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Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 08.07.2017

Der Spiegel

Das große Missverständnis

Immer mehr Flüchtlinge drängen aus Afrika nach Europa. Auch deshalb pumpt Kanzlerin Merkel Milliarden an Hilfsgeldern in den Kontinent. Doch ist mit Geld allein geholfen?

Am 3. April 1948 verabschiedete der amerikanische Kongress einen Plan, der das Gesicht Europas verändern sollte. Mit Zuschüssen und Krediten von insgesamt 12,4 Milliarden Dollar sollten nicht nur jene Länder in Westeuropa unterstützt werden, die vom Krieg verwüstet worden waren. Das "European Recovery Program" sollte auch dazu dienen, einen neuen Absatzmarkt für amerikanische Produkte zu schaffen.

Das Vorhaben glückte furios.

Als das Programm nach vier Jahren auslief, war die Wirtschaft fast aller geförderten Länder in Europa wieder in Gang gekommen. Im Jahr 1953 wurde dem Erfinder des Plans, dem vormaligen amerikanischen Außenminister George C. Marshall, der Friedensnobelpreis zuteil.

Lässt sich Geschichte wiederholen?

Als Angela Merkel am vergangenen Montag das Wahlprogramm der Union vorstellte, erwähnte sie dabei auch die Afrikapolitik. Gerade die Deutschen hätten ein ureigenes Interesse an einer guten Entwicklung des Kontinents, erklärte sie. "Deshalb sprechen wir uns für einen Marshallplan mit Afrika aus."

Es war eine spektakuläre Wende. Als sie im vergangenen Oktober mehrere afrikanische Länder besuchte und dabei auch in Niger Station machte, hatte sie die Idee eines Marshallplans noch abgelehnt. Die Bedingungen im heutigen Afrika seien völlig andere als die in Europa nach Kriegsende. Es fehle an ausgebildeten Fachkräften, an funktionierenden Verwaltungen, an einem belastbaren Wirtschaftsmodell.

Warum nun der Sinneswandel? Unmittelbar vor dem G-20-Treffen in Hamburg hatten Merkel und ihre Berater die Lage neu bewertet. Zum einen blockierte US-Präsident Donald Trump Erfolge bei der Klimapolitik, und auch beim Handel standen alle Zeichen auf Konflikt.

Merkel brauchte einen Pakt, der Afrika Wachstum und Wohlstand verspricht. Einen Pakt, der Erinnerungen an dynamische Zeiten weckt. Einen Pakt, der zumindest in Ansätzen erkennen lässt, dass Europa nicht gewillt ist, Afrika allein den chinesischen Investoren zu überlassen.

Zudem keimte bei der Kanzlerin die Sorge auf, dass die Flüchtlinge aus Afrika ihren Wahlkampf belasten könnten. In dieser Woche drohte Österreich mit neuen Grenzkontrollen am Brenner. Auch in Österreich wird im Herbst gewählt, deshalb macht der christsoziale Außenminister Sebastian Kurz Druck. "Europa darf nicht einfach zuwarten und die Hände in den Schoß legen", sagt er. Kurz fordert "einen Systemwechsel, und das ist eine Frage der politischen Entschlossenheit". Nach der Rettung im Mittelmeer müssten die Migranten "an der Außengrenze gestoppt, versorgt und zurückgebracht werden in ihre Herkunftsländer oder in Zentren in sicheren Drittstaaten, etwa in Nordafrika".

Auch Kurz spielt mit der Option einer Schließung des wichtigsten Alpenpasses: "Wenn es die Lage erfordern sollte, sind wir jederzeit bereit, Grenzkontrollen am Brenner durchzuführen und den illegalen Migranten das klare Signal zu senden, dass es am Brenner kein Durchkommen gibt."

Seit Beginn des Jahres hat Italien über 85 000 Flüchtlinge aufgenommen, rund 20 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Fast alle hatten ihr Boot in Libyen bestiegen. Die Lage seines Landes sei mit der der Türkei in der Flüchtlingskrise im Jahr 2015 durchaus vergleichbar, klagte der italienische Ministerpräsident Paolo Gentiloni beim Brüsseler EU-Gipfel Ende Juni. Nur bekomme sein Land keine Milliardenzahlungen aus Brüssel, um der Lage Herr zu werden. "Ein Bruchteil dessen, was die Türkei kriegt, würde uns schon reichen", sagte der Regierungschef.

2015 hatte sich die EU darauf verständigt, die Migranten, die in Europa ankommen, auf die ganze EU zu verteilen. 160 000 Flüchtlinge aus Griechenland und Italien, so die Zusage von damals, sollten in andere EU-Staaten umgesiedelt werden. Erreicht wurde dieses Ziel nicht einmal ansatzweise. "Wir sollten feste Kontingente nutzen, um Italien zu helfen", sagt Manfred Weber, Chef der konservativen EVP-Fraktion im Europaparlament, "soweit es wirklich um Flüchtlinge geht."

Doch dieser Vorschlag ist nicht ohne Tücken. Die EU-Pläne sehen eigentlich vor, dass nur Flüchtlinge umgesiedelt werden, die auch eine Aussicht haben, Schutz zu erhalten, weil sie verfolgt werden. Die meisten Menschen, die derzeit in Italien ankommen, fliehen aber vor der Armut in ihren Heimatländern.

Was also tun? Weber verlangt eine schärfere Gangart in Libyen. "Es muss Schluss damit sein, dass ein paar Tausend Schlepper und Schleuser die ganze EU in Geiselhaft nehmen", sagt Weber. "Wir brauchen ein Uno-Mandat, um die Schleuser auch an der Küste und in Küstengewässern zu bekämpfen. Da müssen die Europäer notfalls auch die Waffe in die Hand nehmen." Aber ist es denkbar, dass europäische Soldaten auf Schleuserboote schießen und sie versenken?

Auch die EU-Innenminister kamen am Donnerstag bei ihrem informellen Treffen im estnischen Tallinn nicht wirklich weiter. Ein besserer Datenaustausch und eine schnellere Rückführung abgelehnter Asylbewerber – auf mehr konnten sich die Minister nicht einigen. "Es gibt im Moment keine konsistente Antwort auf das Problem", bekannte einer der Teilnehmer.

Kanzlerin Merkel würde das Problem gern anders angehen, grundsätzlicher. Auch deshalb hat sie das Wort "Marshallplan" in den Mund genommen. Ausgedacht hatte sich das Konzept Ende 2016 Entwicklungsminister Gerd Müller. Er hatte die Idee, mit Krediten die afrikanische Wirtschaft aufzupäppeln und so Arbeitsplätze zu schaffen, damit erst gar nicht der Gedanke aufkeimt, nach Europa zu emigrieren. An die dreieinhalb Milliarden Euro pro Jahr darf Müller inzwischen ausgeben, um die Ursachen von Flucht und Vertreibung zu reduzieren oder Flüchtlinge zu unterstützen.

"Wahnsinnig – wir berauschen uns an etwas, das in sechs Monaten wieder verflogen sein wird."

Nur: Wird das auch funktionieren? "Wer glaubt, die Probleme der Entwicklungszusammenarbeit nur durch mehr Geld lösen zu können, unterliegt einem eklatanten Irrtum oder betreibt Politik in eigener Sache", notierte vor drei Jahren schon der Afrikabeauftragte der Bundeskanzlerin, Günter Nooke, CDU. Manches spreche dafür, "dass dieser ganze Hype um die Afrikapolitik ein großes Missverständnis bleibt", sagt der langjährige Leiter des Hamburger Giga-Instituts für Afrikapolitik, Robert Kappel.

Kappel hält es für sehr gewagt, wenn sich Deutschland plötzlich eine Führungsrolle bei der Entwicklung des Nachbarkontinents zuspreche. "Das ist doch wahnsinnig – wir berauschen uns da gerade an etwas, das in sechs Monaten wieder verflogen sein wird." Die Bundesregierung könne "die Hoffnungen, die sie schüre, gar nicht erfüllen".

Wenn die Idee des Marshallplans ernst gemeint wäre, müsste er viel umfassender ansetzen. Nötig wären etwa faire Handelsabkommen: Vereinbarungen also, die vor allem afrikanischen Unternehmern nutzen und nicht europäischen Nahrungsmittelproduzenten. Nötig wären der Aufbau einer verarbeitenden Industrie und die Entwicklung afrikanischer Binnenmärkte. Und Brüssel müsste darauf verzichten, europäische Fangflotten und Großbauern mit Subventionen zu päppeln. Denn die sorgen dafür, dass Afrika mit billigem Milchpulver, Tomatenmark und Fleisch überschwemmt und vor der Küste der Fisch weggefangen wird.

In Hamburg zeigte Merkel erstmals Verständnis für die Problematik der Handelsabkommen. Nur, ihre Politik war bisher eine andere. "Unsere Agrar- und Ernährungspolitik oder auch die Handelspolitik wirken sich unmittelbar und mittelbar negativ auf viele Entwicklungsländer und vor allem auf die arme Bevölkerung dort aus", bemängelt Klaus Töpfer, der viele Jahre das Uno-Umweltprogramm in Nairobi geleitet hat. Bisher habe die Debatte noch nicht einmal begonnen, ob man die heimische Wirtschaft fördern will – oder darauf verzichtet, um Unternehmen und Bauern in Afrika eine Chance zu geben. "Wollen wir die afrikanische Wirtschaft fördern oder die eigene?", fragt sich auch der Grünenexperte Uwe Kekeritz.

Kaum eine Exportmacht zahlt höhere Agrarhilfen als die Europäische Union. "Solange Europa und die USA ihre Landwirtschaft so extrem subventionieren, haben afrikanische Bauern keine Chancen auf Europas Märkten", sagt Afrikaexperte Kappel, "abgesehen von den Produkten, die hier nicht produziert werden."

Auch für den Afrikawissenschaftler Helmut Asche, Professor an der Universität Mainz, liegt der Schlüssel für eine solide Entwicklung des Kontinents in einer umfassenden Reform der europäischen Handels-, Agrar- und Fischereipolitik. Brüssel schütze und subventioniere die europäischen Landwirte und Fischer in einer weltweit einmaligen Dimension. "Eine Fluchtursachenbekämpfung, die ernst gemeint wäre, würde diese einseitigen Hilfen beenden", sagt Asche. Aber Gerd Müller ist nicht nur Entwicklungshilfeminister, sondern auch CSU-Politiker, der die Bauern zu Hause in Bayern nicht als Wähler verlieren möchte. Deswegen hat er sich bisher noch nie an das Thema Agrarsubventionen herangewagt. "Dass Müller alle paar Tage einen fairen Handel fordert, ist nur noch skurril", sagt Asche.

Viele, die es gut mit Afrika meinen, fordern deshalb, die Entwicklungspolitik nicht als Instrument zu sehen, den Flüchtlingsstrom abzuschneiden. Zum Beispiel der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler, der sich in seiner Amtszeit wie kein Staatsoberhaupt zuvor um die Sorgen und Nöte der Afrikaner gekümmert hatte. "Wenn nicht mehr das entscheidend ist, was Afrika nachhaltig voranbringt, sondern nur noch das, was die Zahl der bei uns ankommenden Afrikaner reduziert", sagte er vor Kurzem, "hat das nur noch wenig mit wirksamer Entwicklungspolitik zu tun." Es war eine diplomatische Wendung, aber es war auch ein deutlicher Satz an die Adresse von Angela Merkel.

Horand Knaup, Peter Müller, Jonas Weyrosta