Beitrag vom 28.11.2020
NZZ
Liberia
Der liberianische Warlord Kosiah steht in der Schweiz vor Gericht
Eine Reise in ein Dorf in Westafrika, wo die Wahrheit begraben liegen soll.
von Michael Schilliger
Der Tag, an den sich die Bewohner Foyas als Black Monday erinnern,
hatte normal angefangen und erst nach dem Mittag eine schreckliche
Wendung genommen. Um etwa 15 Uhr am 28. Juni 1993 hatten die
Rebellen alle Bewohner des Dorfes im Norden Liberias
zusammengetrieben. Noch war es heiss, die Sonne brannte. Vor der alten
Polizeistation mussten sich die Dorfbewohner in Reihen aufstellen. Auf
dem Hügel hinter dem Sandplatz standen Rebellen mit Kalaschnikows.
Ihr Kommandant und einer seiner Helfer, den im Dorf alle «Ugly Boy»
nannten, liefen mit Gewehren durch die Menschenmenge.
Dann trat der Kommandant vor die Dorfbewohner. Er war sehr jung, aber
bereits von vielen gefürchtet. Er sagte nicht viel. Aber an einen Satz
erinnert man sich im Dorf bis heute:
«Alle, die sich noch im Dschungel verstecken, sollen sich zeigen – sonst
wird von denen, die hier auf dem Platz sind, niemand mehr leben.»
Die Rebellen zogen eine junge Frau aus der Polizeistation auf den Platz.
Yeli aus Kanilo. Yeli sei eine Verräterin, erklärten sie den Dorfbewohnern.
Sie sei mit einem Mann zusammen, der dem Feind angehöre. Dann
schnitten sie ihr die Kehle durch.
Yeli war die erste Frau, die in Foya durch die Hände der Rebellen starb.
Aber sie sollte an diesem Tag nicht das letzte Opfer bleiben. Fünfzehn
junge Männer pickten die Rebellen aus den Reihen der Bewohner Foyas
heraus. Sie sollten sich bei der Polizeistation aufstellen.
Teddy Taylor war damals 26 Jahre alt und sah zu, wie die jungen Männer
aussortiert wurden. Teddy war sich sicher: Die Rebellen würden nicht
nur sie, sondern alle auf dem Platz töten. Dann setzte der Regen ein.
Wenn es im Norden Liberias regnet, legt sich eine Decke aus Wasser über
die Welt, unter der alles verschwindet. An jenem Tag war dieser Regen
Schutz. Frauen und Kinder rannten los, vom Platz weg, durch die Gassen
oder die Hauptstrasse entlang, verschwanden in ihren Hütten und
Häusern. Doch Teddy Taylor und die anderen Männer blieben. Vor ihnen
stand Ugly Boy mit einem Maschinengewehr.
«Er befahl uns zu singen, damit er tanzen könne», erinnert sich Teddy.
«Und ich sang. ‹Ugly Boy, uuu-uuu-ugly Boy, ugly booo-ooy!› Ugly Boy
stampfte mit seinen Stiefeln vor uns auf den Boden, er marschierte los,
und wir folgten ihm durch das Dorf, in einer Reihe liefen wir hinter ihm
im Regen und sangen immer weiter. Der Kommandant blieb mit den
fünfzehn jungen Männern zurück.»
Am nächsten Tag lagen die Leichen der jungen Männer zwischen den
Häusern des Dorfes verstreut.
27 Jahre später blickt Teddy Taylor auf das, was von der Polizeistation übrig ist, vor der er einst für Ugly Boy sang. Er ist inzwischen 54 Jahre alt, ein schlanker, grosser Mann, der die Augen meistens skeptisch zusammenkneift. Die Sonne blendet an diesem Novembertag, und
vorbeirasende Motorräder wirbeln Sandwolken auf, die über den Platz treiben. Ich stehe neben Teddy, bin hierhergereist, um zu verstehen, was geschah in diesem Ort, der heute aussieht wie das Paradies, sich aber Anfang der 1990er Jahre für eine kurze Zeit in die Hölle verwandelt hatte.
Der junge Kommandant, der den Dorfbewohnern mit dem Tod gedroht hatte, soll Alieu Kosiah heissen. Das sagen nicht nur Teddy Taylor, sondern auch andere Männer in Foya, die damals im Regen damit
gerechnet hatten, getötet zu werden. Sie sagen auch, Kosiah sei in jenen Monaten für die Rebellengruppe in Foya und damit auch für das BlackMonday-Massaker verantwortlich gewesen. Der Mann, den sie Alieu Kosiah nennen, ist in ihren Augen ein Monster.
Alieu Kosiah ist heute 45 Jahre alt. Kommende Woche steht er in Bellinzona vor dem Bundesstrafgericht. Als mutmasslicher Kriegsverbrecher. Es ist ein historischer Prozess. Nicht nur für die Schweiz, wo zum ersten Mal ein Kriegsverbrecher vor dem Bundesstrafgericht steht. Auch für Liberia. Denn die Männer, die das Land in einen der schrecklichsten Bürgerkriege der Geschichte gestürzt hatten, wurden nie zur Rechenschaft gezogen.
Für die Stammesangehörigen von Alieu Kosiah und seine Freunde ist der Prozess hingegen ein Skandal. Sie sagen, Kosiah sei ein Held. Er habe sie verteidigt, gegen andere Rebellen, die ihr Volk hätten abschlachten wollen. Alieu Kosiah ist in ihren Augen ein Retter.
Natürlich, es gibt eine Anklageschrift zu Kosiah. 42 Seiten Grausamkeiten. Kosiah soll Zivilisten versklavt, vergewaltigt, getötet und das Herz eines Opfers gegessen haben. Aber es gibt dafür keine konkreten Beweise. Im liberianischen Bürgerkrieg gab es keine Todeslisten, keine Organigramme der Rebellengruppen, keine Befehle auf Papier. Es gibt nur Zeugen und Opfer, die erzählen. Es sind Erinnerungen von traumatisierten Menschen. Wie sehr kann man ihren Geschichten trauen? Wie viel haben sie wirklich gesehen? War der junge Mann, den Teddy und andere am Black Monday als Kommandanten beschreiben, tatsächlich Alieu Kosiah oder nicht doch ein ganz anderer
Soldat, der ihm ähnlich sah?
Deshalb stellt die Geschichte von Alieu Kosiah, dem Mann, der ein Monster oder ein Retter sein soll und womöglich gar beides ist, eine viel grössere Frage: Wie viel Wahrheit überlebt den Krieg? Und reichen die Bruchstücke aus, um Gerechtigkeit zu schaffen?
Genf – bei den Jägern
Ein halbes Jahr bevor ich in Nordliberia auf dem Sandplatz stehe, fahre ich dahin, wo Kosiahs Verhängnis seinen Anfang nahm: nach Genf. An einem Nachmittag im Mai 2020 sitzt dort Alain Werner in einem kahlen Sitzungszimmer. Werner ist ein Mann mit halblangem Haar und so viel Energie, dass die Frisur schon früh am Tag aussieht, als ob er sich durch einen Sturm gekämpft hätte. Jetzt fuchtelt Werner wild mit den Händen.
«Wann wurde Kosiah verhaftet, November, Juli? 2014?» Werner wartet nie eine Antwort ab. Er gibt sie selber: «Ich glaube, es war Oktober.»
Neben ihm sitzt ein junger Anwalt mit farbigen Socken. «10. November 2014», sagt er trocken.
«Ah ja, kann sein, kann sein. Es war absurd. Kosiah war untergetaucht, wir wussten er war hier, aber die Polizei brauchte mehrere Monate, um ihn zu finden.»
Genf – bei den Jägern
Ein halbes Jahr bevor ich in Nordliberia auf dem Sandplatz stehe, fahre ich dahin, wo Kosiahs Verhängnis seinen Anfang nahm: nach Genf. An einem Nachmittag im Mai 2020 sitzt dort Alain Werner in einem kahlen Sitzungszimmer. Werner ist ein Mann mit halblangem Haar und so viel Energie, dass die Frisur schon früh am Tag aussieht, als ob er sich durch einen Sturm gekämpft hätte. Jetzt fuchtelt Werner wild mit den Händen.
«Wann wurde Kosiah verhaftet, November, Juli? 2014?» Werner wartet nie eine Antwort ab. Er gibt sie selber: «Ich glaube, es war Oktober.»
Neben ihm sitzt ein junger Anwalt mit farbigen Socken. «10. November 2014», sagt er trocken.
«Ah ja, kann sein, kann sein. Es war absurd. Kosiah war untergetaucht, wir wussten er war hier, aber die Polizei brauchte mehrere Monate, um ihn zu finden.»
Werner, 48, ist das Produkt einer Genfer Juristenfamilie. Der Grossvater war Richter, der Vater ist Anwalt, die Mutter besuchte Gefängnisinsassen für die Kirche. Werner wurde zwar auch Anwalt, «wie es erwartet wurde». Aber er wurde nicht Verteidiger wie es seine Mutter sich wünschte. Er wurde Jäger.
Seit acht Jahren jagt Werner eine Beute, die eigentlich kaum jemanden
interessiert: liberianische Warlords. Das Sitzungszimmer ist die
Kommandozentrale seiner völlig unbekannten NGO. Civitas Maxima,
eine Gruppe aus Juristen, die ausgerechnet einem Land Gerechtigkeit
bringen wollen, zu dem sie gar keine Verbindung haben. Niemand von
Civitas Maxima hat liberianische Wurzeln oder Verwandte in Afrika.
Aber wen sonst auf der Welt kümmert Liberia?
An die Wand im Sitzungszimmer haben Werner und seine Mitarbeiter
ein Whiteboard gehängt. Darauf stehen Abkürzungen. NPFL. Ulimo.
Ulimo-J. Ulimo-K. INPFL. LDF. AFL. Alle stehen für eine Rebellengruppe
im liberianischen Bürgerkrieg. Linien verbinden die Abkürzungen. Es ist
der Versuch der Genfer Juristen, Ordnung zu schaffen, wo Wahnsinn
herrschte. System in eine Geschichte zu bringen, die von Hass und Gier
zerstückelt worden ist.
Für die Geschichte von Alieu Kosiah reicht es, auf zwei Abkürzungen,
zwei Rebellengruppen, zu fokussieren: auf der einen Seite die NPFL,
gegründet von Charles Taylor, in den USA ausgebildet, in den USA aber
auch aus dem Gefängnis ausgebrochen, gierig und skrupellos. Taylor
marschiert mit seiner NPFL 1989 in Liberia ein und stürzt das Land in
einen Bürgerkrieg. Seine Rebellen töten alle, die die Regierung
unterstützen. Vor allem ein Stamm erzürnt Taylor: die Mandingos,
Geschäftsleute und Fahrer, die vom Krieg nichts wissen und einfach
unbehelligt weiterarbeiten wollen. Für Taylor ist das Verrat. Die NPFL
massakriert Tausende Mandingos.
Die Mandingos fliehen nach Guinea und Sierra Leone. Dort sammeln sie
sich und bilden eine neue Miliz namens Ulimo und kehren nach Liberia
zurück. Wo immer sie auf die NPFL von Taylor treffen, rächen sie sich für
die Massaker. Und wo sie auf andere Stämme treffen, von denen sie
annehmen, dass sie Taylors NPFL geduldet haben, töten sie ebenfalls wie
die Wahnsinnigen. Die Wahrheitsfindungskommission, die den
Bürgerkrieg mehr schlecht als recht aufarbeitete, kam zum Schluss, dass
Ulimo Tausende Greueltaten beging. Einer der Kommandanten hiess
Alieu Kosiah. Am Schluss gewinnt trotzdem Charles Taylor und wird in
den ersten Wahlen 1997 zum Präsidenten gewählt. Doch nach kurzer Zeit
bricht ein zweiter Bürgerkrieg aus.
Alain Werner studiert in diesen Jahren, zuerst in Genf, dann in New York,
bis sich 2003 sein Leben mit dem von Charles Taylor zu verweben
beginnt. Taylor flieht in jenem Jahr aus seinem Präsidentenpalast ins
Exil. Die Länder Westafrikas hatten ihn dazu gedrängt, weil er der
ganzen Region nur Ärger bereitet hatte. Er hatte Rebellengruppen in
anderen Ländern unterstützt und so zum Beispiel Sierra Leone in einen
Bürgerkrieg gestürzt.
Im Unterschied zu Liberia will Sierra Leone seinen Krieg aufarbeiten und
richtet einen Sondergerichtshof ein. Die Schweiz schickt dafür junge,
abenteuerlustige Juristen. Werner ist einer von ihnen. Als er sich beim
Aussenministerium bewirbt, glaubt er, er würde nach Osteuropa
geschickt, um dort Wahlen zu beobachten. Stattdessen geben ihm die
Schweizer Behörden ein Ticket nach Sierra Leone, eine schusssichere
Weste, die so schwer ist, dass man sie kaum tragen kann, und ein
Satellitentelefon mit einer Anleitung auf Deutsch, von der Werner kaum
ein Wort versteht. Seine damalige Freundin lacht ihn aus.
In Sierra Leone beobachtet Werner keine Wahlen. Er fährt in Dörfer und
interviewt Menschen, deren Angehörige von Rebellen gefoltert oder
getötet wurden. Ein Einsatz dauert sechs Monate. Werner verlängert
sechs Mal.
Charles Taylor wird schliesslich 2006 verhaftet und an den
Sondergerichtshof überstellt. Werner reist nun in ganz Afrika herum,
sucht Weggefährten von Taylor, «Insider», und versucht sie zu
überreden, gegen diesen auszusagen. Taylor wird zu fünfzig Jahren Haft
verurteilt, doch Werner ist da bereits weiter. In Kambodscha, beim
Prozess gegen die Khmer. Er ist begeistert: Er war beim ersten Prozess
gegen ein afrikanisches Staatsoberhaupt dabei; und nun der erste
Prozess gegen ein kommunistische Regime.
Aber Werner plagt etwas. Er ärgert sich, dass in Sierra Leone keine
Weissen verfolgt wurden. Viele haben sich während des Bürgerkriegs
dort bereichert. Im Waffenhandel, an den Diamanten, am Gold. Niemand
musste sich dafür verantworten.
Und immer wieder erinnert er sich an die Ermittlungen in Liberia.
Charles Taylor wird zwar im Gefängnis sterben, aber nur für Verbrechen,
die er indirekt in Sierra Leone begangen hat. Taylors Opfer in Liberia, mit
denen Werner bei seinen Untersuchungen sprach – niemand interessiert
sich für sie.
2012 gründet Werner deshalb Civitas Maxima mit dem Ziel, den Opfern
in Liberia Gerechtigkeit zu bringen. Werner weiss, dass viele der Täter in
Europa leben. Sie fühlen sich hier sicher. Denn sie kennen einen
unbekannten, aber mächtigen Rechtsgrundsatz nicht: das
Weltrechtsprinzip. Dank ihm kann in fast jedem Staat ein
Kriegsverbrecher angezeigt und vor Gericht gestellt werden.
In Frankreich, Belgien, Finnland und Grossbritannien müssen sich
spezielle Ermittlungsteams plötzlich mit Liberias Geschichte
beschäftigen. 2013 auch in der Schweiz. Werner hatte nicht damit
gerechnet, dass sich hier ein liberianischer Warlord aufhält. Die
liberianische Gemeinschaft in der Schweiz ist klein. Doch Werner erfährt
von einem Mann in der Westschweiz, der im Norden Liberias
Kommandant gewesen sein soll – Alieu Kosiah. Ein Jahr später wird er
von der Schweizer Polizei verhaftet.
Schweizer Anwälte, die Afrikaner verfolgen, die Tausende Kilometer
entfernt Dinge getan haben, die das Land dort nicht aufarbeiten will –
Werner weiss, wie das klingt. Er wehrt sich. «Wir sind keine weissen
Retter.» Doch um das zu verstehen, müsse ich nach Liberia fahren.
Kosiah wäre der erste liberianische Warlord, der für die Taten, die er in
Liberia begangen hat, verurteilt würde. Zum ersten Mal Gerechtigkeit
für Liberianer. Endlich würde sich der Kampf von Alain Werner
auszahlen. Der Fall ist wichtig für ihn. Und für Liberia. Wenn die Zeugen
sich bei ihren Aussagen vor Gericht verheddern, wenn Kosiah
glaubwürdigere Entlastungszeugen aufbietet – «dann käme Kosiah frei,
er würde nach Liberia zurückkehren. Und dann . . .» Werner beendet den
Satz nicht. Als ob er die Gefahr, in der die Zeugen dann schwebten,
verschwinden lassen könnte, wenn er sie nicht ausspricht.
Alain Werner hat keine Zweifel am Prozess gegen Kosiah. Und an dessen
Schuld. Er sagt: «Es sind grässliche Geschichten, die die Zeugen erzählen.
Einer sagt, er habe gesehen, wie Kosiah das Herz eines Opfers gegessen
habe. Kosiah sagt, dass unsere Zeugen lügen. Aber wieso sollten sie
lügen? Wenn Sie selber nach Liberia gehen, werden Sie verstehen, was
ich meine.»
Bern – des Warlords bester Freund
Bevor ich nach Liberia fliege, versuche ich den Verteidiger von Kosiah zu
erreichen. Alain Werner hatte mir erzählt, Kosiah verfolge eine
merkwürdige Verteidigungsstrategie. Er streite kategorisch alles ab. Und
wirke empört über die Anschuldigungen. Die Strategie erstaunt den
Genfer Anwalt. Sie würde nur Sinn ergeben, wenn Kosiah tatsächlich
unschuldig wäre. Aber Kosiahs Anwalt reagiert weder auf meine Anrufe
noch auf meine Mails. Stattdessen finde ich Mourissara Doumbia, einen
Mann, der so etwas wie das Sprachrohr Kosiahs in der Schweiz ist.
Es ist kalt im Bahnhof in Bern an diesem Frühlingstag, Mourissara
Doumbia trägt einen dicken Pullover und eine Lederjacke. Er ist ein
kleiner Mann mit einer leisen Stimme, aber in seinen Augen brennt
Bern – des Warlords bester Freund
etwas: Wut, Verzweiflung.
Doumbia ist seit fast 23 Jahren in der Schweiz. 1997 floh er von Liberia
hierher. Was sein genauer Fluchtgrund war, erklärt er nicht. Er sei ein
Mandingo wie Kosiah, aber er habe selber nie im Krieg gekämpft.
Doumbia lässt auch sonst vieles im Ungefähren. Er war einst
Vorsitzender der Liberian Association in Switzerland, jetzt aber hat er die
Mandingo Association of Switzerland gegründet. Ethnische Konflikte
überleben im Exil manchmal länger als in der Heimat selbst.
Doumbia sagt, er habe Kosiah 1998 in Lausanne kennengelernt. Werner
hatte gesagt, Kosiah sei erst 2000 in die Schweiz gekommen, aber
Doumbia will es besser wissen. Sie hätten sich bei anderen Mandingos
getroffen. Er habe ihn am Namen erkannt. «Natürlich hatte ich von Alieu
Kosiah gehört.» Nach dem Krieg sei Kosiah kurze Zeit in der
Übergangsregierung stellvertretender Polizeichef gewesen. Als Charles
Taylor die Wahlen gewonnen habe, habe er fliehen müssen, sagt
Doumbia. Taylor habe immer noch mit den Mandingos aufräumen
wollen.
Für Doumbia ist Kosiah ein Held. Ein Held der Mandingos. Er habe sie
vor Taylors Rebellen beschützt. Und nicht nur das: Kosiah sei auch ein
feiner Mensch. «Klar, Kosiah war Soldat. Im Krieg tötet man Menschen.
Aber er war a strict, strict, strict fighter. Niemand, der Unschuldige tötet.
Niemals hat er Zivilisten getötet. Jeder, der mit ihm gekämpft hat, sagt
das über ihn.»
Doumbia führt einen verzweifelten Kampf. Er besucht Kosiah
regelmässig im Gefängnis. Will ihn aufmuntern. Er sei Kosiahs bester
Freund hier. Er habe auch versucht, für Kosiah einen anderen Anwalt zu
finden – Kosiah hat bis heute seinen Pflichtverteidiger. Aber das sei
schwierig. Die meisten hätten abgelehnt. Sie kennten sich in solchen
Fällen nicht aus. Und dann sei der Prozess auch noch auf Französisch. Als
in Frankreich der Stellvertreter von Kosiah, Kunti Kamara, verhaftet
worden sei, habe er dessen Anwältin kontaktiert. «Sie wollte 100 000
Dollar. Für unsere Gemeinschaft ist das zu viel.»
Jetzt hofft Doumbia, dass der Prozess endlich stattfindet. Er ist
überzeugt, dass Kosiah freigesprochen wird. «Wieso hätten sie ihn sonst
sechs Jahre im Gefängnis behalten, ohne Prozess?» Er glaubt, die
Schweizer könnten nicht zugeben, dass sie nichts gegen ihn in der Hand
hätten. Dann müssten sie Wiedergutmachung zahlen. Aber weiss er
denn, was in der Anklageschrift gegen Kosiah steht? «Ja, zum Beispiel,
dass Alieu Leute versklavt und gezwungen haben soll, Güter nach
Guinea zu tragen. Dann soll er einen der Träger getötet haben. Aber wir
haben einen Zeugen, der sagt, er habe diesen Mann gesehen. Also den
Mann, den Kosiah getötet haben soll. Lebend! In Liberia! Der Mann ist
am Leben!»
Ich schaue ihn skeptisch an.
«Du glaubst mir nicht. Du hast sicher schon mit Alain Werner
gesprochen? Kein Wunder, glaubst du mir nicht. Dieser Mann ist ein
Lügner. Aber Kosiah ist ein Held. Er und seine Leute haben uns
Mandingos gerettet.»
Monrovia – in Hassans Burg
Retter der Mandingos, Held der Mandingos – es überrascht mich nicht,
dass ein anderer Mandingo so über Kosiah spricht. Aber die Vehemenz
hat mich verunsichert. Und wie soll man überhaupt nachvollziehen
können, wie es damals war, im Krieg, im Dschungel, im Chaos? Wären
die Mandingos vielleicht tatsächlich ausgerottet worden ohne Leute wie
Alieu Kosiah?
Ich folge weiter der Spur von Alieu Kosiah. Rückwärts. Dorthin, wo es
anfing. Ich fliege nach Liberia, in die Hauptstadt Monrovia.
Im Stadtzentrum werde ich von einem Fahrer abgeholt, wir kämpfen uns
durch den Stau, aus der Stadt hinaus, bis wir von der Hauptstrasse auf
eine Sandpiste abbiegen, einem Schiff gleich über Wellen aus Schlamm
und Sand schwappen, zwischen hohem Gras und niedrigen Häusern
hindurch, bis plötzlich zwischen Bäumen eine hohe, graue Betonmauer
auftaucht, mit Stacheldraht belegt und von Kameras gekrönt.
Hier hat ein Mann sein Hauptquartier, dessen Leben mit dem von Kosiah
so sehr verwoben ist, dass es wirkt, als ob sie zusammengehörten,
obwohl sie das beide nicht wollen: Hassan Bility, 48, von allen nur
Hassan genannt, war Journalist, wurde Menschenrechtsaktivist, jetzt ist
er derjenige, der in Liberia die Greuel des Bürgerkriegs dokumentieren
will, bevor sie vergessen gehen.
Das hat ihn in Liberia nicht unbedingt beliebt gemacht. Hassan erhält
Morddrohungen. Manche sagen, er sei von den Weissen gekauft. Aber
Hassan lässt sich nicht beirren. Hassan sagt: «Mein Vater hat mir
beigebracht, das zu tun, was richtig ist. Ich kann nicht anders.»
Hassan ist ein Mandingo wie Kosiah und kam in Nordliberia in derselben
Stadt wie Kosiah zur Welt. Anders als Kosiah wuchs er zwar in Monrovia
auf, seine Brüder aber blieben in Nordliberia und wurden Kameraden
von Kosiah, «sie kennen sich gut». Hassan sah Kosiah nur, wenn er in
den Ferien seine Grosseltern besuchte. «Ich kannte ihn, er kannte mich.»
Hassan floh nicht nach Sierra Leone und kämpfte nie für die Rebellen
von Ulimo oder die Sache der Mandingos. Aber er weiss, was es hiess, im
Krieg ein Mandingo zu sein.
Er harrte während des Kriegs in Monrovia aus, legte sich einen anderen
Namen zu, damit er nicht als Mandingo erkannt wird. Er stand daneben,
als ein Freund, der eigentlich gar kein Mandingo war, aber an einem
Checkpoint für ein Mandingo gehalten wurde, ohne Diskussion
erschossen wurde.
«Seither fühle ich mich schuldig», sagt Hassan heute. Er sitzt in seinem
Büro in der Dschungelburg, die Wände in dunklem Grün, am Boden ein
abgewetzter Spannteppich, und blickt abwesend aus dem Fenster.
Nach dem Krieg schreibt Hassan als Journalist wütende Artikel und
landet dafür sieben Mal im Gefängnis. «Ich fand es unfair, dass Charles
Taylor, der den Bürgerkrieg angezettelt und so viele Leute getötet hatte,
nun Präsident war.» 2002 kommt Hassan zum siebten Mal aus dem
Gefängnis und geht in die USA ins Exil, aber er gibt nicht auf. Im Prozess
gegen Taylor am Sondergerichtshof für Sierra Leone sagt er als Zeuge
aus. Und fällt dort einem idealistischen Schweizer Anwalt auf: Alain
Werner.
2009 veröffentlicht die Wahrheitskommission in Liberia ihren Bericht
über den Bürgerkrieg, doch nichts geschieht. Hassan will nicht länger in
den USA sitzen und aus der Ferne beobachten, wie ehemalige Warlords
für die Präsidentschaft kandidieren. Zur selben Zeit gründet Alain
Werner in Genf Civitas Maxima. Er sucht Leute, die in Liberia «on the
ground» ermitteln können. Er erinnert sich an Hassan, und dieser
gründet in Monrovia das Global Justice and Research Project.
Das Prinzip ist simpel: Hassan findet heraus, in welchen Ländern sich
die Warlords aufhalten, sucht in Liberia Zeugen, und die Genfer von
Civitas Maxima zeigen die mutmasslichen Verbrecher in Europa an.
Zuerst trifft das ein paar Kommandanten und Angehörige von Charles
Taylor. Dann erinnert sich Hassan an ein unangenehmes Treffen, das ein
paar Jahre zurückliegt.
Hassan sass mit Alain Werner in Monrovia in der Lobby des Hotels Royal,
als sich plötzlich ein Mann näherte, den Hassan lieber nie mehr gesehen
hätte. «Ich erkannte ihn sofort: Er hatte mich bei der letzten meiner
sieben Verhaftungen gefoltert. Nun grüsste er mich ganz unbeschwert.»
Neben dem Folterknecht stand ein anderer Mann: Alieu Kosiah. Hassan
und Kosiah grüssten sich kurz wie alte Bekannte, aber sie redeten kaum.
Damals dachte Hassan nicht weiter über Kosiah nach. Aber nun schickt
er seine Ermittler in die Gegend, in der Kosiah gekämpft haben muss.
Über sein Mandingo-Netzwerk erfährt er, dass Kosiah schon länger in
der Schweiz leben soll. In der Schweiz zeigt Alain Werner Kosiah an, und
die Falle schnappt zu. Nach der Verhaftung Kosiahs in der Schweiz erhält
Hassan Morddrohungen. Für die Mandingos ist er nun ein Verräter. Das
Büro seiner NGO muss vom Stadtzentrum in das Dschungelfort verlegt
werden. Aber Hassan lässt sich nicht beirren. «Ich habe Gott nicht
darum gebeten, ein Mandingo zu sein.»
Kosiah und Hassan stehen sich bei den vorgerichtlichen Verhandlungen
nochmals gegenüber. Kosiah fragt Hassan, ob er denn gesehen habe, wie
er, Kosiah, getötet habe. Hassan sagt, das habe er nicht. Aber sie hätten
viele Zeugen, die das bestätigen würden. «Es war emotional.»
Kosiah ist für Hassan kein Monster. Aber ein Verbrecher – vermutlich.
«Aber du als Journalist, du darfst mir nicht trauen. Ich bin parteiisch. Du
musst direkt mit den Leuten in Foya reden.» Hassan scheint froh zu
sein, dass er das Urteil nicht selber fällen muss.
Er gibt mir einen letzten Tipp. Ich müsse Alhaji Kromah treffen, den
Gründer der Rebellengruppe Ulimo, für die Kosiah gekämpft hat. Er gibt
mir seine Telefonnummer. «Er muss Kosiah kennen. Er war sein Chef.
Sag einfach nicht, dass ich dich geschickt habe. Oder dass du mich
kennst.»
Monrovia – der alte Mann
In Congo Town, einem Stadtteil im Osten Monrovias, liegen Botschaften
hinter hohen Mauern mit Stacheldraht. Dazwischen eine holprige
Staubpiste mit Schlaglöchern. Und irgendwo, in einem der Häuser, lebt
Alhaji Kromah, der Mann, der Ulimo gründete.
Kromah war Informationsminister und Chef des staatlichen Fernsehens.
Dann, als Charles Taylor einmarschierte, floh er, wie viele Mandingos,
nach Guinea und Sierra Leone. Dort reiste er von Flüchtlingslager zu
Flüchtlingslager. Ein ehemaliger Ulimo-Soldat hat mir erzählt, wie
Kromah ihn rekrutiert hat: «In der Stadt Kenema in Sierra Leone lief er
im Lager herum und sagte zu uns: ‹Sie haben unsere Eltern getötet, in
den Moscheen. Und wir konnten sie nicht beerdigen. Wir müssen
zurückkehren und Liberia befreien, damit wir unsere Vorfahren
beerdigen können. Schliesst euch Ulimo an!›»
Hassan hat Kromah als gebildeten Mann beschrieben. «Ein Philosoph. Er
redet viel.» Aber er war auch der Chef einer Armee, deren Soldaten die
Herzen ihrer Opfer verspeist haben sollen.
In Monrovia heisst es, Kromah sei krank. Jeder in der Stadt scheint das
zu wissen. Aber wie krank er wirklich ist, weiss niemand. Ich klopfe ans
Tor seines Hauses in Congo Town, und ein kleiner Mann öffnet.
Eigentlich sei Chief Kromah zu krank für Besuch, erklärt er mir. Aber ich
solle im Wohnzimmer warten. Drei grosse Ledersofas, ein Glastisch und
ein paar Stühle aus einer Flughafenlobby. An der Decke Schimmel und
Wasserschäden.
Ich warte lange, dann kehrt der Mann zurück. Ich müsse zuerst mit dem
Sekretär reden. Der Sekretär müsse meine Mission abklären. Erst vor
kurzem habe sich ein junger Mann als Journalist ausgegeben, sei so zu
Kromah gelangt, habe von diesem ein Foto gemacht und es auf Facebook
gestellt. Chief Kromah habe sich ausgenutzt gefühlt.
Der Sekretär ist ein junger Mann in einem engen Anzug. Am einen
Ärmel hängt ein Schild mit einem Armani-Logo. Er ist misstrauisch, aber
schliesslich führt er mich durch einen Gang ins Schlafzimmer von Alhaji
Kromah.
Kromah sitzt in einem Rollstuhl vor seinem Bett. Unter dem Bett liegt
ein langes Messer, in einer Vertiefung in der Wand hängen Dutzende
farbige Hemden. Es läuft CNN auf einem grossen Fernseher, und ein
Ventilator treibt die feuchte Luft durch den Raum.
Kromah muss wohl einen Schlaganfall gehabt haben. Seine linke Hand
ist gekrümmt, in der anderen hält er verkrampft ein Fläschchen Wasser
und nuckelt an einem Röhrchen. Aber Kromah will reden.
Seine Stimme ist kaum hörbar, ich sitze zu seiner rechten Seite und
halte mein Ohr nahe an seinen Mund, der Sekretär sitzt rechts von ihm
und tut es mir gleich.
«Herr Kromah, wieso haben Sie Ihre Rebellengruppe gegründet?
«Wir waren keine Rebellen. Wir waren Flüchtlinge in Sierra Leone. Und
wir mussten zurückkehren. Aber sie wollten uns töten, weil wir Muslime
waren. Sie wollten uns alle töten.»
«Das bestreitet niemand. Aber die Wahrheitskommission kam zum
Schluss, dass Ulimo fast 8000 Kriegsverbrechen begangen hat. In der
Schweiz wird Alieu Kosiah, einer Ihrer Kommandanten, deswegen vor
Gericht gestellt . . .»
Er unterbricht mich, die Stimme ist plötzlich laut. «Was soll das sein: ein
Kriegsverbrechen? Erklär’s mir!»
«Er soll zum Beispiel Zivilisten getötet haben. In Foya Leute versklavt
haben. Das Herz eines Opfers gegessen haben.»
«Ulimo war die Rettung für die Leute!»
«Die Rettung?»
«Wir retteten die Leute vor Charles Taylor. Das ist die Wahrheit. Das
andere ist Propaganda von Taylor. Wir wollten ja gar keinen Krieg. Wir
flohen vor ihm. Er hat das gestartet.»
«Aber könnte Alieu Kosiah Kriegsverbrechen begangen haben?»
«Kosiah war ein gebildeter Junge. Stolz, sehr smart. Aber auch sehr
mitfühlend. Die Dinge, von denen ich gehört habe, dass er sie getan
haben soll – das meiste sind ganz gewöhnliche Praktiken eines Soldaten.
Es sind Dinge, die man einem Kämpfer sogar vorwerfen können muss,
sonst hat er seinen Job nicht gemacht. Und wenn man einen anklagt,
klagt man alle an. Vor allem: Die Zeugen, die da jeweils vorgebracht
werden, die können gar nicht sagen, wer wirklich was getan hat.»
«Was würden Sie sagen, wenn sie herausfänden, dass Kosiah tatsächlich
solche Kriegsverbrechen begangen hat?»
«Ich würde sagen: Nein, nein, das kann nicht sein. Er steht jetzt vor
Gericht, weil er ein Mandingo ist. Es ist ein Prozess, der nur auf Zeugen
beruht. Und diese Zeugen sehen vor sich einen Mandingo, also muss er
schuldig sein. Ich bin ja selber Anwalt. Die meisten Dinge, die geschehen
sind, liegen zu weit zurück.»
«Aber für die Opfer gibt es bis heute keine Gerechtigkeit.»
«Gerechtigkeit ist schwer zu finden. Viele, die man jetzt beschuldigt,
sind Leute, die die Bewohner von Foya beschützt haben vor der NPFL.
Wir mussten uns verteidigen.»
«Aber fast eine Viertelmillion Menschen kam ums Leben. War es das
wert? Wenn Sie auf diesen Krieg zurückblicken . . .»
Er unterbricht mich, aber seine Antwort ist kaum zu verstehen. «Er war
gerechtfertigt. Der Krieg» – er macht eine lange Pause – «war
gerechtfertigt.» Die letzten Worte sind nur ein Flüstern.
Der Sekretär unterbricht: «Genug jetzt, es ist genug jetzt. Der Professor
ist müde.»
Foya – das Paradies, das zur Hölle wurde
«Hier», Teddy Taylor, der Mann, der einst für Ugly Boy im Regen sang,
zeigt auf den Boden unter unseren Füssen, «hier sind Leute begraben.
Viele Leute.» Ich schaue ihn skeptisch an. Teddy sieht, dass irgendetwas
nicht stimmt. Er hat mir bereits den ganzen Morgen vom Black-MondayMassaker erzählt. Eindringlich. Manchmal schrie er fast, wenn er Dinge
wiederholte, weil er spürte, dass mich seine Geschichte überforderte.
Dabei glaube ich ihm ja. Aber wir stehen mitten in Foya vor einem
Mangobaum, auf der Kreuzung zweier Sandpisten, Frauen mit Kindern
schlendern vorbei, irgendwo rattert ein Generator. Das hier soll ein
Massengrab sein? «Glaub mir, ich bin sicher. Ich habe selber geholfen,
sie zu begraben.»
Foya war nicht einfach zu erreichen. Neun Stunden dauerte die Fahrt mit
dem Motorradtaxi von Monrovia in den Norden Liberias, neun Stunden
über eine vom Regen ausgeschwemmte Sandpiste, durch Wälder, die nie
aufhören wollten, vorbei an Lastwagen, deren Räder der Schlamm
verschlungen hatte und die nun mühsam von Hand ausgegraben werden
mussten. Als ich in Foya in der Dunkelheit vom Motorrad stieg, dachte
ich kurz, wie abgeschnitten von der Welt dieser Ort während des Kriegs
gewesen sein musste, wenn er selbst heute nur so mühselig zu erreichen
war. Wenn man etwas hätte tun wollen, von dem niemand hätte
erfahren dürfen – es hätte keinen besseren Ort gegeben.
Ich laufe mit Teddy im Dorf herum, frage mich von einem Bewohner
zum nächsten. Jeder hat in Foya eine Geschichte vom Bürgerkrieg zu
erzählen. Viele wollen Kosiah gekannt haben. Oder zumindest gewusst
haben, dass er hier Kommandant war. Aber so ganz genau wissen sie es
meistens doch nicht, es ist immerhin fast dreissig Jahre her.
Dann treffe ich Hawana Nathanael. Sie erzählt in der lokalen Sprache
Kissi:
Ich bin ungefähr siebzig Jahre alt. Ich habe sechs Kinder, sieben
Grosskinder. Als der Krieg kam, rannten wir in den Dschungel und
versteckten uns. Aber sie fanden uns und brachten uns in Gruppen zurück
ins Dorf. Sie steckten meinen Mann, seinen Bruder und mich mit den
Kindern in ein Haus, aber schon nach kurzer Zeit schlugen sie wieder gegen
die Tür, brachen sie auf und zogen uns alle auf den Platz bei der
Landebahn. Ich musste mich ausziehen, ganz nackt, und wir mussten uns
in einer Reihe aufstellen.
Ein Mann sass an einem Holztisch direkt gegenüber von mir, ganz nah. Ich
verstand nicht, was er sprach. Er redete eine andere Sprache. Aber die
anderen Soldaten sprachen ihn immer mit Chief Kosiah an.
Der Mann sagte etwas, dann nahmen die Soldaten meinen Mann zur Seite.
Sie nahmen eine Eisenstange und banden ihm so die Knie und die Arme
hinter dem Rücken zusammen. Der Mann sagte wieder etwas, und die
Soldaten nahmen einen Kessel mit kochendem Wasser von einem Feuer,
das brannte. Sie leerten das kochende Wasser über meinen Mann. Er schrie.
Ich und meine Kinder schauten zu. Mein Mann schrie, aber er starb nicht.
Wir flehten, dass sie ihn freilassen sollten. Ich sagte: «Ihr seht ja, er stirbt
so nicht, lasst ihn doch gehen.» Aber der Mann am Holztisch sagte Nein.
Mein Mann betete laut. Ich betete auch. Dann sagte der Mann am
Holztisch wieder etwas, was ich nicht verstand. Ein Soldat kam mit einem
Gewehr, ich schaute weg, ein Schuss fiel, und mein Mann war tot. Ich weiss
nicht, wer ihn erschossen hat, aber der Mann am Holztisch muss den Befehl
gegeben haben.
In dem Moment geschah ein Wunder. Ein Blitz fuhr auf, und es wurde ganz
dunkel. Ich glaube, wegen des Blitzes liessen sie uns gehen und töteten
mich und meine Kinder nicht. Sie töteten auch den Bruder meines Mannes.
Ein anderer Mann überlebte, aber er hat bis heute Schmerzen. Sie schlugen
ihm einen Nagel in die Schulter und hackten ihm mit dem Messer in den
Nacken. Dann schossen sie auf ihn, aber der Schuss hat ihn nicht getötet, er
brach einfach zusammen.
Ich habe das überlebt, aber ich fühle mich wie tot. Ich wollte zurück in den
Busch, aber meine Familie sagte, ich müsse für meine Kinder bleiben. Auf
dem Weg zu meinem Feld laufe ich jeden Tag an dem Ort vorbei, wo sie
meinen