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Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 12.01.2020

Tagesanzeiger, Zürich

«Entwicklungshilfe hat wenig gebracht»

Der Philosoph Achille Mbembe kritisiert die europäische Migrationspolitik. Er will eine neue Sehnsucht nach Afrika erzeugen, damit junge Menschen nicht mehr fliehen.

Spätestens seit seinem Buch «Kritik der schwarzen Vernunft» gilt der aus Kamerun stammende und in Südafrika lehrende Achille Mbembe als einer der wichtigsten Denker des Postkolonialismus. Seit einigen Jahren veranstaltet er gemeinsam mit dem Ökonomen Felwine Sarr in Dakar, Senegal, die «Ateliers de la pensée», eine Konferenz, auf der Künstler, Forscher und Aktivisten die Zukunft Afrikas diskutieren. Wir trafen Mbembe in einer der Pausen des viertägigen intellektuellen Feuerwerks.

Herr Mbembe, in Ihrem Vortrag haben Sie einen harten Satz gesagt: «Es gibt keinen Ort der Welt, an dem wir Afrikaner willkommen sind, nicht einmal in Afrika.» Für die Europäer war das ein Schock. Auch für die Afrikaner?

Ja, das ist ein Tabubruch. Das hat noch niemand gesagt. Aber wenn man sich die Geschichte der Moderne ansieht, stellt man fest: Es ist einfach so. Es geht jetzt darum, sich damit auseinanderzusetzen: Was heisst das, ein Volk zu sein, das nicht willkommen ist, weder zu Hause noch im Rest der Welt?

Herrschte nicht seit dem Ende von Kolonialismus, Apartheid und den Erfolgen der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung die Überzeugung, dass das Ziel, Ende der Diskriminierung, Gleichheit aller Hautfarben, unaufhörlich näherrückt? Sie klingen, als hätten Sie die Hoffnung aufgegeben, dass es je erreicht wird.

Was ich ausgesprochen habe, ist eine Tatsache. Wir müssen aber dennoch an der Hoffnung festhalten, eines Tages werde sich die Überzeugung durchsetzen, dass die Welt allen gleichermassen gehört, die sie bewohnen – ob Menschen, Nicht-Menschen oder geologischen Kräften. Wir müssen daran besonders heute glauben, da die Erde so in Gefahr ist durch die Verwüstung, die wir angerichtet haben. Wir müssen daran glauben, dass es die Aufgabe der Menschheit ist, die Erde zu reparieren. Und dass eine der Bedingungen dafür darin besteht, sie so gerecht wie möglich zu teilen. Der Akt des gerechten Teilens ist der einzige Weg, die Existenz der Erde und die Existenz der Menschheit zu sichern. Ich will an diesen Idealen festhalten.

Aber...

Aber gleichzeitig entsteht weltweit, auch in Afrika, ein neues, immer härteres Mobilitätsregime. Tausende Menschen sterben an den Grenzen dieser Welt, leiden unter schrecklichen Bedingungen in Flüchtlingslagern, Gefangenenlagern, Gefängnissen. Das ist die Realität. Sie sind eben nicht willkommen. Auch nicht in Afrika.

Wie ist dieses Regime entstanden?

Seit dem Beginn der Globalisierung und besonders nach 9/11 werden in den liberalen Demokratien nach und nach Rechte abgeschafft, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zum Wesenskern dieser Staaten gehörten. Es gibt immer neue Debatten um die Sicherheit. Sie dienen dazu, die Einführung repressiver Massnahmen zu rechtfertigen, besonders wenn es um die Bewegung unerwünschter Personen geht. Das neue globale Regime der Mobilität gründet darauf, dass Sicherheit alles andere schlägt.

Was heisst das genau?

Dahinter steht der Glaube, wir seien nicht sicher, solange die Freiheit, die wir einmal genossen haben, nicht eingeschränkt wird. Der Deal ist: Du gibst mir Freiheit, ich gebe dir Schutz und Sicherheit. Dieser Trend zu Autoritarismus und Illiberalität in den liberalen Demokratien ist das Paradox, in dem wir leben.

Sie kritisieren vor allem, dass Europa seine Grenzen auf afrikanisches Territorium verschiebt.

Diese Externalisierung ist ein wesentliches Instrument des europäischen Kreuzzugs gegen sogenannte illegale Migranten. Europa hat Drittstaaten damit betraut, zu verhindern, dass Migranten Europas Grenzen überhaupt erreichen. Sie werden schon viel früher gestoppt. In Afrika machen das gegen ein bisschen Geld Marokko, Algerien, Libyen und einige Länder der Sahelzone. Der Afrikaner wurde im Sicherheitsdiskurs der EU zu einer Bedrohung gemacht. Wenn einer auftaucht, muss er gestoppt, wenn nicht gar neutralisiert werden.

Was sollen die afrikanischen Länder tun?

Wir sollten die Tendenz des Westens zu Feindseligkeit und Abschottung nicht auf unserem eigenen Kontinent nachahmen. Unser Kontinent ist gigantisch. Es gibt genug Platz für alle in Afrika. Wir sollten Afrika zu einem riesigen Labor für Versuche machen, wie wir die Welt gerecht teilen, reparieren und widerstandsfähig machen können. Jeder soll sich frei bewegen dürfen. Dazu müssen wir uns gegen Europas Übergriffe auf Afrikas Souveränität, seine Bewohner und sein Territorium zur Wehr setzen.

Übergriffe?

Europa hat kein Recht, den Afrikanern in Afrika zu diktieren, wie, wann und ob sie sich bewegen dürfen. Es hat dieses Recht vielleicht in Europa, aber nicht hier.

Ein Afrika ohne Grenzen als radikaler Gegenentwurf zum Westen?

Das ist nur ein Aspekt. Die Frage ist: Wie können wir die Fähigkeit wiedererlangen, selbst zu bestimmen, wer wir sein wollen? Und wenn wir kämpfen, wie organisieren wir den Kampf? Denn ohne Kampf wird es nicht gehen. Wie lernen wir wieder zu gewinnen? Wir hatten eine zu lange Geschichte der Niederlagen. Wir brauchen machtvolle soziale Organisationen und eine neue Besinnung auf das, was Afrika sein könnte. Ich nenne es «Réenchanter l’Afrique», also die Wiederverzauberung Afrikas.

Was verstehen Sie darunter?

Wir müssen eine Sehnsucht nach Afrika erzeugen. Aber wir können das nur, wenn Afrika aufhört, eine blosse geografische Grösse zu sein. Afrika ist eine Idee, ein Konzept, ein Projekt, ein Versprechen. Die Frage ist: Wie machen wir Afrika zu einem Versprechen, das so attraktiv ist, dass dessen eigene Bewohner an seiner Erfüllung mitwirken? Wir müssen klarmachen, dass die Zukunft Afrikas in unseren Händen liegt.

Wie soll das gehen?
Wir müssen die Leute zum Träumen bringen. Aber natürlich träumen die Leute heute vor allem von Waren. Wie lenken wir also die Macht des Träumens weg von den Waren und hin zu den Menschen, damit diese wieder zu den Schöpfern ihrer eigenen Geschichte werden können? Das war ja das Projekt der Aufklärung: den Menschen zu befähigen, auf eigenen Füssen zu stehen, sich um sich selbst zu kümmern, weil Gott nicht länger existiert und weil die Autoritäten kontrolliert werden müssen.

Könnte «Réenchanter l’Afrique» nicht als Idealisierung von Afrika vor dem Kolonialismus, als Identitätspolitik und Rückzug von der Welt missverstanden werden?

Das meine ich damit nicht. Afrika wieder zu verzaubern, bedeutet zurückzukommen an einen Punkt, an dem zum Beispiel junge Menschen nicht mehr nach Europa fliehen wollen, wo niemand auf sie wartet und wo sie verletzt und traumatisiert werden. Sie wissen das, und dennoch gehen sie das Risiko ein und setzen ihr Leben aufs Spiel. Warum?

Warum? Weil an den Orten, an denen sie geboren wurden, bestimmte systemische Mechanismen am Werk sind, die es für sie unmöglich gemacht haben, dort zu leben. «Réenchanter l’Afrique» heisst, Afrika zu einem Raum zu machen, der wieder bewohnt werden kann. Nicht nur von Afrikanern, sondern von der ganzen Menschheit. Die Arbeit, die dafür notwendig ist, ist beglückend und frustrierend. Es ist die historische Arbeit, die wir tun müssen.

Stammt diese Idee aus Afrika, aus der afrikanischen Diaspora oder eher von weltweit gefragten Intellektuellen wie Ihnen?

Das kommt von innen, vom Kontinent selbst. Manche Stimmen sind lauter als andere, das heisst aber nicht, dass es die einzigen sind. Was gerade entsteht, ist eine wirkliche Bewegung. In den USA und in Europa haben wir einen riesigen Pool sehr gut ausgebildeter Leute aus der alten Diaspora. Das ist ein riesiges intellektuelles Kapital. Diese Gruppe vereinigt sich mit ebenso gebildeten Leuten vom Kontinent. Man könnte sagen, dass die Bewegung angetrieben ist von der «Elite», obwohl ich diesen Begriff nie verwende. Aber alle Beteiligten sind sich einig, dass Afrika lernen muss, auf eigenen Füssen zu stehen. Im eigenen Interesse, aber auch im Interesse der Welt. Allen wird es dann besser gehen.

Sollen die afrikanischen Staaten auf Hilfe aus dem Westen verzichten?

Entwicklungshilfe, humanitäre Hilfe, militärische Interventionen haben wenig gebracht. Oft haben sie zu neuen Problemen geführt. Brutale Diktatoren wurden gestützt, der Lebensraum von Menschen zerstört. Wir müssen es anders versuchen. Wir müssen die Menschen mobilisieren und uns auf unsere Stärken besinnen. Genau darum geht es bei Plattformen wie den «Ateliers de la pensée», wo Künstler, Schriftsteller, Filmemacher und Leute aus der Entwicklungshilfe und von NGOs zusammenkommen. Wir wollen eine Bewegung mobilisieren – wie die, die zum Ende der Sklaverei, des Kolonialismus, der Rassentrennung in den USA, der Apartheid geführt haben.

Und die Forderung nach Wiedergutmachung der Verbrechen, die Europa begangen hat?

Wir haben ein Recht auf Reparationen, weil ein historisches Unrecht begangen wurde. Wir müssen weiter verlangen, dass dieses Recht erfüllt wird. Auch wenn wir wissen, dass die Verluste, die Europa uns zugefügt hat, nicht wiedergutzumachen sind. Europa wird uns niemals entschädigen können für das, was es uns genommen hat. Damit wird es für immer leben müssen. Wir müssen dennoch neue Beziehungen zueinander finden. Sobald wir mehr Macht haben, wird sich unser Verhältnis zu Europa ganz von selbst ändern.