Beitrag vom 28.12.2015
Tagesanzeiger/Zürich
Die verblüffendste Stadt Afrikas
Eritreas Hauptstadt Asmara sieht aus, als wäre die Zeit vor fast hundert Jahren stehen geblieben.
Von Johannes Dieterich
In einer kopfsteingepflasterten Gasse parkt ein knallroter Fiat 1500 Cabriolet, Baujahr 1964, vor einer historischen Häuserzeile ein. Heraus steigt ein dunkelhäutiger Herr mit grau meliertem Schnauzbart und italienischem Borsalino-Hut und begibt sich in eine Farmacia, die von aussen wie ein Relikt aus der Frühzeit des vergangenen Jahrhunderts wirkt. In der Apotheke fühlt man sich vollends in die Vergangenheit zurückversetzt: Als Medikamentenschränke dienen verschnörkelte Vitrinen aus Holz und Glas; und auf dem Tresen thront eine Kasse, an der man zum Öffnen des Geldfachs noch kurbeln muss. Es ist, als ob hier ein historischer Roman verfilmt wird. Doch es handelt sich um eine Alltagsszene aus dem Jahr 2015 – ein Montagmorgen in der eritreischen Hauptstadt Asmara, der verblüffendsten Stadt des Kontinents.
Dass Afrika immer für Überraschungen gut ist, wusste schon der römische Geschichtsschreiber Plinius der Ältere vor zweitausend Jahren. Doch dass ausgerechnet in Afrika ein solches Juwel zu finden ist, konnten nur wenige wissen. Denn in Eritrea tobte jahrzehntelang ein Bürgerkrieg, der alle potenziellen Besucher abschreckte. Und als der Krieg vorbei war, kam eine misstrauische, bald sogar diktatorische Regierung an die Macht, die keinen Wert auf Gäste legte. So kam es, dass hier ein beispielloser, in seinen Kokon verpuppter urbaner Organismus überlebte.
Art-déco-Schmuckstücke
«Afrikas geheime modernistische Stadt», nennt der britische Historiker und Buchautor Edward Denison Asmara. La piccola Roma tauften die Italiener einst die Stadt: ihr kleines Rom. Wenn Eritreer heute in die italienische Hauptstadt reisen, wundern sie sich, dass es eine ähnlich schöne Stadt wie die ihre noch ein zweites Mal in der Welt gibt. In Asmara können Experten die Stile der architektonischen Moderne wie nirgendwo anders studieren. Da ist zunächst die futuristische Fiat-Tankstelle an der Sematat Avenue, die unter den (wenigen) Kennern Asmaras Kultstatus geniesst. Das von dem italienischen Ingenieur Guiseppe Pettazzi erbaute Gebäude gleicht einem mitten in der Stadt gelandeten Flugzeug aus Beton. Seine 30 Meter weit ausladenden Flügel, unter denen einst Autos aufgetankt wurden, zählen zu den gewagtesten Betonkonstruktionen der Welt. Kaum weniger imposant: ein futuristisches Appartementgebäude in der Mai-Bela-Strasse, das wie eine steinerne Lokomotive auf die Strasse zuzurollen scheint. Oder die Villa Gracia, deren Rundumveranda ihr den Touch eines Ozeandampfers gibt. Futuristen liebten es, die Errungenschaften der Industrialisierung in ihren Gebäuden zu feiern.
Nicht ganz so gewagt – aber von Fachleuten nicht minder geschätzt – sind Asmaras Schmuckstücke aus der Art-déco-Zeit. Das Odeon-Kino zum Beispiel, in dem noch immer die rund geschwungene Bar mit ihren viereckigen, aus dem Hintergrund beleuchteten Flaschenregalen sowie der monströse schwarze Filmprojektor zu sehen sind. Oder das sachliche Selam-Hotel aus dem klassischen Modernismus, der die Form streng der Funktion unterordnete. Doch was Asmara wirklich einzigartig macht, ist die Tatsache, dass die gesamte Stadt binnen kürzester Zeit aus dem Boden gestampft wurde und dass die von einem Masterplan positionierten Gebäude noch heute, fast 100 Jahre später, in alter Harmonie an ihrer Stelle stehen. Höchstens dass sie einen – oder auch zwei – Neuanstriche nötig haben.
Als sich die verspätete Kolonialmacht Italien Ende des 19. Jahrhunderts das karge Eritrea unter den Nagel riss, bestand Asmara lediglich aus zwei Dörfern. Die hatten allerdings den Vorteil, dass sie in luftiger Höhe von 2450 Metern über dem Meeresspiegel lagen: Die europäischen Eindringlinge machten sie deshalb zu ihrem Stützpunkt. Zunächst wurden Befestigungen errichtet, später kamen repräsentative Gebäude wie der neoklassizistische Sitz des Gouverneurs, die neugotische Nationalbank und ein schmuckes Postamt dazu. Eine wirkliche Stadt war Asmara damit noch lange nicht. Das sollte sich erst ändern, als 1922 in Rom der grössenwahnsinnige Benito Mussolini an die Macht kam. Der sich als wiedergeborener Caesar wähnende Faschistenführer wollte Italien zu einem neuen römischen Weltreich aufmotzen und brauchte dazu auch Kolonien. Weil Afrika zu diesem Zeitpunkt unter den Grossmächten längst aufgeteilt war, blieb für Italien neben Libyen und Eritrea nur das bislang noch unabhängige äthiopische Kaiserreich übrig.
Mussolinis Brückenkopf
Mussolini bestimmte Asmara als Brückenkopf, von dem aus der Feldzug gegen Äthiopien geführt werden sollte. Innerhalb eines Jahrzehnts wuchs der verschlafene Aussenposten zur mo-dernsten und bestindustrialisierten Stadt Afrikas heran – mit Bahnhof, Fabriken, Tankstellen und einer Alfa-Romeo-Vertretung. Innerhalb weniger Jahre verzwanzigfachte sich die italienische Bevölkerung Asmaras von 3000 auf 55'000, Ende der 30er-Jahre lebten mehr Italiener in der Stadt als Eritreer.
Junge Architekten, die von Mussolinis Italien inspiriert waren oder von ihm abgestossen wurden, kamen ans Horn von Afrika, um ihre Ideen zu verwirklichen. Die Häuserbauer stützten sich auf einen Masterplan für Asmara, den der Chef-ingenieur der Stadt, Eduardo Cavagniari, bereits 1913 angefertigt hatte. Er teilte die Stadt in vier Sektionen auf: ein Villenviertel für Italiener, ein Wohnquartier für Eritreer, einen gemischten Bereich für Geschäfte, Märkte und Behörden sowie eine industrielle Zone. Noch heute ist die sowohl rassistisch wie technokratisch motivierte Vierteilung der Stadt mit ihren breiten, auch für Aufmärsche geeigneten Boulevards als Sektorengrenzen deutlich zu erkennen.
Mussolinis Grössenwahn war dagegen nur von kurzer Dauer. Zwar gelang es den italienischen Invasoren unter Einsatz von Giftgas, 1936 die äthiopische Hauptstadt Addis Abeba einzunehmen. Doch bereits fünf Jahre später brach Italiens ostafrikanisches Reich unter dem Angriff der Alliierten wieder zusammen. Als Asmara 1941 in die Hände der Briten geriet, teilte ein überraschter Informationsminister in London mit, die Italiener hätten «eine europäische Stadt mit breiten Boulevards, fantastischen Kinos, imposanten faschistischen Gebäuden, Cafés, Läden, doppelspurigen Strassen und einem Erstklasshotel» hinterlassen. Bei den «faschistischen Gebäuden» handelte es sich um mehrere Wahrzeichen des Monumentalismus: die Opera Nazionale Dopolavoro (die heute den Frauenclub beheimatet), einen massigen Klotz der Stadtverwaltung sowie das ehemalige Hauptquartier der italienischen Faschisten. Heute ist darin das Erziehungsministerium untergebracht.
Mehr als 30'000 Italiener blieben auch unter britischer Herrschaft in Asmara: La piccola Roma blieb seinem Kosenamen treu. Als die Briten 1950 ihre Kolonie aufgaben, wurde Eritrea zum Schrecken seiner Bevölkerung nicht etwa unabhängig, sondern von den Vereinten Nationen der Verwaltung des äthiopischen Nachbarn unterstellt. Äthiopien annektierte das Land zehn Jahre später kurzerhand als zehnte Provinz. Eritreische Freiheitskämpfer griffen zu den Waffen: Ihr Rebellenkrieg, der vor allem auf dem Land geführt wurde, und Asmara weitgehend unberührt liess, endete erst drei Jahrzehnte später 1993 mit der Unabhängigkeit des Landes. Für Asmara begann nun der gefährlichste Moment seiner Geschichte.
Die zehn Schandmale
Medhanie Teklemariam sitzt im dritten Stock eines potthässlichen Gebäudes, das auch der Verkehrsverwaltung der Stadt als Sitz dient. Der fünfstöckige Klotz wurde Anfang der 90er-Jahre mitten auf eine der Ost-West-Achsen der Stadt gepflanzt. «Wenn wir damals so weitergemacht hätten», sagt der über einen Stadtplan gebeugte grau melierte Architekt, «hätten wir Asmara in ein paar Jahren ruiniert.» Mit zehn Schandmalen müssen die Asmarer heute leben: Eines davon steht direkt neben der Fiat-Tankstelle und scheint dem futuristischen Flieger den nötigen Raum zum Abheben zu nehmen. Ein Plan deutscher «Entwickler» zum Bau einer riesigen Zentralbank wurde in letzter Minute gestoppt. Ende der 90er-Jahre verhängte die eritreische Regierung schliesslich ein totales Bauverbot über das fünf Quadratkilometer grosse historische Zentrum der Stadt: «Wir haben damit riesige Einbussen für Investitionen in Kauf genommen», sagt Teklemariam.
Für den Verlust strebt der Architekt jetzt einen Ausgleich an. Als Chef des Asmara-Kulturerbe-Projekts sucht er zu erreichen, dass die Stadt in die von der Unesco verwaltete Liste der Weltkulturdenkmäler aufgenommen wird. Der europalastige Index habe neue afrikanische Einträge dringend nötig, meint Teklemariam: Bisher komme die Zahl der afrikanischen Denkmäler dort gerade mal denen aus Italien gleich. Mit der Unesco-Liste sind zwar keine direkten Einkünfte verbunden; doch der davon erhoffte Reputationsgewinn werde sich irgendwann auf die Zahl der Besucher auswirken – und an ihnen ist inzwischen selbst der umstrittenen eritreischen Regierung gelegen.
Umbauten sind verboten
In Teklemariams Vorzimmer sitzen drei Studenten und geben von Rechercheuren auf zahllosen Formularen gesammelte Daten in Computer ein. Auf diese Weise werden mehr als 4300 Gebäude aus dem historischen Kern der Stadt akribisch genau dokumentiert: Festgehalten werden sowohl das Alter und der Stil der Gebäude, ihr gegenwärtiger Zustand und die Identität ihrer Besitzer. Umbauten der Häuser sind nicht erlaubt, doch will ein Eigentümer sein Haus restaurieren, kann er mit dem Rat des Kulturerbeprojektes und staatlicher Unterstützung rechnen. In seiner Struktur sei kein einziges der alten Gebäude gefährdet, sagt Teklemariam: «Als Baumeister sind die Italiener so gut wie ihr Ruf.»
Teil der eritreischen Kampagne, in die Unesco-Liste aufgenommen zu werden, war eine Wanderausstellung, die unter anderem auch in der Schweiz zu sehen war. Die meisten der Ausstellungsbesucher hätten sich angenehm überrascht davon gezeigt, dass ausgerechnet in Afrika ein derartiges architektonisches Juwel zu finden sei, sagt Teklemariam. Doch manche hätten auch ihr völliges Unverständnis darüber ausgedrückt, dass die Afrikaner ausgerechnet eine vom rassistischen Faschistenführer Mussolini initiierte Stadt prämiert sehen wollen. Für einen derartigen Einwand hat der Architekt kein Verständnis: «Die Eritreer haben die Stadt doch längst zu ihrer eigenen gemacht», sagt Teklemariam. «Und Rom wird auch nicht dem Erdboden gleichgemacht, nur weil seine Erbauer alles andere als Demokraten waren.»