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Beitrag vom 07.07.2020

FAZ

Afrika steht am Abgrund

Die Corona-Krise zerstört den Fortschritt des vergangenen Jahrzehnts: 40 Millionen Menschen droht absolute Armut, Getreidereserven gehen zur Neige – selbst Tiere leiden unter der Katastrophe. Von Philip Plickert und Thilo Thielke

Eine Idylle ist es nur für den oberflächlichen Blick. Fünf Tage lang war Jörg Gabriel mit seinem Geländewagen in der Serengeti unterwegs. Er sah Löwen, Elefanten und Leoparden, doch einen Touristen bekam er nicht zu Gesicht: keinen Naturfilmer, keinen Artenschützer, keinen Forscher. Selbst die Wildhüter haben sich zurückgezogen. „Es war absolut unwirklich“, sagt der 50 Jahre alte Deutsche: „Ein bisschen wie im Paradies und gleichzeitig gespenstisch.“

Gabriel lebt seit mehr als zwei Jahrzehnten in Tansania. Seit 16 Jahren betreibt er mit seiner Frau die Hatari-Lodge am Rande des Arusha-Nationalparks: 15 Zimmer, fast 50 Angestellte. Doch seit Wochen herrscht Leere. Wie lange die beiden finanziell noch durchhalten, ist ungewiss. „In der Serengeti werden bereits die Camps abgebaut“, sagt Gabriel. Eigentlich hatte die Regierung in diesem Jahr fast zwei Millionen Urlauber erwartet – um den Kilimandscharo zu besteigen, durch die Nationalparks zu fahren, sich auf Sansibar zu sonnen.

Doch dieses Jahr droht dem ostafrikanischen Land der Kollaps. Tourismus- und Naturminister Hamisi Kigwangalla rechnet mit einem Verlust von rund einer halben Million Arbeitsplätzen. Normalerweise arbeiten 622000 Menschen in diesem Wirtschaftszweig. Der Fremdenverkehr ist mit jährlichen Einnahmen von 2,6 Milliarden Dollar der zweitwichtigste Devisenbringer Tansanias. Die Regierung geht bei einem Einbruch des Tourismus von 77 Prozent davon aus, dass der bitterarme Staat 2 Milliarden Dollar weniger einnimmt als erwartet. Und dieses Szenario ist noch optimistisch. „Die weitverbreitete Angst vor Corona hat Tansania enorm zugesetzt“, sagt Gabriel. „Die Reisewarnung der Bundesregierung könnte nun der Todesstoß sein.“ Nach den Vereinigten Staaten und Großbritannien steht Deutschland regelmäßig auf dem dritten Platz der Herkunftsländer jener Safaritouristen, die nach Tansania reisen.

Als ärmster Kontinent der Erde wird Afrika am härtesten von der Weltwirtschaftskrise betroffen sein, die durch Ausgangssperren und Reiseverbote ausgelöst wurde. Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat seine Prognose für Subsahara-Afrika nochmals stark nach unten korrigiert: Die Wirtschaftsleistung werde dort um 3,2 Prozent schrumpfen, das ist die für Afrika schlimmste Rezession seit den siebziger Jahren. Je Kopf fallen die Einkommen sogar um mehr als 5 Prozent, denn die Bevölkerung wächst weiterhin mit hoher Rate. Das Bruttoinlandsprodukt der Öl-Exporteure wie Nigeria und Angola und anderer Rohstoffländer wird noch stärker sinken. Am meisten leiden die wirtschaftlich stark vom Tourismus abhängigen Länder wie Mauritius. Das Coronavirus selbst richtet in Afrika dagegen bislang geringeren Schaden an als anderswo. Bislang gibt es rund 10000 Corona-Tote, also nur etwa 1000 mehr als in Deutschland. Als Hauptgrund sehen Fachleute dafür das geringe Durchschnittsalter der Afrikaner an.

Umso schlimmer ist die wirtschaftliche Katastrophe – insbesondere für Länder, deren Bevölkerung ohnehin zu großen Teilen unterhalb der Armutsgrenze von 1,90 Dollar am Tag lebt. „Die Krise trifft einige der verletzlichsten Länder am stärksten“, sagt Abebe Aemro Selassie, IWF-Direktor für Afrika. Der Währungsfonds prognostiziert, dass 26 Millionen bis 40 Millionen Menschen in die absolute Armut fallen werden. Größere Hungersnöte werden befürchtet, zudem ein erheblicher Anstieg von Malaria-Toten, da in entlegenen Gegenden keine Netze und Medikamente mehr verteilt werden können. Ostafrika leidet zudem seit Monaten unter einer verheerenden Heuschreckenplage.

Südafrika, die größte Volkswirtschaft des Kontinents, steckte schon vor der Corona-Krise in einer Rezession. Dann hat Präsident Cyril Ramaphosa einen der härtesten Lockdowns der Welt verhängt, was zum totalen Stillstand der Wirtschaft führte. Zwar wurden so Ansteckungen mit dem Virus vermieden, aber für Millionen bedeutet nun die Rezession existentielle wirtschaftliche Not. Der IWF schätzt, dass Südafrikas Wirtschaft dieses Jahr um 8 Prozent schrumpfen wird. Die Arbeitslosenquote, die vor Corona schon bei 30 Prozent lag, könnte über 50 Prozent steigen.

Im benachbarten Zimbabwe, dem schon vor Corona in diesem Frühjahr eine Hungersnot mit mehreren Millionen Opfern drohte, erwarten die IWF-Ökonomen dieses Jahr nun einen Einbruch der Wirtschaftsleistung um mehr als 10 Prozent. Der Mangel an Getreide hat durch schlechte Ernten wegen der Dürre weiter zugenommen. Kürzlich meldeten die Behörden in Harare, dass dieses Jahr mehr als 1,17 Millionen Tonnen Getreide fehlen. In vielen Bezirken reichten die Vorräte nur noch für ein halbes Jahr. Die Zimbabwer leiden auch weiterhin unter einer fürchterlichen Inflation, erst kürzlich verdoppelte sich der Benzinpreis mal wieder.

Die Preise für Erdöl sind dagegen in den Keller gefallen. In Nigeria, mit 200 Millionen Menschen das bevölkerungsreichste Land des Kontinents, macht die Erdölindustrie zwar nur ein Zehntel der Wirtschaft aus, sie bringt aber mehr als 60 Prozent der Staatseinnahmen und 90 Prozent der Devisen. Entsprechend schlecht steht es nun um das Land. Für Angola wird es das fünfte Rezessionsjahr in Folge sein. Die Länder haben es versäumt, ihre Abhängigkeit vom schwarzen Gold zu reduzieren, mit dem Preiseinbruch stehen sie plötzlich vor leeren Kassen.

Die Folge sind explodierende Haushaltsdefizite, Währungsabwertungen und gewaltig drückende Schuldenlasten. Ein weiterer Schlag: Auch die Geldüberweisungen von Afrikanern, die in reichere Länder ausgewandert sind, trocknen aus. In Nigeria leben etwa die Hälfte der Menschen in Haushalten, die in der einen oder anderen Form gelegentlich Geld von Emigranten erhalten, schreibt die Weltbank. Alles in allem wirft diese Krise Afrika wirtschaftlich weiter zurück als befürchtet. Der IWF spricht davon, dass die Rezession sämtliche Einkommensverbesserungen des vergangenen Jahrzehnts zunichtemachen werde.

Auch Afrikas Tierwelt ist gefährdet vor allem in den Nationalparks und Schutzgebieten. Touristen schreckten Wilderer ab, die es auf Elfenbein und das Horn der Rhinozerosse abgesehen haben. Nun fehlt das Geld für die Ranger und die Soldaten der Anti-Wilderer-Einheiten. „Wenn die Menschen hungern, werden sie zudem gezwungen sein, zu jagen und sich mit Buschfleisch zu ernähren“, befürchtet Lodge-Betreiber Gabriel. Gut 60 Jahre nachdem der Frankfurter Zoodirektor Bernhard Grzimek die Welt mit seinem Dokumentarfilm „Serengeti darf nicht sterben“ aufgerüttelt hatte, drohe dem Park das Ende.