdende Mu?tter wollen sich aus religio?sen Gru?nden oft nicht untersuchen lassen, weil sie A?rzte oder ma?nnliche Pflegekra?fte beru?hren ko?nnten.

Niger hat nicht nur die ho?chste Fertilita?t der Welt, sondern auch eine der ho?chsten Mu?ttersterblichkeitsraten: Die Geburt u?berleben 535 von 100.000 Frauen nicht (Deutschland verzeichnet im Vergleich dazu nur drei Todesfa?lle). Das liegt an der schlechten medizinischen Versorgung, vor allem aber an der extrem hohen Zahl von Fru?hehen: Viele Ma?dchen sind viel zu jung, um Kinder zu kriegen. Laut amtlicher Statistik werden im Niger 76 Prozent der Ma?dchen vor dem 18. Lebensjahr verheiratet, 28 Prozent sind sogar ju?nger als 15.

In der Regel werden sie von den eigenen Va?tern und Mu?ttern dazu geno?tigt. "Das fu?hrt immer wieder zu schrecklichen Trago?dien", sagt Kaffa Jackson und zeigt auf ihrem Smartphone ein grausiges Foto, das ihr vor ein paar Tagen von einem anonymen Absender gemailt wurde. Darauf ist ein etwa 14 Jahre altes Ma?dchen zu sehen, das sich am Rande ihres Dorfes an einem du?rren Baum erha?ngt hat. Solche Bilder hat sie schon o?fter erhalten, sie sind fu?r sie Mahnung und Ansporn zugleich, die Misssta?nde zu beka?mpfen. Jackson, eine promovierte Luftfahrtingenieurin, ist Ministerin fu?r Bevo?lkerungsfragen und steht im Ruf, eine resolute Technokratin zu sein. "Ich habe den schwierigsten Job in der Regierung", sagt sie.

Auch die Ministerin hat fünf Kinder

Die Ministerin hat fu?nf Kinder großgezogen. "Es wa?re schon viel gewonnen, wenn wir diese Obergrenze in jeder Familie erreichen wu?rden." Ihr Bu?ro quillt u?ber vor Strategiepapieren, dicken Ordnern voller Zahlen und Broschu?ren aller Art. An Initiativen auf ho?chster Ebene mangele es nicht, betont sie, es gebe einen nationalen Aktionsplan, mehrere Ministerien ha?tten Programme zur langfristigen Familienplanung entworfen. Das große Manko sei allerdings, dass die Projekte unterfinanziert und schlecht koordiniert sind und dass sie oft nicht auf der untersten Verwaltungsebene ankommen.

"Gerade in den dicht besiedelten Kommunen entscheidet sich, ob wir das Bevo?lkerungswachstum drosseln ko?nnen", erkla?rt Jackson. "Die gro?ßten Hindernisse dabei sind Armut, Unwissen, patriarchalische Traditionen wie die Polygamie, die Rechtlosigkeit der Ma?dchen und Frauen." Auf ihren Reisen durchs Land spu?rt sie immer wieder die massiven Widersta?nde der Ma?nner, die nichts wissen wollen von Geburtenkontrolle. Viele glauben, dass Frauen, die verhu?ten, fremdgehen wu?rden. Kondome sind ohnehin verpo?nt. Um fu?r den Gebrauch der Gummis zu werben, sagt die Ministerin, mu?sse man kreative Strategien entwickeln. Sie lobt eine Hilfsorganisation, die die Pra?servative "Foula" nennt – so heißt der traditionelle Spitzhut. Seit prominente Ringer dafu?r werben (Ringen ist eine der beliebtesten Sportarten im Niger), sei die Akzeptanz dieser Verhu?tungsmethode gestiegen. "Solche Maßnahmen sind sinnvoll, aber es sind nur winzige Schritte. Wenn es uns nicht gelingt, das Bevo?lkerungswachstum zu bremsen, steuern wir auf eine Katastrophe zu", glaubt auch Kaffa Jackson. Dennoch verbittet sie sich die schulmeisterlichen Belehrungen aus Europa. Besonders a?rgerlich findet sie, was Emmanuel Macron unla?ngst zum Besten gegeben hat. "In La?ndern, wo Frauen sieben bis acht Kinder haben, kannst du Milliarden von Euro ausgeben, du wirst nie Stabilita?t erreichen", verku?ndete der franzo?sische Pra?sident. Die Ferndiagnose im Namen der einstigen Kolonialmacht Frankreich, die den Kontinent jahrzehntelang ausgebeutet hat, kam bei Afrikanern und Afrikanerinnen nicht gut an.

Auch wenn europa?ische Politiker kurz in Niamey einfliegen und ein paar Computer und Gela?ndewagen verschenken, sei das nicht sehr hilfreich, sagt Jackson. Sie spielt auf den letzten Blitzbesuch der damaligen deutschen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen in Niamey an. "In Wahrheit geht es doch nur darum, dass wir euch die Armutsflu?chtlinge vom Halse halten. Die Ursachen der Migration werden dabei gerne vergessen."

"Es gibt tausend Vorschla?ge, das Bevo?lkerungswachstum zu verringern", sagt Fatouma Karimou. "Aber solange unsere Ma?dchen und Frauen nicht gleichberechtigt sind, ist das nicht zu schaffen. Sie brauchen Bildung, um selbst u?ber ihr Leben bestimmen zu ko?nnen." Sie hat diese Bildung, sie wurde gefo?rdert von einer kleinen Hilfsorganisation aus Kanada. Die 24-Ja?hrige studiert Erna?hrungswissenschaften. Sie tra?gt einen petrolgru?nen Hidschab, an ihrer Nase glitzert ein Schmuckstein – eine aufgekla?rte junge Muslimin, die fu?r viele Ma?dchen im Dorf Libore zum Rollenmodell wurde. Auf die meisten Ma?nner hingegen wirken selbstbewusste Frauen wie sie bedrohlich. "Sie halten Frauen fu?r minderwertig. Sie fu?rchten, dass sie keinen Respekt mehr vor ihnen haben, wenn sie sich emanzipieren. Und deshalb wollen sie auch nicht, dass sie alphabetisiert werden und sich gegen Fru?hehen wehren", sagt Karimou. Es sei schwer, diese Mentalita?t zu u?berwinden, denn die Ma?nner wollen ihre Macht behalten. "Sie reden dann von der Tradition und von religio?sen Tabus. Aber Familienplanung ist keine Su?nde. Auch nicht im Islam!" Die Ausbildung abschließen, dann als Erna?hrungsberaterin arbeiten, dann erst heiraten, das ist der Plan von Fatouma Karimou. Natu?rlich will auch sie Kinder. Wie viele? "Fu?nf."

Nigeria ist die bevo?lkerungsreichste Nation Afrikas. Man weiß allerdings nicht genau, wie viele Einwohner die gro?ßte Volkswirtschaft des Kontinents tatsa?chlich hat. Sind es 190 Millionen? 200 Millionen? Oder schon weit mehr? 1987, als ich im Pressetross des damaligen Bundespra?sidenten Richard von Weizsa?cker Nigeria besuchte, waren es erst 88 Millionen. Schon seinerzeit zeichnete sich ein schwindelerregendes Bevo?lkerungswachstum ab, aber niemanden schien das zu beku?mmern. Wir flogen auch zu einer riesigen Baustelle im geografischen Zentrum des Landes, wo die neue Hauptstadt Abuja entstehen sollte. Außer dem protzigen Hilton-Hotel, in dem wir na?chtigten, war noch nicht viel zu sehen. Mittlerweile hat sich Abuja in eine hochmoderne Kapitale mit u?ber drei Millionen Einwohnern verwandelt, und die Regierung ist stolz, dass sie in Windeseile weiter und weiter wa?chst. Anfang der 1990er Jahre sprach ich mit zwei einflussreichen Religionsfu?hrern u?ber das Thema, mit Father Matthew Kukah, dem Generalsekreta?r der katholischen Kirche, und mit Abdul-Lateef Adegbite, seinem Amtskollegen im Obersten Rat fu?r muslimische Angelegenheiten. Beide gaben fast wortgleiche Statements ab, die sich in zwei Sa?tzen zusammenfassen lassen: Die "Bevo?lkerungsexplosion" ist ein westliches Schreckensszenario. Familienplanung und Geburtenkontrolle sind Werke des Teufels, die dem Scho?pfungsplan des Allma?chtigen zuwiderlaufen.

Drei Jahrzehnte spa?ter leben nach amtlichen Scha?tzungen allein in Lagos bereits 21 Millionen Menschen, und ta?glich kommen rund 3000 Zuwanderer hinzu, verarmte Landflu?chtlinge, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben in die Wirtschaftsund Handelsmetropole ziehen. Wenn der Zustrom in diesem Tempo anha?lt, ko?nnte Lagos zur Jahrhundertmitte die gro?ßte Megalopolis der Welt sein: 40 Millionen Einwohner, so viele wie in ganz Polen. Ist ein Gebilde dieser Gro?ßenordnung u?berhaupt regierbar? La?sst sich darin noch menschenwu?rdig leben? Oder mutiert Lagos zu einem unermesslichen Konglomerat von Slums, in denen nur ein Gesetz herrscht: das Gesetz der Entropie, das jede soziale Ordnung zersetzt? Genau das prophezeien Kulturpessimisten wie der Amerikaner Robert Kaplan. Schon vor Jahren beschrieb er Lagos und andere Großsta?dte Westafrikas als wild wuchernde Ballungsra?ume, in denen sich alle Probleme wechselseitig versta?rken: Bevo?lkerungsdruck, Massenarmut, Wohnungsnot, Wassermangel, Energiekrise, Verkehrsinfarkt, Mu?llnotstand, Korruption, ausufernde Kriminalita?t. Lagos ist in Kaplans Augen ein Vorbote des Weltuntergangs.

Rem Koolhaas, der niederla?ndische Stararchitekt, sieht das ganz anders. Fu?r ihn ist die Riesenstadt ein Ort der Zukunft, der sogar ein Modell fu?r die Megacitys des 21. Jahrhunderts werden ko?nne, ein Labor voller Vitalita?t und Kreativita?t, in dem neue Strategien zur Bewa?ltigung der weltweiten Versta?dterung erprobt werden.

Man kann es sich kaum vorstellen, wenn man in diesen Tagen den Moloch Lagos erkundet. Schon am fru?hen Morgen tobt ein infernalischer Verkehr, sa?mtliche Hauptstraßen sind heillos verstopft. Die Tropenluft ist schwu?l und stickig, man fu?hlt sich wie in einer Sauna. Es stinkt nach Abgasen, fauligem Wasser, Fa?kalien, der Rauch von kokelnden Abfallbergen brennt in den Augen. Dazu das Geratter der Dieselgeneratoren, die rund um die Uhr laufen, weil der Strom im Stundentakt ausfa?llt. Und allerorten bewegen sich gewaltige Menschenmassen, auf den Ma?rkten, neben den Autobahnen, unter den Bru?cken, an Bushaltestellen. Ein wirres, aggressives Großstadtgewu?hl, in dem man schnell die Orientierung verliert.

Der Staatschef sieht keinen Handlungsbedarf

Lagos sei ein brutaler Ort, der die Menschen zermu?rbe, befindet der nigerianisch-amerikanische Schriftsteller Teju Cole. "Du wachst am Morgen auf und denkst: Hier machen sich zwanzig Millionen Leute gegenseitig das Leben schwer." Im Klartext: Wer sich gegen die Verteilungsschlacht nicht wappnet, geht unter. Ich habe Coles Buch“ Jeder Tag geho?rt dem Dieb“ wie eine Anleitung zum U?berleben in einem urbanen Dschungel gelesen. Seine Empfehlungen wa?ren ebenso nu?tzlich in anderen Metropolen Afrikas, die aus allen Na?hten platzen. Auch in Kairo, Accra, Daressalam, Kinshasa oder Johannesburg beschleicht einen die fatalistische Anmutung, dass das rasante Wachstum im dystopischen Zerfall enden ko?nnte.

Olusegun Obasanjo ist einer der angesehenen Elder Statesmen Afrikas. Ich habe ihn mehrfach interviewt, zuletzt, als er noch Pra?sident von Nigeria war. Er saß, bewacht von vergoldeten Lo?wen, in seinem abgedunkelten Amtszimmer in der Aso Villa zu Abuja, und empfand Fragen nach der demografischen Entwicklung seiner Nation als Zumutung: "What are you talking about, young man?" Obasanjo sah keinerlei Handlungsbedarf. Unterdessen schla?gt auch er Alarm und warnt auf internationalen Tagungen vor der "youth bulge", vor dem U?berschuss an ungebildeten, arbeitslosen, frustrierten jungen Afrikanern und Afrikanerinnen, deren Zahl bis 2050 auf nahezu eine halbe Milliarde anschwellen ko?nnte. Das Problem ist vor allem eine Alterskohorte, die schon der Moralphilosoph Thomas Hobbes in seinem 1651 erschienenen Hauptwerk Leviathan beschreibt: junge Ma?nner, die aufgrund ihrer Unzufriedenheit mit der gegenwa?rtigen Lage geneigt seien, "Unruhe und Aufruhr zu erregen". Sie sind voller Testosteron, haben keinerlei Zukunftsperspektiven, langweilen sich, leiden unter der Allmacht der alten Ma?nner. Sie begegneten mir in unterschiedlicher Gestalt immer ha?ufiger in Afrika: Kindersoldaten in Sierra Leone, Straßenkinder in den Slums von Nairobi, minderja?hrige Arbeitssklaven in den Goldminen Ghanas. Oder ma?nnliche Jugendliche, die in den Townships vor Kapstadt oft vaterlos aufgewachsen sind, sich einer der mittlerweile 130 Banden angeschlossen haben und ihre Gemeinden terrorisieren. Die Mordund Vergewaltigungsraten in den Territorien der Gangster za?hlen zu den weltweit ho?chsten. Su?dafrikanische Kriminologen fu?hren das unter anderem auf die gekra?nkte Ma?nnlichkeit der jungen Strafta?ter zuru?ck.

Der umstrittene Sozialforscher Gunnar Heinsohn geht im globalen Kontext noch viel weiter, er warnt vor einem Millionenheer gewaltbereiter Nachwuchskrieger. Wer nach Erkla?rungen sucht, warum den islamistischen Terrormilizen in Somalia oder Nordnigeria so viele Halbwu?chsige und Jungma?nner zulaufen, ist versucht, seiner abstrusen These zuzustimmen. Doch Heinsohns biologistische Konstruktionen haben wenig mit exakter Wissenschaft zu tun: Er liefert nur dumpfe Argumente fu?r den Stammtisch und blendet die wahren Ursachen der latenten Aggressionsbereitschaft aus: Armut, Aussichtslosigkeit, das Gefu?hl, wertlos zu sein.

Olusegun Obasanjo, dem als Pra?sident Nigerias die "Jugendbeule" ziemlich egal war, hat sich auf seine alten Tage in einen unermu?dlichen Mahner verwandelt. Dennoch wurde er nicht zum Untergangspropheten, denn er sieht Licht am Ende des Tunnels, zum Beispiel in einem Land wie A?thiopien. Ausgerechnet in A?thiopien, das vor ein paar Jahren noch als hoffnungslos u?berbevo?lkertes Hungerland abgeschrieben wurde? Diesen Einwand bekomme ich bei Vortra?gen in Deutschland oft zu ho?ren, und lange Zeit hielt ich ihn fu?r berechtigt. Wurden die Zweifel nicht durch die nackten Zahlen immer wieder besta?tigt? 1990 hatte das nordostafrikanische Land 50 Millionen Einwohner, heute sind es weit u?ber 100 Millionen. Dennoch ist in dieser Zeitspanne die Zuwachsrate der Bevo?lkerung signifikant zuru?ckgegangen. Das lag an der vorausschauenden Politik einer Regierung, u?ber die man viel Schlechtes sagen kann, doch auf dem Feld der Familienplanung konnte sie bemerkenswerte Fortschritte erzielen. Sie hat nach dem Millenniumswechsel im ganzen Land 16 500 Gesundheitsstationen eingerichtet und eine regelrechte Gesundheitsarmee rekrutiert. Zehntausende von Helferinnen werben fu?r Schutzimpfungen gegen Kinderkrankheiten, kla?ren u?ber Empfa?ngnisverhu?tung auf, bringen den Mu?ttern bei, ihre Kinder besser zu erna?hren und kein verschmutztes Wasser zu trinken. Zum Maßnahmenkatalog geho?rten auch eine ho?here Einschulungsquote, versta?rkte Bildungsfo?rderung fu?r Ma?dchen und ein leichterer Zugang zum Arbeitsmarkt fu?r Frauen. Eine Studie des Berlin-Instituts fu?r Bevo?lkerung und Entwicklung bilanzierte 2019 die Erfolge: gesunkene Kindersterblichkeit, niedrigere Wunschkinderzahlen, verfu?nffachte Nutzung von Verhu?tungsmitteln, ru?ckga?ngige Fertilita?tsrate.

Äthiopien, der "demografische Vorreiter"

Es geht also, man muss er nur wollen. Die Regierung in Addis Abeba ist jedenfalls bemu?ht, die Altersstruktur der Gesellschaft langfristig zu a?ndern, um irgendwann in den Genuss der sogenannten demografischen Dividende zu kommen, so wie das Su?dkorea, Thailand oder Singapur vorgemacht haben. In den asiatischen Tigerstaaten hat die hohe Zahl von arbeitsfa?higen jungen Menschen bei einem geringen Anteil von Alten einen wirtschaftlichen Entwicklungsschub ausgelo?st, der wiederum zu einem Ru?ckgang der Geburtenraten fu?hrte. Um diesen Bonus zu erreichen, sind allerdings noch viel entschlossenere Reformen im Bildungsund Gesundheitswesen vonno?ten, und eine Wirtschaftspolitik, die Arbeitspla?tze fu?r den besser qualifizierten Nachwuchs schafft.

A?thiopien ist auf einem guten Weg, es hat dank eines anhaltenden Wirtschaftsaufschwungs sogar den Anteil der Menschen, die in absoluter Armut leben, halbiert und ko?nnte zu einem "demografischen Vorreiter" Afrikas werden, wie es in der schon erwa?hnten Studie heißt. Viele La?nder des Kontinents sind allerdings noch meilenweit von diesem Ziel entfernt, und manche wollen es gar nicht erreichen, weil die Machteliten dem Irrglauben anha?ngen, eine große und immer weiter wachsende Einwohnerzahl wu?rde das o?konomische Gewicht und die geopolitische Bedeutung ihrer Nationen erho?hen. Sie ignorieren einen historischen Lehrsatz, den Reiner Klingholz, der langja?hrige Direktor des Berlin-Instituts, ins Geda?chtnis ruft: "Noch nie hat sich irgendwo auf der Welt ein Land entwickelt, ohne dass sich zuvor das Bevo?lkerungswachstum verringert ha?tte."

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Bartholomäus Grill blickt zurück auf sein Korrespondentenleben in Afrika. Ein persönliches Buch mit Geschichten von Äthiopien bis Südafrika. Erschienen bei Siedler. 288 Seiten. 22 Euro.
Bartholomäus Grill blickt zurück auf sein Korrespondentenleben in Afrika. Ein persönliches Buch mit Geschichten von Äthiopien bis Südafrika. Erschienen bei Siedler. 288 Seiten. 22 Euro.