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Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 09.03.2018

Frankfurter Allgemeine Woche

Niger

Ein Bild des Jammers

Die Misere in weiten Teilen Afrikas hat mit Mangel an ausländischem Geld nichts zu tun. Vielmehr ist die Entwicklungshilfe Teil des Problems.

Von Kurt Gerhardt

Eine neue Entwicklungsruine ist im afrikanischen Staat Niger zu besichtigen. Im Januar 2016 war die erste Eisenbahnstrecke des Landes von der Hauptstadt Niamey nach Dosso eröffnet worden. Mit Pauken und Trompeten und einem großen Fest. Präsident Mahamadou Issoufou hatte von einem „historischen Tag“ gesprochen. Doch seitdem steht der Zug im Bahnhof von Niamey. Nach der Eröffnungsfahrt vor zwei Jahren hat er sich nicht mehr bewegt. Heute zerfressen Termiten die Schwellen der Gleise.

Die 140 Kilometer lange Strecke soll eigentlich ein Teilstück einer großen Bahnverbindung von Abidjan (Elfenbeinküste) über Ouagadougou (Burkina Faso) bis zur beninischen Hafenstadt Cotonou sein. Da allerdings die Anschlüsse nach beiden Seiten hin fehlen, steht das Teilstück isoliert in der Landschaft und hat, für sich genommen, auch deshalb keinen Sinn, weil das Auto auf der Strecke dreimal schneller ist als der Zug.

Das Gesamtprojekt ist von dem französischen Unternehmer Bolloré vorfinanziert worden, der in vielen afrikanischen Ländern aktiv ist. Um ihn zu bezahlen, hat die nigrische Regierung ihm einen Zugriff auf die Zolleinnahmen eingeräumt. Seitdem gehen Importeure wegen gestiegener Tarife auf die Barrikaden.

Für den Binnenstaat Niger ist die Verbindung zur Hafenstadt Cotonou lebenswichtig. Bisher läuft der Güter- und Personenverkehr über eine Straße, die vor allem auf nigrischem Gebiet so mit Schlaglöchern übersät ist, dass die Leute von einer Marterstrecke („un calvaire“) sprechen. Dieser Zustand ist seit Jahren so.

Gegen die Bereicherung gibt es kaum Widerstand

Eine Unternehmerin und Verwandte von Blaise Compaoré, dem 2014 gestürzten Präsidenten von Burkina Faso, erhielt vor einigen Jahren von der nigrischen Regierung den Auftrag, die Straße zu erneuern. Man zahlte, aber es geschah nichts. Sie habe das Geld ‚bouffé‘ (gefressen), heißt es. Belangen könne man sie nicht, weil diejenigen, die eigentlich ihre Kontrolleure sein sollten, mit ihr unter einer Decke steckten. So funktioniere das System. Die Dame, heißt es, sei weiterhin gut im Geschäft. Sie habe bereits weitere Straßenbauprojekte in der Tasche.

Gegen diese Art der Bereicherung gibt es kaum politischen Widerstand. Die Erklärung ist einfach: Die Opposition will, wenn sie selbst an die Macht kommt, sich auch bedienen können. So leistet sich der nigrische Staat eine gewaltige Geldverschwendung. Dabei zählt das Land zu den ärmsten der Welt. Im Ranking der Vereinten Nationen belegt es den vorletzten Platz. Es fehlt wo gut wie an allem.

Im vorigen Jahr wurde in der Nähe von Niamey ein mit Diesel betriebenes Strom-Kraftwerk errichtet. Fachleute rieten zu Solaranlagen. Doch sie wurden nicht gehört. Ihre Warnungen erwiesen sich als zutreffend: Von den vier Turbinen läuft nur eine, und auch die nicht so richtig. Die Betriebskosten sind viel zu hoch. Das Kraftwerk ist nur ein weiteres Beispiel von vielen.

Die Situation im Lande ist schlecht, die Stimmung auch. Tausende Menschen hungern, viele Bürger klagen, sie sind am Rand der Verzweiflung. Knapp die Hälfte der Bevölkerung lebt in bitterer Armut. Das größte Problem: stark steigende Preise. Für Grundnahrungsmittel, Strom und Wasser schossen sie in den vergangenen Monaten in die Höhe. Weil die letzte Ernte schlecht war, herrscht in weiten Teilen des Landes Hungersnot. Mehr als 40 Prozent der Menschen in Niger haben keinen angemessenen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Wasser ist ein Politikum.

Auf den Straßen sind zwar viele junge Leute zu sehen. Doch die sind arbeitslos. Sie ziehen durch die Städte, um durch den Verkauf aller möglichen Kleinigkeiten ein wenig Kleingeld zu verdienen. Ein Bild des Jammers.

Nicht minder ist es das Bildungswesen. Fachleute schätzen, dass die reale Alphabetisierungsquote unverändert bei etwa zwanzig Prozent liegt. Im Parlament sitzen Abgeordnete, die nicht lesen und schreiben können.

Der Präsident ist ständig im Ausland

Die Regierung aber baut das Schulwesen kaum aus, das mit dem extremen Wachstum der Bevölkerung nicht Schritt halten kann. Viele Lehrer sind schlecht ausgebildet. Der Erziehungsminister machte vor kurzem die Ergebnisse einer Überprüfung von über dreitausend Grundschullehrern bekannt. Dabei kam heraus, dass etliche Lehrer nicht wussten, was die Hälfte von 6 ist. Schulleiter konnten nicht sagen, wieviel 30 minus 12 ist.

Die wirtschaftliche Stagnation, die das Land kennzeichnet, hält an. Im Land verarbeitete Güter, die auch im Ausland verkäuflich wären, gibt es so gut wie nicht. Von einer wirtschaftlichen Dynamik wie etwa in Ruanda und Äthiopien ist hier nichts zu spüren.

Seit einiger Zeit zeigt sich im Volke Widerstand gegen die Politik der Regierung. Viele tausend Menschen zogen in den letzten Monaten immer wieder demonstrierend durch die Straßen Niameys und anderer Städte.

Präsident Mahamadou Issoufou schwebt über allem. Er ist ständig im Ausland unterwegs. Weil Niger als Durchgangsland der Migration eine große Rolle spielt, ist Issoufou auch in Deutschland ein gern und häufig gesehener Gast. Im November war er auf der Klimakonferenz in Bonn. Direkt neben dem Kölner Dom logierte er im Hotel „Excelsior Ernst“. Ein Einzelzimmer kostete zu der Zeit je Nacht nach Hotel-Angaben mehr als 600 Euro. Wenn er auf eine Auslandsreise geht, versammelt sich am Flughafen das gesamte Kabinett samt Parlamentspräsident und weiteren Honoratioren, um ihn zu verabschieden. Sie dürfen erst wieder gehen, wenn das Flugzeug abgehoben hat. Die gleiche Übung findet bei der Heimkehr des Präsidenten statt.

Einen plausiblen Entwicklungsbegriff – also von selbsttragender und nachhaltiger Entwicklung – scheint die herrschende politische Klasse nicht zu haben. Für den Präsidenten bedeutet Entwicklung offensichtlich, möglichst viel Geld im Ausland einzusammeln. Im November kam er von einer Geberkonferenz in Paris zurück und verkündete siegreich, für den neuen Fünfjahresplan (2017-2021) seien 23 Milliarden Dollar zugesagt worden. Was davon tatsächlich fließen wird und was bei der Bevölkerung ankommt, sind ganz andere Fragen. Sicher ist, dass die politische Klasse neues Futter bekommen wird. Sie versteht das, was unter „Demokratie“ firmiert, vor allem als Versorgungsauftrag für sich selbst. Wer nicht in die Kasse langt, von dem sagen die Leute: „Il est maudit.“ - Er ist verflucht, von einem bösen Geist besessen.

Eigentlich müsste Afrika Entwicklungshilfe geben

Die nigrische Regierung besteht aus 43 Ministern, allein sechs gibt es für den Bildungssektor. Dazu kommen zahlreiche ‚Conseillers‘: Berater im Ministerrang ohne Portefeuille, oft sogar ohne Büro, aber mit Gehalt, Dienstwagen, Fahrer und weiteren Annehmlichkeiten wie einem Diplomatenpass.

Öffentliche Ämter werden nicht nur in Regierung und Parlament.als Versorgungseinrichtungen verstanden. Auch die Justiz erfreut sich üppiger Zuwendungen. Die Gehälter der obersten Richter in Niger entsprechen etwa dem Zwanzigfachen dessen, was ein Grundschullehrer verdient.

Der Staatsapparat gilt als aufgeblasen und ineffizient. Die Regierung schafft es etwa nicht, die Hauptstadt Niamey von Müll frei zu halten. Mit Eselskarren, Besen, Schippen und der Beschäftigung vieler Menschen könnte das Problem auf einfache Weise gelöst werden. Das findet die Regierung aber nicht „modern“. Stattdessen hat sie einen entsprechenden Auftrag an die französische Firma „Veolia“ vergeben.

Vom Führungspersonal des Landes kommen keine produktiven Entwicklungsimpulse. Es „liefert“ nicht. Und das gilt für das Gros der Politiker Subsahara-Afrikas. Jedenfalls leisten sie nicht genug, um die Völker dieser Region aus Armut und Rückständigkeit zu holen. Es fehlt an Eigenleistung – um die unverantwortlich hohe Geburtenrate zu senken, um allen Kindern eine angemessene Grundbildung zu vermitteln, um rationale Wirtschaftsabläufe zu organisieren, Verkehrswege und technische Anlagen instand zu halten, um effiziente Verwaltungen und vor allem eine politische Kultur des Dienens zu schaffen.

Dieser Situation begegnet die deutsche Politik, allen voran Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU), mit einiger Ahnungslosigkeit. Er stellt die Realität auf den Kopf, indem er etwa behauptete, wir lebten „auf Kosten Afrikas“. Deutschland greift Niger seit Anfang der sechziger Jahre mit Geld und Personal unter die Arme. Allein zwischen 2014 und 2017 waren es knapp 100 Millionen Euro. Wer die Völker Afrikas tatsächlich ausbeutet, scheint der Minister offenbar nicht zu wissen. E spricht von „unserem Kolonialismus“.

Damit steht er nicht allein. Gegen jede Evidenz fordern in diesen Wochen einige Entwicklungshilfeorganisationen, angeführt von der „Deutschen Stiftung Weltbevölkerung“, eine massive Erhöhung der deutschen Zahlungen. Sie müssten wissen, dass der afrikanische Stillstand mit Mangel an ausländischem Geld nichts zu tun hat. Der ghanaische Präsident Akufo-Addo unterstreicht das. Er spricht vom „riesigen Reichtum des Kontinents“. Eigentlich müsse Afrika anderen Entwicklungshilfe geben.

Nur mit Reformdruck von innen wird sich in Afrika etwas ändern. Die Erhöhung externer Leistungen geht in die falsche Richtung. Hilfe von außen mindert internen Handlungsdruck und stützt die Versager. Es ist Zeit, damit aufzuhören.