Beitrag vom 30.11.2020
FAZ Leserbrief
Der Nobelpreis als Ansporn
Ihr Leserbriefschreiber Dr. Peter Ruhr schreibt am 26. November von einem „entehrten“ Friedensnobelpreis für Abiy Ahmed. Könnte es nicht sein, dass die in der nördlicheren Tigray-Region regierende TPLF (Volksbefreiungsfront von Tigray) den bewaffneten Aufstand angezettelt hat? Zahlreiche TPLF-Politiker haben seit dem Amtsantritt von Abiy Ahmed ihre einflussreichen Posten im Staatsapparat verloren. Bislang besetzten Angehörige der Tigray-Volksgruppe die wichtigsten Posten im Staat, wobei sie nur rund sechs Prozent der Bevölkerung stellen. Als Mengistu 1991 aus Äthiopien floh und die Ethiopian People’s Revolutionary Democratic Front die Macht übernahm, wurde die TPLF die dominierende Partei in Äthiopiens Politik, Wirtschaft und Armee.
Inzwischen wurde bekannt, dass tigrayische Milizionäre das größte bisher bekannte Massaker im Konflikt um die Kontrolle Tigrays zwischen den regionalen Machthabern und Äthiopiens Zentralregierung begangen haben sollen. Die anerkannte äthiopische Menschenrechtskommission (EHRC) spricht in einem am 24. November veröffentlichten Bericht von mindestens 600 Toten als Ergebnis eines „vorsätzlichen und sorgfältig koordinierten“ Angriffs auf die nichttigrayische Bevölkerung des Ortes Mai-Kadra am 9. November. Manche Flüchtlinge in Sudan hatten zuvor gegenüber Journalisten die äthiopische Armee beziehungsweise Milizionäre der Nachbarregion Amhara verantwortlich gemacht, die Mai-Kadra am 10. November eingenommen hatten. Der Bericht stärkt die Position von Äthiopiens Regierung, die ihr Vorrücken in Tigray als unvermeidlich darstellt.
Seit er im April 2018 an die Regierung kam, brach Abiy mit der autoritären Politik seiner Vorgänger. Er ließ Dutzende Vertreter aus Militär und Geheimdienst wegen mutmaßlicher Menschenrechtsverstöße festnehmen. Er beendete den dreißigjährigen Krieg zwischen Äthiopien und Eritrea. Mehrere tausend politische Gefangene wurden freigelassen und korrupte Beamte entlassen. Er hat Äthiopien zudem wirtschaftlich und politisch geöffnet, die ethnischen Unruhen aber (noch) nicht in den Griff bekommen. Das Nobelpreiskomitee hatte die Auszeichnung im vergangenen Jahr auch als Ansporn bezeichnet, den eingeschlagenen Kurs weiterzuverfolgen.
Volker Seitz, Botschafter a. D., Bonn