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Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 09.01.2017

SZ

„Entwicklungshilfe wirkt negativ“

Nobelpreisökonom Angus Deaton redet über die Fehler des Westens in der Dritten Welt. Er erzählt, warum seine Mutter stets irritiert war, wenn er als Kind las – und warum er nicht Donald Trump gewählt hat

INTERVIEW: ALEXANDER HAGELÜKEN UND JAN WILLMROTH

Immer mehr Menschen im Westen lehnen die Globalisierung ab. Dagegen setzt der Ökonom Angus Deaton in seinem Buch „Der große Ausbruch“, das nun auf deutsch erscheint, eine Erfolgsgeschichte: Wie Europäer und Amerikaner durch die Industrialisierung zu Wohlstand kamen. Und warum China und Indien vormachen, dass Marktwirtschaft und Freihandel für die armen Nationen nicht das Problem sind, sondern die Lösung.
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Sie sagen, die globale Ungleichheit von heute sei zu einem großen Teil auf den Erfolg modernen Wachstums im Westen zurückzuführen. Das ist eine ungewöhnliche Perspektive.

Ungleichheiten innerhalb von Ländern gab es schon immer, etwa zwischen Königen und Bauern. Heute finden Sie die größten Ungleichheiten zwischen Staaten. Diese große Divergenz entwickelt sich seit 250 Jahren durch die Industrialisierung, den Aufstieg Europas und Ländern wie der USA und Kanada.

Als Erklärung ist oft schnell zur Hand, der reiche Westen beute den Rest der Welt aus. Sie sagen: Das stimmt nicht.

Natürlich hat die große Divergenz auch mit Gewalt zu tun. Die Kolonialisierung war größtenteils Ausplünderung. Sie hat in Südamerika, Afrika und Asien großen Schaden angerichtet und erklärt mit, warum heute so viele Länder so arm sind. Aber dass unser Wohlstand auf der Ausbeutung armer Länder beruht, stimmt nicht mehr. Wenn wir heute aufwachen würden und Afrika wäre weg, würde das für unseren Wohlstand kaum einen Unterschied bedeuten. Afrika spielt im Handel kaum eine Rolle, höchstens bei ein paar Rohstoffen.

Sie halten die Reduktion der weltweiten Armut seit den 80er Jahren für den „vielleicht größten Ausbruch“ der Geschichte. Wird das zu wenig anerkannt?

Das kommt sehr darauf an, wo Sie leben. In den USA wird das viel mehr gesehen als in Europa, wo es eine stärkere linke Tradition gibt. Ich respektiere Globalisierungskritiker, aber die müssen mir mal erklären, wie Milliarden von Menschen schlechteren Verhältnissen entkommen sind.

Ein Westler, der nicht besser dran ist als seine Eltern vor zwanzig Jahren, sagt vielleicht: Das interessiert mich nicht.

Es ist viel verlangt, wenn Leute ihre eigenen Probleme ignorieren sollen zugunsten von Menschen, die weit weg leben. Politiker sollten die Globalisierung sozial inklusiver machen, aber nicht stoppen.

Lässt sie sich überhaupt stoppen?

Das wäre schwierig. Aber einige kommen dem schon sehr nahe: Die USA verhandeln Handelsverträge neu, der Brexit wird Zölle zurückbringen. Da droht eine Kettenreaktion. Wenn einer anfängt, machen die anderen mit. Wir haben das in den 30er Jahren schon einmal gesehen.

Sie schreiben, die sinkende Armut sei zum Großteil auf Indien und China zurückzuführen. Was lässt sich daraus lernen?

Der wichtigste Aspekt ist, dass vieles davon durch Freihandel zustande kam. Indien etwa öffnete sich um 1980 und setzte viele wirtschaftliche Reformen um. Wenn Sie heute die Apple-Hotline anrufen, geraten Sie wahrscheinlich an jemanden in Bangalore oder Kalkutta. Bei meinen Studien dort interviewte ich manchmal eine Woche lang nur Frauen in Häusern, die keinerlei Bildung hatten. Vor dem Fenster sah ich ihre Töchter zur Schule gehen. Das ist der große Ausbruch, von dem ich spreche.

Was sahen Sie 1980 in Indien, verglichen mit dem Lebensstandard von heute?

Ich halte mich mit persönlichen Beobachtungen zurück. Bei vielen Entwicklungsökonomen lesen Sie, was die sehen, wenn sie aus dem Flieger steigen. Das ist nicht unbedingt repräsentativ. Erinnern Sie sich an die Furcht vor Übervölkerung in den 60er und 70er Jahren? Viel davon kam von Forschern, die in Entwicklungsländern landeten, all die Menschen sahen und dachten: Du meine Güte, das verkraftet die Welt nicht! Das stellte sich als übertrieben heraus.

Was sind denn Ihre größten akademischen Fehler gewesen?

Ich erinnere mich nicht daran, einmal einen großen Fehler bemerkt zu haben. Ich habe aber oft meine Meinung geändert. Keine Ahnung, ob das gut ist.

Sind Ihre politischen Ansichten inzwischen ganz anders?

Ich finde die Politik heute viel wichtiger für die wirtschaftliche Entwicklung als früher. Es wirkt seltsam, dass es nicht hilft, Menschen Geld zu geben. Aber wenn Sie sich die Hunderte von Milliarden Dollar anschauen, die nach Afrika gingen: die brachten nicht viel. Es fließt viel Geld an Länder, in denen die Regierung zu einem großen Teil von ausländischen Geldgebern abhängt. Wir sollten niemals Entwicklungshilfe an ein Land zahlen, dessen Regierung sich zu mehr als sagen wir 25 Prozent aus dem Ausland finanziert. Entwicklungshilfe wirkt negativ. Jedenfalls, wenn Sie es im Durchschnitt betrachten.

Wenn reiche Länder von ihrem Reichtum abgeben, ist das doch erst mal gut.

Stellen Sie sich vor, Sie leben in einem Haus in Deutschland. Ein ziemlicher schräger Typ kauft das Haus nebenan, er gehört einen merkwürdigen Kult oder einer Sekte an, die glaubt, dass Frauen Sklavinnen des Mannes sind. Der Nachbar unterdrückt seine Frau, die beiden haben kaum Geld. Was können Sie tun, um das Leben der Frau zu verbessern? Sollten Sie ihrem Mann Geld geben? Diese Analogie passt gut zu manchen Diktatoren in Afrika, die sich überhaupt nicht um ihre Bevölkerung scheren.

Wir würden das Geld einer unabhängigen Entwicklungsorganisation geben.

Gut, also nicht dem Mann. Wie wäre es mit einer NGO, die das Geld an die Frau weitergibt? Auch das kann er ihr nachher wegnehmen. Gut, dann gibt man das Geld nur unter Auflagen: Er darf nur 20 Prozent behalten. Er wird sich nicht daran halten. NGOs ziehen selten Geld ab, wenn es missbraucht wird.

Ökonomen betonen oft die Qualität von Institutionen. Kommt es auf die an?

Ja, aber es weiß niemand so genau, wie man von einem ausbeuterischen Regime zu einem System kommt, das repräsentativ ist und institutionell gut funktioniert.

Was wäre besser, als nur Geld zu zahlen?

Ich habe nie verstanden, warum europäische Staaten an so viele Regime Waffen verkaufen, denen sie gleichzeitig Entwicklungshilfe zahlen. Oder warum sie Zölle auf deren Produkte erheben. Als würden sie mit der einen Hand zunichtemachen, was die andere schafft.

Halten Sie wirklich Freihandel für die bessere Entwicklungshilfe?

Es kommt sehr darauf an, wie ein Handelsvertrag gestaltet ist. Ob es um den Abbau von Zöllen geht oder nur darum, multinationalen Konzernen Zugang zu gewähren. Wenn auf US-Seite Anwälte von Pharmafirmen oder Banken mitverhandeln, ist das unfair. Die Weltbank sollte ärmeren Ländern in solchen Verhandlungen helfen.

Welche Institutionen fragen Sie um Rat, seit Sie den Nobelpreis bekamen?

Gar nicht so viele. Vielleicht denken die Leute, ich sei gefährlich oder so. (lacht)

Was hat sich durch den Preis verändert?

Die Menge an E-Mails! Es ist viel schwieriger geworden, meinen Terminplan zu pflegen. Ich vergesse Dinge. Vielleicht baut mein Gehirn schon ab, könnte sein. Und die ständigen Reisen: Vergangene Woche war ich in Paris, ich werde bis Mitte kommender Woche an drei weiteren Orten sein, erst dann fliegen wir heim. Dann fliege ich wieder nach China, von dort nach London, Edinburgh, wieder nach China.

Was machen Sie mit dem Preisgeld?

Ach, das ist nicht so viel Geld.

800 000 Dollar?

Sie würden das anders sehen, wenn Sie in Amerika lebten. Fünf Tage, bevor ich mit 69 den Preis bekam, hatte ich mich entschlossen, in den Ruhestand zu gehen. Die Uni Princeton bezahlt mir keine Pension. Wie die meisten Unis in den USA zahlt sie in einen Altersvorsorge-Fonds. Das meiste steckt in Aktien, in wenigen Tagen könnte die Hälfte weg sein. Geht ein Professor in den Ruhestand, muss er sich sorgen, wie lange er lebt und wie lange das Geld reicht. Und anders als in Europa musste ich das Preisgeld voll versteuern, mit über 50 Prozent. Ich habe übrigens durch etwas anderes viel mehr Aufmerksamkeit bekommen als durch den Nobelpreis.

Durch was?

Meine Studie, wonach die Sterberate der Weißen in den USA gestiegen ist, brachte fünfmal so viel Aufmerksamkeit. Jeder Präsidentschaftskandidat sprach darüber, Zeitungen verfolgten uns über Wochen.

„Wenn einer reich ist und in Washington lobbyiert, dann verändert sein Geld durchaus mein Wohlbefinden.“

Ist es nicht bizarr, dass ökonomisch Unzufriedene Trump wählten und jetzt eine Ministerriege von Superreichen bekommen?

Ja. Sie sehen Milliardäre wie Trump selbst vielleicht als erfolgreiche Geschäftsleute und deshalb als qualifiziert, das Land zu führen. Ich halte das für eine Täuschung, aber ich habe ja auch nicht Trump gewählt.

Sie beschreiben die USA als Beispiel für die dunkle Seite der Ungleichheit, für ökonomische und politische Bedrohungen des Wohlstands durch Plutokratie. Was meinen Sie damit?

Washington wird von Lobbyisten dominiert. Sie arbeiten für Banken, Pharmabranche, Rüstungsfirmen. Das System verlangt von Senatoren und Kongressabgeordneten, ständig Geld zu besorgen, um ihre Wiederwahl zu ermöglichen. Also sind sie auf Menschen angewiesen, von denen sie Geld bekommen können.

Sie haben es kriminell genannt, Banken in der Finanzkrise mit Steuergeld zu retten.

Das klingt drastisch. Aber damals wurden den reichsten Leuten, die je auf diesem Planeten existierten, Hunderte Millionen Dollar gegeben von Menschen, die viel weniger oder sogar überhaupt nichts mehr hatten. Die Wirtschaft ging in Flammen auf – und warum? Weil die Banken erfolgreich gegen strengere Regeln lobbyiert hatten.

Ex-Notenbankchef Paul Volcker sagte: Die letzte wirkliche Innovation der Banken war der Geldautomat. Sieht ihr Sohn, ein Hedgefonds-Manager, das genauso?

Ich glaube schon! Er würde nicht behaupten, dass es sozial verantwortungsvoll ist, was er tut. Aber er gehört einem Sektor an, der nicht mit Steuergeld gerettet wurde.

Der Harvard-Ökonom Martin Feldstein schreibt: Ungleichheit ist kein Problem, das wir in Ordnung bringen müssen. Was sagen Sie ihm?

Wenn Sie reich werden und ich bleibe wo ich bin, dann stellt mich das in keiner Weise schlechter. Neid ist nichts, um das wir uns wirklich kümmern müssen. Mein Leben ändert sich nicht, nur weil ein anderer mehr Geld hat. Darüber spricht Martin. Auf der anderen Seite geht es beim Wohlbefinden nicht nur um meine Finanzen. Wenn einer reich ist und mit seinem Geld in Washington lobbyiert, damit der Staat geschrumpft wird und Kliniken geschlossen werden, dann verändert sein Geld durchaus mein Wohlbefinden.

Sie beschreiben Bildung als eine Möglichkeit zum Aufstieg aus der Armut. Warum versagen die Bildungssysteme oft darin, die Ungleichheit zu verringern?

Chancengleichheit ist ein schwieriges Konzept. Unterschiede entstehen nicht nur daraus, ob jemand in einer reichen oder armen Familien aufwächst. Sondern auch, weil nur manche Eltern ihre Kinder ermutigen, sich zu bilden. Mein Vater merkte, dass er bei seiner Bildung etwas verpasst hatte und ermutigte mich. Meine Mutter dagegen kümmerte sich überhaupt nicht um Bildung. Sie war immer irritiert, als sie mich lesend sah.

Verstand sie später, dass sie falsch gelegen hatte?

Ich bin nicht sicher. Mein Vater war – auf seine Art – stolz auf mich. Meine Mutter aber war eine ziemlich unglückliche Person. Sie kam aus einer Familie von Land- und Forstwirten nahe der englischen Grenze zu Schottland. Das war ihre Welt. Wenn Ihre Eltern ein völlig anderes Bildungsniveau haben als Sie, verlieren Sie irgendwann den Bezug zu ihnen.

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Der Schotte Angus Deaton, 71, forscht über das Verhalten von Verbrauchern, Entwicklungshilfe und Globalisierung, zuletzt als Professor in Princeton. 2015 bekam er den Nobelpreis für Ökonomie.