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Beitrag vom 01.07.2016

FAZ

Äthiopien

Stabilisator oder Problem?

Kaum beachtet, aber wichtig: Welche Rolle Äthiopien für Europa spielt

Von Lorenz Hemicker

ADDIS ABEBA, im Juni

Dutzende Männer laufen im Gleichschritt über eine Straße, rufen Parolen, einige recken ihre Fäuste in die Höhe. Der Protest in Äthiopiens größter Region Oromia, die die Hauptstadt Addis Abeba umschließt, bleibt nicht lange friedlich. Das Video, das "Human Rights Watch" am 15. Juni auf Youtube veröffentlicht hat, zeigt im weiteren Verlauf fliehende Demonstranten, niedergeschossene Männer und Festgenommene, die unter den Augen von Uniformierten mit Schlagstöcken misshandelt werden. Die Menschenrechtsorganisation wirft den äthiopischen Sicherheitskräften vor, zwischen November 2015 und Mai 2016 über 400 Studenten, Bauern und friedliche Demonstranten getötet sowie Zehntausende willkürlich verhaftet zu haben.

Die Reaktionen der Sicherheitskräfte auf die Proteste, die sich gegen befürchtete Enteignungen im Umland der boomenden Hauptstadt richteten, sind charakteristisch für ein Regime, das Stabilität mit Härte erkauft. Ministerpräsident Hailemariam Desalegn regiert das ostafrikanische Land seit 2012 mit eiserner Faust, ganz in der Tradition seines Vorgängers Meles Zenawi, der 21 Jahre lang an der Spitze Äthiopiens stand. Eine parlamentarische Opposition gibt es nicht mehr, kritische Journalisten werden verfolgt, der Zugang zu sozialen Medien ist eingeschränkt. Kritik wird kaum geäußert. In der äthiopischen Öffentlichkeit dominiert das Selbstbild einer wirtschaftlich aufstrebenden Nation, die sich nach und nach aus der Armut befreit. Selbst die schlimmste Hungersnot seit 30 Jahren, die sich gerade im Norden des Landes anbahnt, wird in der Hauptstadt, wo die Afrikanische Union ihren Sitz hat, nicht als Bedrohung wahrgenommen. Von Hungernden droht keine existentielle Gefahr für das System, zumindest bisher nicht.

Dass Europa und ganz besonders Deutschland trotz der Menschenrechtsverstöße ein vitales Interesse an Stabilität in Äthiopien haben, ist offenkundig. Das ist nicht nur daran zu erkennen, dass die Münchner Sicherheitskonferenz im Frühjahr erstmals eines ihrer sicherheitspolitischen Treffen in Addis Abeba abgehalten hat, zu dem diese Zeitung eingeladen war. Äthiopien gilt als entscheidender Stabilitätsanker am Horn von Afrika. Dafür gibt es Gründe.

Aus den Krisengebieten der Nachbarstaaten strömen die Vertriebenen nach Äthiopien. Durch das Land führt die wichtigste Flüchtlingsroute aus Somalia, über den Sudan nach Libyen, von wo aus Hunderttausende an Bord von Schlepperbooten die gefährliche Fahrt über das Mittelmeer nach Europa riskieren. Viele von denen, die diese Route wählen, lassen sich indes schon in Äthiopien nieder. Das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen gibt in seinem jüngsten Bericht die Zahl der in Äthiopien aufgenommenen Flüchtlinge mit knapp 750 000 Menschen an. Das sind so viele wie nirgendwo sonst in Afrika. Und auch weltweit rangiert das Land damit auf Platz fünf, hinter der Türkei, Pakistan, Iran und dem Libanon.

Doch nicht nur als sicherer Hafen für Flüchtlinge ist Äthiopien von Bedeutung. Das Land engagiert sich militärisch stark in der Region, die von Bürgerkriegen zerrüttet ist und in der Terrormilizen ihr Unwesen treiben. Knapp 4500 Soldaten und Polizisten gehen im Rahmen der Mission der Afrikanischen Union in Somalia (Amisom) gegen die radikal islamistische Al-Shabab-Miliz vor, die umgekehrt auch nach Kenia und Äthiopien drängt. Tausende weitere Sicherheitskräfte stehen im Westen in der zwischen Sudan und Südsudan umstrittenen Region Abyei. Die Vereinten Nationen weisen Äthiopien als das Land aus, das die meisten UN-Friedenstruppen insgesamt stellt. Mehr als 8300 Mann sind gegenwärtig in den Missionsgebieten der Vereinten Nationen aktiv. Gerade erst sicherte sich Äthiopien in der UN-Vollversammlung einen nicht ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat, dem das Land damit ab 1. Januar 2017 für zwei Jahre angehören wird.

Die Armee kommt indes nicht nur bei multinationalen Missionen zum Einsatz. Die Härte, die Äthiopien nach innen und im Kampf gegen Terroristen zeigt, demonstriert die Regierung auch in zwischenstaatlichen Konflikten. Bei schweren Gefechten mit Eritrea sind Mitte Juni Hunderte Soldaten beider Seiten gefallen. Die Länder sind verfeindet, der gemeinsame Grenzverlauf ist umstritten.

Als Akteur bei der Bewältigung von Flüchtlingsbewegungen und terroristischen Gefahren wird Äthiopien in Europa dennoch kaum wahrgenommen. Das mag im Fall der Terrorismusbekämpfung an der Verschwiegenheit des Sicherheitsapparats liegen. Bei der Flüchtlingskrise hat es zumindest im politischen Berlin andere Gründe. Die Haupttransitländer wie Libyen stünden auf dem afrikanischen Kontinent im Vordergrund, ist aus dem Kanzleramt zu hören. Mehr Aufmerksamkeit würde Äthiopien wohl dann zuteil, sollten die Verhältnisse instabiler werden. Das könnte passieren, wenn das Land seinen Wachstumspfad verlassen und das Regime die Erwartungen der stark wachsenden Bevölkerung nicht mehr erfüllen könnte. Westliche Diplomatenkreise rechnen für den Fall sowohl mit Flüchtlingsbewegungen Richtung Europa als auch mit zunehmender religiöser Radikalisierung unter den rund 92 Millionen Einwohnern des Landes, die etwa je zur Hälfte Christen und Muslime sind.

Der Siegeszug des Wahhabismus am Horn von Afrika, dessen Verbreitung von der arabischen Halbinsel aus massiv unterstützt wird, wird in Äthiopien mit Sorge verfolgt. Eine Radikalisierung von Muslimen im eigenen Land, so die Befürchtung, würde automatisch zu einer Gegenreaktion auf christlicher Seite und zu gefährlichen Spaltungen führen. Diese Tendenzen zu unterbinden dürfte in den kommenden Jahren eine große Herausforderung werden.

Als Stabilisator Ostafrikas gilt Äthiopien aus europäischer Sicht als alternativlos. "Sie sind die Einzigen, die es können", sagt ein ranghoher europäischer Vertreter, der nicht mit Namen genannt werden will. Die Herausforderung für Europa werde es sein, das Regime einerseits dazu zu bewegen, sich von autokratischen Strukturen zu lösen, und andererseits zu vermeiden, dass das Land ins Chaos stürze. Nur so lasse sich auch das Wirtschaftswachstum fortschreiben, ohne dass Äthiopien binnen kurzem vom Stabilitätsanker zum Brennpunkt einer neuen Flüchtlingskrise und zum Operationsgebiet von Terroristen werden könnte.