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Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 15.07.2019

FAZ

Was sollen wir in Europa?

Die guten Rapper aus Senegal: Sie haben dafür gesorgt, dass Politiker abgewählt wurden. Und sind Vorbilder für eine Generation, die ihr Land umkrempelt.

Von Julia Amberger

Simon, 39 Jahre, ein Bär von einem Mann mit Flecktarnjacke, die Baseball-Kappe tief ins Gesicht gezogen, läuft aufrecht durch die staubigen Straßen von Mbours, vorbei an unverputzten Häusern, an Bergen aus Zement und Müll, umringt von einer Schar Begleiter. Vor ihm rollt ein Soundsystem, das auf einen Jeep montiert ist. An den Boxen auf dem Dach lehnen drei Männer mit Wollmützen und Baggy Jeans und rappen.

Rumzuhängen und faul zu sein
ist eines Menschen nicht würdig.
Steh auf, besorg dir den Wahlschein,
deine Waffe, um zu wählen.

In der Kurve dreht ein Reifen durch und gräbt sich in den Sand, das Fahrzeug kippt beinahe um, einer der Rapper springt gerade noch rechtzeitig vom Dach. Simon stemmt sich gegen den Jeep. Es darf nichts schiefgehen, wer sollte denn die Reparatur bezahlen?

Simon und seine Begleiter gehören zu „Y’en a marre“, auf Deutsch: „Wir haben es satt“ – einer zivilgesellschaftlichen Bewegung, die die demokratischen Rechte verteidigt. Auch Simon rappt, er ist der Star der Karawane, die Menschen vor ihren Häusern grüßen ihn, schütteln seine Hand. Sie kennen ihn aus dem Fernsehen. Er hat die Protestbewegung 2011 mit fünf Rappern und einem Journalisten gegründet. Anfangs demonstrierten sie gegen Stromausfälle, die länger anhielten als gewohnt, und gegen Korruption in der Politik. Bald wurden sie zu Fürsprechern der Jugend. „Wir haben es satt, dass alte Herren unsere Zukunft in Senegal bestimmen“, sagt Simon. „Der Altersunterschied zwischen den Menschen und den Politikern in Senegal nimmt immer mehr zu.“

Die Bevölkerung in Senegal ist sehr jung – im Schnitt gerade einmal 18 Jahre alt. Aber diejenigen, die dieses Volk vertreten, sind, abgesehen von ein paar Ausnahmen, weit über 50. Zwar verfügt Senegal über ein Mehrparteiensystem, in dem prinzipiell Meinungs- und Pressefreiheit herrschen. Aber Patronage und Clanverhalten sind in der politischen Kultur tief verankert. Politische Entscheidungen beruhen auf Beziehungen zwischen Eliten, die sich bereichern. „Wir wollen nicht mehr darauf warten, dass sich irgendwann etwas daran ändert“, sagt Simon. „Lieber ändern wir die Dinge selbst.“

Ihre Botschaften verbreiten sie auf Konzerten und auf Youtube. Ein Wahlsong des Rap-Trios Keur Gui wurde innerhalb von wenigen Tagen 1,4 Millionen Mal geklickt. In einem Land mit 14 Millionen Einwohnern. Ihre Beats und Parolen haben die Kraft, Regierungen zu stürzen: Schon zur Jahrtausendwende hatten sie rund eine Million Fans, überwiegend Erstwähler, an die Urnen gerufen; das sozialistische Regime wurde abgelöst. Ebenso erging es 2012 dem 85-jährigen Präsidenten Abdoulaye Wade.

Sein Amtsnachfolger Macky Sall bot Mitgliedern von Y’en a marre daraufhin Posten in der Regierung und versuchte, ihre Bewegung zu spalten. Doch Y’en a marre lehnte ab. „Wer Teil dieses Systems wird, der geht unter“, sagt Simon.

Die Rapper waren die Ersten, die es gewagt haben, die Regierenden offen zu kritisieren: weil Lehrbücher fehlten oder der Präsident sich nicht an die Verfassung hielt. Ihren Frust pressten sie in Beats, und ihre Wut fassten sie in Reime.

Rapper mobilisieren zwar auch in Ägypten, in den Vereinigten Staaten und in Thailand gegen die Herrscher. Aber nirgendwo auf der Welt haben sie je ein Regime gestürzt. Vielleicht liegt das daran, dass Hiphop in Senegal nicht in erster Linie eine Musikrichtung ist. Sondern ein Mittel, die Bevölkerung zu erziehen. Wie einst singende Erzähler als „Griots“ durch Westafrika zogen und die Menschen unterhielten und belehrten, so tun es heute die Rapper. Für die arbeitslosen Jugendlichen sind ihre Songs eine Anleitung zur Selbstermächtigung.

Die Rapper-Größen in Senegal haben fast alle studiert. Sie bezeichnen sich nicht als Gangster, sondern als Hoffnung der Straße. Statt einer Baseball-Kappe tragen die meisten Wollmütze – eine Hommage an den Widerstandskämpfer Amilcar Cabral. Sie gelten als Vorbilder einer Generation, die ausbricht aus der Opferrolle, die sich auflehnt gegen den Bau eines Kohlekraftwerks mitten in der Hauptstadt Dakar. Oder gegen Maggi-Brühwürfel, mit denen ein westlicher Lebensmittelkonzern vorgibt die Mangelernährung in Westafrika zu bekämpfen.

An dem Nachmittag, an dem seine Show fertig werden muss, beugt sich Keyti über einen Monitor und sichtet den Aufmacher, ein Rap-Video aus Mali, während sein Kollege Xuman, der nebenan wohnt, mit seiner Frau kocht. Es ist düster in dem kleinen Studio: Die Fenster sind mit der grün-gelb-roten Nationalflagge verhängt. An der Wand kleben Fotos von afrikanischen Widerstandskämpfern und ein Logo, das eine Weltkarte zeigt. „JT Rappé“ steht darauf, so heißt die Sendung, die Keyti und Xuman hier jede Woche produzieren: eine politische Tagesschau, die gerappt wird und nicht moderiert. Manche Sendungen des „Journal Rappé“ werden von der Unesco und der International Organisation for Migration finanziert. Die internationalen Organisationen haben erkannt, dass die Rapper meist mehr bewirken als ihre Entwicklungshelfer.

Keyti wirkt hochkonzentriert. Er ist 43 Jahre alt, ein bedachter, ernster Mann, das Jeanshemd frisch gebügelt, die Turnschuhe strahlend weiß. Nach dem Abitur hat er Sprachen studiert. Das Video, das er gerade sichtet, handelt von Radikalisierung, die inzwischen auch im Osten Senegals zum Problem wird, und einer afrikanischen Kultur des Friedens. „Warum ist hier nirgendwo eine Frau zu sehen“, fragt er in beinahe akzentfreiem Französisch. „Wir müssen unbedingt noch ein paar Szenen nachdrehen.“

Noch 2013 wurden fast alle Nachrichtensendungen in der Amtssprache Französisch übertragen. Aber viele Menschen in Senegal sprechen nur die lokale Sprache Wolof. „Solange sie nicht verstehen, was die Regierung beschließt, können sie sich nicht wehren“, sagt Keyti. Deshalb beschlossen Xuman und er, beide Hardcore-Rapper der alten Schule, die Nachrichten in Reime zu fassen und mit Beats und Bildern zu unterlegen. „Rap erlaubt uns, komplexe Zusammenhänge zu vereinfachen und den Senegalesen auf unterhaltsame Weise klarzumachen, worum es geht“, erklärt er.

In ihrer Sendung, die meistens vier, fünf, sechs Minuten dauert, schmettern Keyti und Xuman ihre Nachrichtenreime in Anzug und Krawatte in die Kamera. Es geht um die Kolonialwährung Senegals, den CFA, der bis heute in Frankreich gedruckt wird und an den Euro gekoppelt ist. Um die Vermögen afrikanischer Präsidenten, gebunkert in europäischen Banken. Inmitten von überschwemmten Häusern rappen Keyti und Xuman über den Klimawandel, schalten Rapper aus den Nachbarländern zu.

Am meisten bekommen aber die senegalesischen Bürgermeister und Politiker ab. „Unsere Politiker ruinieren die Zukunft von Tausenden jungen Afrikanern“, sagt Keyti und pocht mit dem Zeigefinger gegen seine Brust. „Sie erlauben es internationalen Firmen, sich an unseren Ressourcen zu bedienen. Und teilen die Gewinne nicht mit ihrem Land.“

Die Vereinten Nationen plazieren Senegal in ihrem Wohlstands-Index der menschlichen Entwicklung auf Platz 164 von 189 Staaten. Jeder Zweite ist dort laut Weltbank arm. 2017 verdienten die Menschen im Schnitt 950 Euro brutto pro Jahr – in Deutschland waren es fast 43500 Euro.
Das „Journal Rappé“ war 2013 die erste senegalesische Produktion auf Youtube. Weil sie keine Sponsoren auftreiben konnten, starteten Keyti und Xuman eben allein. Bald folgten ihnen so viele Menschen, dass immer mehr auf der Online-Plattform Videos schauten und anfingen, selbst welche zu drehen. Heute findet man dort senegalesische Serien, 500000 Mal geklickt, auch in der Diaspora. Sie haben längst die Telenovelas aus Brasilien und Fernsehfilme aus Frankreich abgelöst. „Es ist wichtig, dass ein senegalesisches Mädchen im Fernsehen eine senegalesische Heldin sieht“, sagt Keyti. „Und was uns in den Medien gelungen ist, schaffen wir auch in anderen Bereichen.“

Damit meint er zum Beispiel die Wirtschaft: In den Städten in Senegal werden ständig neue Supermärkte gebaut, die Ketten sind allesamt französisch. Mit ihren Niedrigpreisen ruinieren sie den Marktverkäufern das Geschäft. Deshalb haben diese die Initiative „Auchan Dégage“ gegründet – auf Deutsch: Auchan (eine französische Supermarktkette), verpiss dich! Doch Keyti schätzt die Qualität des Fleisches und der Kekse in den Märkten. Statt sie zu boykottieren, denkt er weiter: „Warum sollten wir immer zu Auchan oder Casino gehen?“, fragt er und zieht die Schultern hoch. „Lasst uns doch stattdessen eigene Ketten entwickeln, mit noch höheren Standards.“
Die Mittagssonne brennt auf Verkaufsstände und Eselskarren in den Straßen von Pikine, dem Getto am östlichen Stadtrand der Hauptstadt Dakar. Alle paar Minuten knattert ein Lastwagen mit Kohlesäcken vorbei – und die Nachwuchsrapper der Hiphop-Akademie „Studio Timbuktu“ müssen den Dreh ihres Musikvideos unterbrechen. Gaston, 19 Jahre, Dreadlocks, sitzt auf einem Baumstamm und rappt seine Strophe nun schon zum dritten Mal in eine Kamera. Er ist umschart von Kindern. Matador, 40 Jahre, sein Mentor und Vorbild, drängelt sich zu ihm durch. Er kontrolliert die Einstellung der Kamera und schiebt zwei Mädchen aus dem Bild. Aber er ist mit der Aufnahme immer noch nicht zufrieden.

Matador, ein drahtiger, impulsiver Mann, stammt aus einem Vorort ein paar Kilometer weiter. Als er so alt war wie Gaston, rappte er noch mit seinen Freunden aus der Schule. 1998 nahmen sie das erste Album auf. Ein paar Jahre später tourten sie gemeinsam durch Europa – Brüssel, München, Berlin. Seine Freunde waren begeistert und blieben einfach dort. Matador kehrte zurück. Allein. Seitdem hat er eine Mission. „Solange es keine professionelle Musikszene in Senegal gibt, werden die Leute irgendwann aufhören zu rappen oder gehen“, erklärt Matador, seine Stimme ist rauh. „Aber Rap ist dazu da, eine Gesellschaft weiterzuentwickeln. Hier gibt es allerhand zu tun – was sollen wir also in Europa?“

Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, ein Vorbild für die jungen Leute zu sein und Studios zu gründen, in denen sie sich ausdrücken können – und professionalisieren. Damit sie irgendwann von der Musik leben können. Mindestens 3000 Rapper gibt es ihm zufolge in Senegal. Es geht ihm nicht darum, Stars zu produzieren. Er kämpft für die Rechte von Künstlern, für Aufnahmekabinen und Bühnen.

2005 hat er mit den Einnahmen aus seinen Konzerten die Street-Art-Schule „Africulturban“ in Pikine eröffnet. Über 500 Frauen und Männern zwischen 16 und 20 hat er dort seitdem Break Dance, Filmproduktion, Musikauflegen und Tontechnik beigebracht. Ein paar Jahre später hat er dann „Studio Timbuktu“ gegründet, mit Unterstützung der Nichtregierungsorganisation Plan International. Dort bringt er Jugendlichen bei, wie man Reime schreibt und rappt. Mit Hiphop will er ihnen ein Selbstwertgefühl und soziale Werte vermitteln.

Um 18 Uhr ist Matador gerade fertig mit dem Dreh und spielt die Videoclips in den Rechner des Studios: 10 Quadratmeter, drei wackelige Bürostühle und ein Schreibtisch, von dem aus man durch eine Glasscheibe in die Aufnahmekabine blickt. Das Mischpult ist verstaubt, ein Mikro provisorisch mit Klebeband fixiert, aber die Boxen wummern, dass die Fensterscheiben klirren. Matador wiegt seinen Kopf im Takt. „Der Staat, das sind auch wir“, sagt er, runzelt seine Stirn und schießt hinterher: „Wir dürfen unsere Verantwortung als Bürger nicht abgeben und einfach fliehen. Wir müssen bleiben und unser Land so gestalten, dass wir darin eine Zukunft sehen.“
6000 Senegalesen strandeten 2017 in Italien – ohne Aussicht auf Asyl. Wie viele in Gefängnissen in Libyen bis heute festsitzen oder im Mittelmeer gestorben sind, weiß niemand. Das treibt nicht nur Matador um, sondern auch seinen Rapper-Kollegen Simon von Y’en a marre. Nach der Schule war er nach Frankreich gegangen, um dort zu studieren: Transport und Logistik. Aber nach zwei Semestern hatte er nicht mehr genug Geld, musste sein Studium abbrechen und kehrte schließlich nach Senegal zurück.

Seitdem hat er es sich zur Aufgabe gemacht, das Bild vom Eldorado Europa zu dekonstruieren – und stattdessen afrikanische Erfolgsgeschichten zu erzählen. „Das senegalesische Fernsehen zeigt nur Männer, die die schönste Italienerin des Viertels geheiratet haben oder ein dickes Auto fahren“, sagt er. „Aber keine Leute, die es hier zu etwas gebracht haben.“ Alles, was aus Europa komme, werde höher geschätzt – sei es ein Huhn oder ein Diplom. „Es gibt nichts, auf das wir Afrikaner stolz sein könnten, und wenn man so aufwächst, reicht es nicht, zu sagen: Der Weg nach Europa ist aber gefährlich.“

In Mbours ist es inzwischen finster. Die Karawane der Rapper geht langsamer. Menschen sammeln sich vor ihren Häusern und trinken Grüntee, der so stark gezuckert ist, dass er schäumt. Simon hat heute schon an zig Tassen genippt, zig Hände geschüttelt und ist weit hinter das Soundsystem zurückgefallen. Er kann nicht mehr. Er könnte jetzt auch einfach ein Auto anhalten und das letzte Stück fahren. Aber er widersteht. „Heute sind so viele Menschen gekommen, nur weil wir zu einer Karawane aufgerufen haben“, sagt er, bleibt stehen, beugt sich zurück und schnauft durch. „Deshalb muss ich mit gutem Beispiel vorangehen, auch wenn ich müde bin.“