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Beitrag vom 11.07.2020

FAZ.NET

BEVÖLKERUNGSWACHSTUM: Afrikas demographisches Dilemma

Bis zum Ende des Jahrhunderts leben elf Milliarden Menschen auf der Erde. Vor allem in Afrika steigt die Zahl. Was bedeutet das für den Kontinent und seinen Nachbarn Europa – auch im Hinblick auf das Coronavirus?

VON MARTIN FRANKE

Bald hat jeder von uns 7,8 Milliarden Mitbewohner auf der Erde: In jeder Sekunde werden vier Menschen geboren, während zwei sterben. In einem Jahr kommen mehr als 60 Millionen Menschen dazu. Ende dieses Jahrhunderts könnten bis zu 11 Milliarden den Planeten bewohnen. Erst dann sagen Demographen einen Rückgang der Weltbevölkerung voraus. Der 11. Juli ist Weltbevölkerungstag. Seit 1989, als die Marke von fünf Milliarden Menschen erreicht wurde, wird an diesem Tag auf die Auswirkungen der Bevölkerungsentwicklung aufmerksam gemacht.

Damit eine Gesellschaft ohne Migration auf einem konstanten Niveau gehalten werden kann, muss jede Frau rein rechnerisch 2,1 Kinder zur Welt bringen. Diese Zahl wird in Europa heutzutage in keinem Land mehr erreicht – in Deutschland gibt es pro Frau durchschnittlich 1,57 Geburten, in Frankreich 1,92, in Italien gerade einmal 1,34. Weltweites Schlusslicht bildet Südkorea mit 1,11 Geburten pro Frau. Ohne Zuwanderung würde Deutschland freilich seit 1970 schrumpfen.

Welche Folgen hat das Coronavirus?

In den meisten Ländern Afrikas hingegen sieht der Trend (noch länger) umgekehrt aus. 1,3 Milliarden Menschen leben dort, bis 2050 könnten es doppelt so viele sein, 2100 mehr als 4 Milliarden. Der Anteil von Afrika an der Weltbevölkerung wird von heute 14 Prozent auf 22 Prozent im Jahr 2050 steigen, schätzen die Vereinten Nationen. Auch danach wird der Anteil voraussichtlich weiter zunehmen. Vor allem Nigeria, Kongo, Äthiopien und Tansania werden dazu beitragen (zusammen mit Indien und Pakistan). „Diese Fälle resultieren aus einer Kombination von einer vergleichsweise großen Bevölkerung und hoher Fertilität, die geringer zurückgegangen ist, als in anderen Staaten“, sagt Frank Swiaczny, Chef der UN-Abteilung für Bevölkerungsfragen (Population Division).

Der Mannheimer Geograf, der in New York lebt, arbeitet mit seinem Team an den Zahlen von morgen und erstellt komplexe Modelle aus zig Daten, um möglichst präzise Schätzungen über Bevölkerungen abzugeben. Die größte Fertilität in Afrika werde derzeit in Staaten erreicht, die unter Bürgerkriegen litten und gegen das „Erbe eines niedrigen Entwicklungsstands“ kämpften: Niger, Somalia, Mali, Tschad, Burundi. Andere Länder wie Kenia, Ruanda, Ghana und die Elfenbeinküste haben heute schon mittlere Werte erreicht. Das liege laut Swiaczny unter anderen an einer „relativ günstigen Wirtschaftsentwicklung, Investitionen in menschliche Entwicklung, hohe Verstädterung und gute Regierungsführung“. Religionszugehörigkeit untersucht die UN-Abteilung hingegen nicht. Swiaczny sagt, dass Religion im globalen Vergleich „keine relevante Variable“ sei. „Länder mit überwiegender muslimischer Bevölkerung wie Iran oder Bangladesch haben eine niedrige Fertilität.“ Bangladesch liegt mittlerweile bei 2,05 Geburten pro Frau, Iran bei 2,15.

Die Auswirkungen des Coronavirus seien für das Team rund um Swiaczny nur schwierig abzuschätzen: Einerseits könnten sich Veränderungen naturgemäß erst von Herbst an zeigen, wenn Kinder geboren würden; andererseits ist die Datenlage für viele Länder in Afrika auch schon vor der Pandemie schlecht gewesen. Für zahlreiche Staaten gibt es keine Bevölkerungsregister, Volkszählungen finden in vielen Fällen nur selten statt. Swiaczny sagt: „Nach unseren Berechnungen wird Covid-19 nur einen geringen langfristigen Einfluss auf die Bevölkerungsentwicklung haben, ähnlich anderer Pandemien in der Vergangenheit.“ Hinzu kommt, dass die im Vergleich zu Europa und Nordamerika weniger mobile und jüngere Bevölkerung – etwa 60 Prozent der Menschen in Afrika sind unter 25 Jahre alt – vermutlich weniger anfällig für Covid-19 ist als ältere Gesellschaften.

Demographische Dividende oder Dilemma?

Fraglich ist, was der Kontinent aus seinem Potential macht. Afrika hat die demographische Dividende als Problem und Chance entdeckt. 2017 hat die Afrikanische Union zum Bevölkerungswachstum ein Gipfeltreffen abgehalten. Sinkt die Fertilität und steigt gleichzeitig der Anteil der Bevölkerung, die arbeitet, können Länder daraus einen wirtschaftlichen Nutzen ziehen. Frank Swiaczny von den Vereinten Nationen sagt dazu: „Kommen weniger Kinder nach, kann pro Kopf mehr in Ausbildung investiert werden. Das haben die heutigen Industrieländer in der Vergangenheit erfahren und davon profitiert. Früher oder später altert die Bevölkerung dann, in der Zwischenzeit gibt es ein Fenster, in dem der hohe relative Anteil der Erwerbsbevölkerung, bei noch geringerem Anteil an Senioren, wirtschaftliche Entwicklung beschleunigen kann.“

Die große Herausforderung ist die Schaffung von Arbeitsplätzen. Laut einer Berechnung der Weltbank müssten jedes Jahr 20 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze entstehen, um jungen Menschen eine Zukunftschance zu geben. Das war zumindest die Situation vor der Coronavirus-Krise. Die Lage hat sich durch die Pandemie deutlich verschärft. Bei der UN sieht man zudem das Problem, dass die demographische Dividende kein „Selbstläufer“ ist, da die Gefahr besteht, dass „Bevölkerungen zu altern beginnen, bevor sie wohlhabend genug geworden sind, um eine alternde Bevölkerung versorgen zu können“. Swiaczny sagt: „Das Fenster der demographischen Dividende ist in Subsahara-Afrika derzeit offen, aber die Zeit drängt.“

Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit setzt auf Förderung von Bildung, vor allem für Mädchen und Frauen. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) hat die Investitionen in Bildung seit 2014 mehr als verdoppelt – von 480 Millionen Euro auf 1,2 Milliarden Euro. 25 Prozent der entwicklungspolitischen Ausgaben, so das Ziel des Ministeriums, sollen in Bildung fließen. „Der Schlüssel liegt bei den Mädchen und Frauen“, sagt eine Sprecherin des BMZ. Minister Gerd Müller strebt daneben auch eine Verstärkung privater Investitionen auf dem Kontinent an.

Hinsichtlich Migration in Richtung Europa gibt es weniger Sorgen in dem Ministerium. „80 Prozent der Migranten weltweit migrieren innerhalb ihrer Region oder ihres Kontinents. Nur 2,2 Prozent der Menschen aus Subsahara-Afrika lebt außerhalb seines Herkunftslandes – nämlich 28 Millionen. Wiederum nur ein sehr kleiner Teil dieser Migrantinnen und Migranten ist nach Europa gegangen, nämlich rund 5 Millionen“, sagt die Sprecherin. Tatsächlich nimmt der Wanderungsdruck mit wachsender Bildung zu – im Verhältnis zu den lokalen Zukunftschancen. Swiaczny von den Vereinten Nationen sagt: „Je höher die Bildung, desto mehr lohnt sich die Migration in Länder mit höherem Einkommen.“ Menschen mit geringer Bildung und Einkommen hätten demnach meist nicht die für die Wanderung notwendigen Ressourcen. Das zeigen auch diverse Studien.

Sex als Tabuthema – fehlende Aufklärung

Die Deutsche Stiftung Weltbevölkerung (DSW) betreibt in mehreren ostafrikanischen Ländern Entwicklungsprojekte. Collin Baswony aus dem Landesbüro in Kenia erklärt, dass Jugendliche, die an den Projekten teilnehmen, häufig kaum Kenntnisse über Familienplanung, Sexualität und Verhütung hätten. „Sex ist ein Tabuthema über die Generationen hinweg“, sagt Baswony von der DSW.

Das Gesundheitswesen in Kenia stelle jungen Frauen und Männern wenige Informationen zur Verfügung, sexuelle Aufklärung in der Schule fände demnach überhaupt nicht statt. „Wir glauben, dass junge Menschen nur dann gute Entscheidungen über ihre Sexualität treffen können, wenn sie auch Zugang zu Informationen haben“, meint Baswony. Ihm zufolge seien es vor allem Jugendliche aus wirtschaftlich schwachen Familien, die früher Eltern würden. Laut einer Studie von 2017 sehen 65 Prozent der Kenianer unter 24 Jahre ein eigenes Kind in diesem Alter als Problem an. Demnach wollten sie zuerst ihre Ausbildung beenden. Dem zuwider laufen Aussagen wie die des Präsidenten von Tansania, der zur Empörung vieler im Jahr 2018 Frauen ermuntert hat, die Pille abzusetzen.

Die Deutsche Stiftung Weltbevölkerung mahnt anlässlich des diesjährigen Weltbevölkerungstags, dass heute immer noch nicht alle Frauen und Mädchen frei über ihren Körper und ihre Sexualität entscheiden können. Wäre das gegeben, schätzt die Stiftung, würde sich das jährliche Bevölkerungswachstum um ein Viertel verringern.