Beitrag vom 19.11.2020
the pioneer.de
Deutschlands falsche Afrika-Politik : Warum wir kein Entwicklungsministerium brauchen
Der ehemalige Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Uganda, Albrecht Conze, formuliert sieben Thesen für eine Reform unserer Entwicklungspolitik.
Sie lässt sich nicht auf drastische Bilder reduzieren, die uns jeden Sommer erreichen. Denn unter deren Oberfläche sind seit dem Beginn des Jahrhunderts tektonische Verschiebungen im Gange, deren Ausmaß und Bedeutung wir gerade erst anfangen zu begreifen.
Niemand in Deutschland hat dies klarer erfasst als Afrikas wichtigster Anwalt bei uns, der frühere Bundespräsident Horst Köhler. Zwar konstatiert er mehr politische Aufmerksamkeit für den Kontinent, ablesbar unter anderem an der höheren Reisefrequenz der Bundeskanzlerin: sie bereiste Afrika in den letzten fünf Jahren achtmal. Ein halbes Dutzend Bundesministerien, so Köhler, hat eigene Afrika-Strategien, „so viele, dass ich in Afrika darüber bisweilen Verwirrung feststelle“.
Zu Recht kritisiert er, dass wir Afrikapolitik allzu häufig in einem Atemzug mit dem Modewort Fluchtursachenbeka?mpfung nennen:
Das ist ein viel zu enger Blick auf das Verha?ltnis der beiden Nachbarkontinente.
Deutschland wird bei der Bestimmung von Europas künftiger Haltung gegenüber Afrika eine zentrale Rolle einnehmen müssen. Unter den Fachleuten hat die Diskussion darüber längst begonnen.
Jetzt ist es Zeit dafür, dass sie breitere Aufmerksamkeit findet.
Wie können und sollen wir uns positionieren, um im europäischen Kontext die Chancen und Risiken der wachsenden Nähe zwischen den Nachbarkontinenten korrekt, gelassen und vorurteilslos zu erfassen? Welche strategischen Schlüsse sollten wir ziehen?
Meine Generation hat die erste Welle der Dekolonisierung um 1960 als eines der großen Ereignisse ihrer Kindheit erlebt. Plötzlich tauchten junge Afrikaner an unseren Universitäten auf. Sie kamen aus neuen Ländern, von denen im damals zutiefst provinziellen Deutschland noch niemand gehört hatte. Ich hatte Glück, denn ein Medizinstudent aus Ghana wohnte im Nachbarhaus und schenkte mir bunte Briefmarken.
Es folgte ein halbes Jahrhundert guter deutscher Taten, überall in Afrika verbunden mit den bewunderten Abkürzungen GTZ (heute GIZ) und KfW. Also der Gesellschaft für Technologische Zusammenarbeit (GTZ) und der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW).
Wie der gesamte Westen – und zu ihm in Konkurrenz die Sowjetunion und ihre Vasallen – bemühten wir uns redlich, Afrika zu entwickeln. Wir dachten, wir könnten das.
Zum Glück ist diese Illusion zerstoben, und wo wir noch Überreste von ihr sehen, wird es höchste Zeit zum Abschied von altem Denken. Afrika entwickelt sich nach eigenen Gesetzen und wartet nicht mehr auf uns. Obwohl Deutschlands Diplomaten dies seit Jahren nach Hause berichten, scheint es im politischen Berlin immer noch nicht überall eingesunken zu sein. Haben wir unsere Analysen nicht klar genug verfasst, oder gibt es zu viele Leute, die sie nicht hören wollen?
Was an unserer Afrika-Politik in Berlin wie in Brüssel falsch ist, geändert werden kann und geändert werden sollte, sei hier in sieben Thesen zusammengefasst.
1. Die Aufstellung der Bundesregierung gegenüber Afrika entspricht nicht mehr der Realität des Kontinents.
Das nach der Dekolonisierung der 60er Jahre entstandene Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) sollte deshalb abgeschafft werden. Die Kompetenz für die Afrikapolitik sollte ausschließlich beim Auswärtigen Amt liegen und die Rolle der Botschaften bei ihrer Implementierung gestärkt werden. Hierzu mache ich hier einen konkreten Vorschlag. Bei den nächsten Koalitionsverhandlungen in einem Jahr könnte er als Denkanstoß dienen.
2. Fluchtursachenbekämpfung ist notwendig, aber nicht unser einziges Interesse an Afrika und seiner Entwicklung.
Die Diskussion über den Kontinent wird viel zu sehr von der Furcht vor Massenmigration über das Mittelmeer beherrscht. Sie behindert die notwendige Analyse der vielen wirtschaftlichen Chancen, die die deutsche und europäische Wirtschaft in Afrika liegen lassen. Während von Chinas Auslandsinvestitionen 15 Prozent nach Afrika gehen, bleibt Deutschland mit weniger als einem Prozent seiner Direktinvestitionen auf dem rohstoffreichen Nachbarkontinent weit zurück. Können wir uns das wirklich leisten angesichts des Potentials der von Jahr zu Jahr besser qualifizierten jungen Mittelklassen in Afrika?
Nur ein aktuelles Beispiel: Hat das bei der Wasserstoffstrategie der Bundesregierung federführende Bundeswirtschaftsministerium die Chancen für Produktion von grünem Wasserstoff in Afrika analysiert?
Es wäre höchste Zeit dafür.
3. Wir täten besser daran, unsere Unterstützung Afrikas auf Bildung und Erziehung zu konzentrieren.
Das ist zwar ein long shot, der großer Geduld und Zähigkeit bedarf. Doch ist die Bemühung darum unerlässlich. In vielen Staaten Afrikas haben Schul- und Hochschulbildung sich trotz jahrzehntelanger Entwicklungshilfe nur geringfügig verbessert. Die hohen Geburtenraten erschweren den Weg zusätzlich. Erst wenn alle Mädchen möglichst lange zur Schule gehen, wird Afrika sich ganz emanzipiert haben. Dann können wir, mit etwas Verzögerung, auch unsere Hilfe beenden.
4. Wir haben in den letzten Jahren gegenüber China ständig an Gewicht verloren und sollten das ändern.
China schert sich weder um das 0,7 Prozent-Ziel noch um die aktuellen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen, die Sustainable Development Goals. Es handelt machtpolitisch und schafft Abhängigkeit. Die Hilferufe afrikanischer Präsidenten und Minister an Europa werden lauter: Wo seid Ihr? Wir wollen nicht mit den Chinesen arbeiten, aber wir haben keine Wahl.
Europa schiebt die Entscheidung vor sich her, ob die EIB oder die EBRD beauftragt werden soll, den zur Zeit fast aussichtslosen Konkurrenzkampf mit den chinesischen Entwicklungsbanken aufzunehmen.
Überspitzt gesagt: China klotzt, wir kleckern.
Neuerdings hat Corona zwar den chinesischen Motor verlangsamt, doch wird er vermutlich nicht lange stottern. Aber die Chance zur Rückgewinnung verlorenen Terrains besteht jetzt. Wir sollten sie nutzen.
5. Wir sollten die Einteilung der Staaten Afrikas in „gute“ und „weniger gute“ nicht übertreiben.
Das BMZ macht die Aufnahme in die Sonderförderung im Rahmen des Compact with Africa von einer Reihe von Parametern des Wohlverhaltens abhängig, die in Afrika schwer zu vermitteln sind. Die Einteilung war gewiss gut gemeint, hat aber außenpolitischen Schaden in Ländern angerichtet, die nicht zum Kreis der inzwischen zwölf Guten gehören. Warum verstehen wir immer noch nicht, dass unsere nördlichen Qualitätsurteile in Afrika als hochmütig aufgefasst werden und zu Verletzungen führen? Die afrikanische Kultur ist von Solidarität geprägt. Jeder muss essen dürfen. Die Chinesen, die sonst von Afrika nicht viel begreifen, haben zumindest das verstanden.
6. Unsere Betonung von ownership und Selbstverantwortung der Afrikaner ist oft nur ein Lippenbekenntnis.
Fürsorgliches, unbewusst postkoloniales Denken beherrscht weiterhin viele Köpfe und scheint uns schwer auszutreiben zu sein. Noch einmal mit Horst Köhlers Worten: „Immer noch zu oft erscheint Afrika in Europa als Objekt wohlwollender Sorge.“ Aus schlechter alter Gewohnheit heben wir schnell den Zeigefinger, wenn afrikanische Staaten nicht nach dem Lehrplan der westlichen Demokratien handeln.
Auf ihren Unwillen, unsere Modelle von Rechtsstaat und Demokratie zu übernehmen, antworten wir mit Programmen zur Stärkung der Zivilgesellschaft. Das mag nobel sein, stellt uns aber realpolitisch schnell ins Abseits. Wir fallen damit Regierungen auf die Nerven, die gern mit uns arbeiten würden. Ob sie jeweils mehr oder weniger korrekt gewählt worden sind, sei dahingestellt. Aber ist es ans uns, hier Zensuren zu verteilen? Die neuen Mittelklassen überall in Afrika werden die big old men über kurz oder lang selbst aufs Altenteil schicken. Sie werden das nach ihrem eigenen Rhythmus tun.
Die europäische und afrikanische Population in Milliarden und prozentual zur Weltbevölkerung
7. Und schließlich: Wir müssen uns nicht täglich schämen.
Es ist gut, dass wir heute mehr als bisher über die kurze Gastrolle des Deutschen Reichs im Club der früheren Kolonialmächte nachdenken. Doch haben wir unsere Kolonien schon vor hundert Jahren verloren – von heute aus gesehen ein Glücksfall der Geschichte. Gesten der Einsicht und Demut können nötig und sinnvoll sein. So hat man im Kongo mit Genugtuung die Erklärung König Philippes von Belgien registriert, der unlängst klare Worte zur Kolonialpolitik seines Vorfahren Leopold gefunden hat.
Und so versucht Deutschland seit einigen Jahren, die gegenüber Namibia angemessene Haltung zu finden, wo General von Trotha 1908 Tausende von Herrero in den Tod getrieben hat.
Sicher: Wir müssen uns unserer Geschichte stellen.
Das kann aber nicht heißen, dass wir uns plötzlich ein Joch auf die Schultern legen und in Afrika ein Büßerhemd tragen müssten. Es wäre fatal, uns unsere afrikapolitischen Prioritäten von lärmenden Interessengruppen kenntnisloser Bilderstürmer diktieren zu lassen. Wir sind gut beraten, historische Lasten und heutige politische Interessen nicht miteinander zu vermengen. Das erwartet in Afrika übrigens auch niemand von uns.
Unter den Kennern Afrikas im Auswärtigen Amt gibt es überwiegend Zustimmung zu diesen Thesen. Doch steht das BMZ mit seiner von Erhard Eppler begründeten und bis heute nicht verschwundenen gesinnungsethischen Tradition einer modernen deutschen Afrikapolitik immer wieder im Weg.
Wer bei uns in den letzten Jahren an den mühsamen Versuchen beteiligt war, praktikable Afrika-Leitlinien der Bundesregierung zu formulieren, weiß ein Lied davon zu singen. Das im BMZ immer noch vorhandene Übermaß an Ideologie kollidiert häufig mit unseren außenpolitischen Interessen.
Die meisten westlichen Länder haben im Laufe der letzten zehn bis fünfzehn Jahre ihre entwicklungspolitischen Strukturen modernisiert. In den Regierungen Skandinaviens, der Niederlande, Kanadas und Australiens wurden die Ressorts neu aufgeteilt. Dort wird Entwicklungspolitik heute meist mit Handelspolitik verknüpft. Der politische Protestantismus ist bei den meisten klassischen „Gebern“ dadurch ein Stück pragmatischer geworden. Wir sollten nicht länger zögern, diesen Beispielen zu folgen. Heinrich Heines Luftreich des Traums, in dem viele Klienten des BMZ es sich bequem eingerichtet haben, kann nicht ad infinitum fortbestehen.
Wie können wir uns besser ausrichten?
Eine Änderung der noch aus den Tiefen der Bonner Republik stammenden Organisation der Bundesregierung könnte dem nicht mehr zeitgemäßen missionarischen Reflex einen Teil seiner schädlichen Wirkung nehmen.
Das Auswärtige Amt ist innerhalb der Bundesregierung zuständig für geopolitische Reflexion, Analyse und Standortbestimmung sowie für die Durchsetzung unserer nationalen und europäischen Interessen. Es hat die hierfür erforderliche intellektuelle Kapazität und weltpolitische Erfahrung. Dem sollte auch die weltweite Zuständigkeit für Entwicklungspolitik als Teil der Außenpolitik entsprechen. Das gilt für alle Kontinente.
Wenn das BMZ sich de facto als Afrikaministerium geriert, widerspricht das der Geschäftsordnung der Bundesregierung.
Der deutsche Hang zu geopolitischer Abstinenz hat dem BMZ über die Jahre einen Zuwachs an Aufgaben beschert, für den es nicht geschaffen wurde und dem es nicht gewachsen ist.
Allzu oft tritt in der Außenwirkung Deutschlands Entwicklungspolitik an die Stelle der Außenpolitik.
Für das kollektive Gewissen mag es bequem sein, Politik gegenüber ärmeren Ländern auf Entwicklungspolitik zu reduzieren und so zu tun, als ob man keine Interessen habe. Doch ist es weder ehrlich noch zeitgemäß. Es zeugt auch nicht von besonderem Respekt gegenüber Staaten der immer noch so genannten Dritten Welt.
Was könnte mit der Abschaffung des BMZ bewirkt werden?
• Wir versammeln die Kompetenz für Außenpolitik in allen ihren Ausprägungen wieder im Auswärtigen Amt. Spiegelbildlich stärken wir die Botschaften, die derzeit kaum Einfluss auf die Entwicklungspolitik haben.
• Wir unterscheiden zwischen außenpolitischer Grundsatzarbeit einerseits und programm- und projektbezogenen Durchführungsaufgaben andererseits. Nur erstere gehören in ein Ministerium.
• Alle Durchführungsaufgaben einschließlich sämtlicher Aufgaben des BMZ (bis auf die der Grundsatzreferate) werden auf eine nachgeordnete Behörde übertragen, die neu zu gründende Bundesagentur für internationale Zusammenarbeit (BAIZ).
• Zum Ende der laufenden Legislaturperiode wird das BMZ aufgelöst. Der weitaus größte Teil seiner Aufgaben und Bediensteten wird in die BAIZ überführt. Eine kleine Zahl von Grundsatzreferaten wird Teil einer neu zu formierenden Abteilung für Entwicklungspolitik im Auswärtigen Amt.
• Die BAIZ wird politisch von einem Staatsminister im Auswärtigen Amt (Modell DFID, vor dessen jüngster Abschaffung) und administrativ von einem Generalsekretär geleitet.
• Der BAIZ obliegt unter der politischen Leitung des Auswärtigen Amtes die Durchführung der entwicklungspolitischen Aufgaben der Bundesregierung.
• Spiegelbildlich werden die Landesdirektoren von GIZ und KfW stärker an die Botschaften angebunden. In Grundsatzfragen unterliegen sie dem Weisungsrecht der Missionschefs.
• Um die starre Bindung der BMZ-Mittel an lange im voraus festgelegte Zweijahresprogramme zumindest etwas zu lockern und den Botschaften bei Bedarf eine rasche Reaktion auf Entwicklungen in den jeweiligen Gastländern zu ermöglichen, wird ein Prozent der Gesamtsumme der jährlichen BMZ-Mittel den Missionschefs zur Verfügung gestellt. Die Kriterien der Verausgabung müssen den Anspruch auf Flexibilität ebenso reflektieren wie die allgemeinen haushaltsrechtlichen Grundsätze.
Das effiziente und erfolgreiche britische Modell FCO/DFID – jüngst aus politischen Gründen abgeschafft – sollte bei der Konzeption dieser Neuausrichtung ebenso studiert werden wie die Lösungen anderer uns nahestehender Staaten des „Nordens“, die ihre entwicklungspolitischen Strukturen in den letzten Jahren bereits reformiert haben.
Wir stehen ein knappes Jahr vor der nächsten Bundestagswahl.
Zeit genug für eine breite Diskussion über eine Neujustierung unserer außen- und entwicklungspolitischen Interessen, Prioritäten und Methoden.
Zeit genug auch um Mut zu sammeln gegenüber vielen etablierten Interessen, die sich der Modernisierung gewiss entgegenstellen werden. Man kann und muss das aushalten.