Beitrag vom 23.10.2021
General-Anzeiger, Bonn
„Die Ergebnisse sind sehr dürftig“
Die Welt südlich des Mittelmeers ist für Europäer vor allem mit Ängsten besetzt. Der Afrika-Kenner Bartholomäus Grill ruft zur Differenzierung auf – und erteilt der westlichen Entwicklungshilfe ein kaum zufriedenstellendes Zeugnis
Bartholomäus Grill berichtete drei Jahrzehnte lang für die Zeit und den Spiegel aus Afrika. In einem neuen Buch zieht der Journalist jetzt eine kritische Bilanz. Martin Wein erreichte Grill dazu telefonisch in dessen Wahlheimat Kapstadt.
Der Nobelpreis für Literatur geht 2021 an den gebürtigen Tansanier Abdulrazak Gurnah. 18 Jahre lang hatte den Preis kein Autor mit afrikanischen Wurzeln erhalten. Was jenseits des Mittelmeeres passiert, bleibt im Norden praktisch unbemerkt. Ärgert Sie das?
Grill: Man gewöhnt sich dran. Das ist ein Modus der Wahrnehmung, in dem wir seit der Kolonialzeit verharren. Damals wurde Afrika vermutlich sogar mehr wahrgenommen als heute. Dabei ist der Blick auf Afrika vor allem eindimensional der des K-Kontinents, des Kontinents der Krisen, Krankheiten, Korruption, Kriege und Katastrophen.
Es gibt scheinbar nur Frust oder Faszination.
GRILL: | Ja, wir haben auf der anderen Seite natürlich auch den sehr wohlmeinenden, teils blauäugigen Blick von Hilfsorganisationen oder Politikern, die Afrika als Jahrhundert-Kontinent sehen. Das Potenzial dafür wäre durchaus gegeben. Aber es mangelt an den Rahmenbedingungen.
Wieso gerät aus Ihrer Sicht die mediale Präsenz Afrikas derart schablonenhaft? Man denkt ja wirklich, entweder ist Bürgerkrieg, Hungersnot, oder Dirk Steffens besucht fürs ZDF die Berggorillas.
GRILL: | Klischees gibt es ja nicht nur mit Blick auf Afrika. Wenn Sie lesen, was Peter Scholl-Latour über Indochina geschrieben hat, dann begegnen Ihnen auch die „ameisenhaften Asiaten“ oder „mandeläugige Schönheiten“ beim Sonnenuntergang am Mekong. Auch unser Bild von Italien ist voller Klischees: Rückständiger Mafia-Staat einerseits und andererseits seit Goethes Zeiten das Land, wo die Zitronen blühen. Natürlich bedienen die Medien auch diese Klischees. Das verkauft sich.
Es gibt aber einen fundamentalen Unterschied zwischen Italien und Afrika. Fast niemand in Deutschland kennt den Kontinent aus eigener Anschauung. Wahrscheinlich kennt eine Mehrheit der Deutschen nicht einmal alle afrikanischen Länder. Damit haben Sie ein seltenes Informationsmonopol.
GRILL | : Wie viele der 55 Nachkriegsregierungen Italiens können Sie aufzählen? Oder die Ministerpräsidenten? Auch Länder, die wir glauben zu kennen, kennen wir nur bedingt.
Aber man hat ein eigenes Bild.
GRILL | : Das hat man von Afrika auch. Der Unterschied ist: Es ist angstbesetzt. Spätestens seit der „Flüchtlingskrise“ 2015 hat sich die Beschäftigung mit Afrika sehr eindimensional auf die Abwehr der Migration konzentriert. Man interveniert ja nicht aus rein humanitären Gründen, sondern aus Eigeninteresse. Das ist nicht per se verkehrt.
Afrika ist dreimal so groß wie Europa, zersplittert in 54 Länder. Wie kann man als Einzelkämpfer da den Überblick behalten?
GRILL | : Das ist natürlich eine Anmaßung. Den Überblick bekommt man erst nach vielen Jahren. Manche Länder kommen dabei überhaupt nicht vor, andere nur monothematisch. In Nigeria geht es hauptsächlich um Öl, Korruption und die Terror-Organisation Boko-Haram, in Somalia um Staatszerfall und Bürgerkrieg.
Macht es überhaupt Sinn, so unterschiedliche Länder wie Mali, Kenia oder Südafrika unter einem Oberbegriff zu subsummieren?
GRILL | : Das wäre genauso undifferenziert, als würden wir Albanien und Norwegen gleichsetzen, wenn wir über Europa schreiben. Tatsächlich sprechen wir von 54 Ländern mit ganz unterschiedlichem Entwicklungsstand – vom failed state wie der Zentralafrikanischen Republik, über Staaten im Aufstieg wie Tansania, bis zu Ländern im Abstieg wie Südafrika und solchen, die eigentlich ganz gut funktionieren, wie Senegal oder Ghana.
Sie leben in Kapstadt. Ist das nicht ein fauler Kompromiss? Von dort ist es genauso weit an die Elfenbeinküste wie von Berlin.
GRILL | : Südafrika ist ein guter Standort für Korrespondenten, weil die Infrastruktur gut ist. Zugleich ist Südafrika ökonomisch das wichtigste Land Afrikas und seine Geschichte ist mit unserer verflochten. Sehr viele europäische Interessen manifestieren sich hier, vom Immobilienmarkt bis zur Autoproduktion. Aber Sie haben Recht: Man ist hier von Afrika manchmal sehr weit weg. Das beginnt erst, wenn man im Norden über den Limpopo als Staatsgrenze gefahren ist. In Südafrika, Namibia und Simbabwe prägt die einstige Rassenpolitik bis heute die Gesellschaften. Wer in Südafrika lebt, der wird zum Weißen.
Die Informationsbeschaffung bei Ihrer Arbeit ist schon rein technisch komplexer als in Deutschland.
GRILL | : Die digitale Revolution hat die Arbeit zum Glück erheblich vereinfacht. Man kann inzwischen fast jede Tageszeitung Afrikas auch im Netz lesen. Es gibt viel mehr Zeugen für Ereignisse. Die Konfliktregion Tigray in Äthiopien wurde von der Regierung abgeriegelt. Es kommen trotzdem viele Bilder und Videos heraus. Das wäre vor 20 Jahren nicht möglich gewesen. Ich sehe allerdings die Gefahr, dass man wie in China in kritischen Situationen das Netz einfach abschaltet. Das Modell der chinesischen Entwicklungsdiktatur ist für einige Regierungen etwa in Ruanda auf dem Kontinent ein leuchtendes Vorbild. Ein Politiker aus Burundi hat mal gesagt: Wir brauchen nicht drei Parteien, sondern drei Mahlzeiten am Tag.
Wie bewerten Sie die Opferrolle, die viele Protagonisten aus Afrika auch Jahrzehnte nach dem Ende des Kolonialismus einnehmen?
GRILL | : Das Unrecht der Europäer in Afrika wurde bislang kaum thematisiert. Belgien hat sich damit fast nicht befasst. Portugal beginnt jetzt damit. Und auch wir diskutieren erst in den letzten fünf Jahren intensiv über die Spätfolgen der Kolonialzeit. Insofern ist die Argumentation natürlich berechtigt. Andererseits nutzen afrikanische Eliten das koloniale Erbe oft als Entschuldigung für eigenes Versagen. Dieses Argumentationsraster begegnet einem sehr oft hier in Südafrika. Wenn etwas schiefläuft, verweisen die Verantwortlichen regelmäßig auf das Erbe der Apartheid. 30 Jahre nach deren Ende ist das eine jämmerliche Ausrede.
Wie nehmen Sie in Namibia die Debatte um Entschädigungen für die Herero wahr?
GRILL | : Da erleben wir einen Verteilungskampf zwischen den verschiedenen Interessengruppen. Die von den Ovambos dominierte Regierung will eine Entschädigung für den Staat. Die Hereros wollen das Geld als Nachkommen der Betroffenen für sich allein. Aber auch ihr Volk ist gespalten. Da gibt es Wortführer, die sich spinnefeind sind. So hat der deutsche Verhandlungsführer Ruprecht Polenz jüngst darauf hingewiesen, dass Vertreter der Hereros an den Gesprächen stets beteiligt waren. Offenbar werden die von anderen aber nicht anerkannt.
Andere finanzielle Ressourcen kommen in Form von Entwicklungshilfe. In ihrem Buch schreiben Sie von der „Hilfsindustrie“. Viele dieser Organisationen sitzen in Bonn. Wie haben Sie deren Arbeit wahrgenommen?
GRILL | : Ganz unterschiedlich. Es gibt gute Initiativen und Projekte ebenso wie „weiße Elefanten“, also nutzlose Prestigeobjekte. Es gibt alle möglichen Widersprüche, Doppelförderungen und eine Unzahl von NGO’s und UN-Agenturen. Wenn man den Aufwand mit den Ergebnissen vergleicht, sind die sehr dürftig. China hat in den letzten 20 Jahren ökonomisch sicher mehr bewegt als die westliche Entwicklungshilfe in 60 Jahren.
Was müssten wir anders machen?
GRILL | : Entwicklung muss immer von den Ländern selbst ausgehen. Entscheidend für die Misere in vielen Ländern Afrikas ist aus meiner Sicht nach 40 Jahren Afrika das Versagen ihrer politischen Eliten und deren Hang zu Vetternwirtschaft, Korruption und persönlicher Bereicherung. Der südafrikanische Politikwissenschaftler William Gumede hat gerade eine Ode auf Angela Merkel geschrieben. Er sagt, solche Politiker würden wir in Afrika brauchen, die sich als Diener des Staates begreifen. Dieser Topos durchzieht die Afrika-Diskussion seit der Unabhängigkeit. Denken Sie an das Buch „Tödliche Hilfe“ von Brigitte Erler. Sie war Staatssekretärin im Entwicklungshilfeministerium und ist danach ausgestiegen. Axelle Kabou aus Kamerun hat schon vor vielen Jahren gefragt: Warum glauben die Afrikaner, dass immer andere für ihre Entwicklung zuständig sind? Insofern müsste man die Partner in Afrika deutlich härter angehen.
Ist das westliche Nationalstaatskonzept für Afrika tragfähig?
GRILL | : Das Problem ist, dass die Menschen keinerlei Fortschritte sehen. Der islamistische Terrorismus ist im Norden Nigerias so stark, weil der Staat vollkommen versagt hat. Das westliche Entwicklungsmodell hat weder Wohlstand gebracht noch Demokratie.
Dabei galt Afrika als neue Wachstumsregion im 21. Jahrhundert. Was ist davon geblieben?
GRILL | : Ein ständiges Auf und Nieder. Äthiopien hatte vor zehn Jahren eine der höchsten Wachstumsraten der Welt. Nun ist es im Krieg in Tigray. Der wirft das Land ökonomisch zurück und der neue Premierminister – der den Friedensnobelpreis für die Aussöhnung mit Eritrea erhalten hat – formt eine neue Diktatur. Tansania hat sich dagegen in 15 Jahren hervorragend entwickelt. Auf der anderen Seite ist Südafrika mit den meisten Ressourcen und der besten Einbindung in den Welthandel auf einem Abstiegspfad.
Trotzdem hat die Afrikanische Union in ihrer „Agenda 2063“ hehre Ziele formuliert. Wie steht es darum?
GRILL | : Das ist ein ehrgeiziges Programm in Erinnerung an die Gründung der OAU 1963, das ich voll und ganz unterschreiben kann. Es sieht unter anderem eine Freihandelszone für Güter, Dienstleistungen und Menschen vor. Entstehen würde der größte Freihandelsraum der Welt und damit ein gewaltiger Wachstumsmotor. Pläne gab es allerdings schon etliche, die aber aus vielerlei Gründen nicht umgesetzt wurden.
Sie haben Zweifel …
GRILL | : Ich habe schon viele Hoffnungsträger aufsteigen sehen, die sich schon bald in üble Diktatoren verwandelt haben.
Andere Korrespondenten wechseln nach einigen Jahren bewusst ihren Posten, damit sie nicht den Blick des Außenstehenden verlieren. Wie ist es bei Ihnen: Sind Sie ein Stück weit zum Anwalt der Afrikaner in Deutschland geworden?
GRILL | : Natürlich steckt auch viel Herzblut in der eigenen Berichterstattung. Ich wünsche den Afrikanerinnen und Afrikanern nichts mehr, als dass es ihrem Kontinent besser geht. Ich sehe mich eher in der Rolle des Mahners und Beobachters – und nach 30 Jahren in Kapstadt auch als Wahl-Südafrikaner.
Was würden Sie Journalisten in Afrika gerne mit auf den Weg geben?
GRILL | : Die digitale Revolution hat die Berichterstattung enorm beschleunigt. Früher bin ich mit einem Fotografen zwei Wochen in ein Land gefahren. Wir haben mit vielen Leuten gesprochen, beobachtet, Bücher gelesen und dann berichtet. Heutige Kollegen müssen in kurzer Zeit schreiben, filmen, Interviews schneiden. Darunter leidet zwangsläufig die Differenzierung. Das sage ich eher in Richtung der Verlage und Medienunternehmen. Hinzu kommt das Gefahrenmoment. Ich konnte vor 30 Jahren noch überall hinfahren und ungehindert recherchieren. Mein Kollege der Süddeutschen wurde erst letzte Woche in Äthiopien verhaftet, weil er über den Ort eines Massakers berichten wollte. Zum Glück ist er inzwischen wieder frei. Trotzdem: Leute, passt auf euch auf.
Bartholomäus Grill: Afrika! Rückblicke in die Zukunft eines Kontinents. Siedler, 288 S., 22 Euro
Zur Person
Bartholomäus Grill, geboren 1954, wirkte zunächst bei der Mittelbayerischen Zeitung und der taz. Ab 1993 war er Afrika-Korrespondent der Zeit, seit 2013 ist er es für den Spiegel. 2008 bis 2011 war er Herausgeber der Monatszeitung The African Times, der ersten deutschen Zeitung für Afrika in englischer Sprache. ga