Beitrag vom 04.11.2015
Handelsblatt
Äthiopien
Ein kleines Wunder
Riesige Infrastrukturprojekte, Investoren aus China und keine Opposition: Wie Äthiopien zum Wachstumsstar Afrikas wurde
Wolfgang Drechsler, Addis Abeba
Eine endlose Blechlawine aus Tankzügen,Lastwagen und teuren SUVs wälzt sich durch die komplett verstopften Straßen von Addis Abeba.Wie in anderen Orten Afrikas ist der Verkehr chaotisch in der rasant wachsenden Hauptstadt Äthiopiens. Allerdings ist dort gerade ein kleines Wunder geschehen.
Vor sechs Wochen wurde hier zwischen dem Industriegebiet im Süden und dem Stadtzentrum der erste Streckenabschnitt einer neuen Metro in Betrieb genommen: die „Light Rail Line“. Es ist das erste
städtische Nahverkehrssystem in Afrika südlich der Sahara, mit Ausnahme des Sonderfalls Südafrika. Wenn die zweite geplante Strecke steht, kann der „Light Train“ bis zu 60 000 Menschen
pro Stunde befördern. Getachew Betru, Chef der äthiopischen Staatsbahnen, ist überzeugt, dass
die Metro auch finanziell ein Erfolg wird: „Statt uns auf Ticketpreise, Werbung und die üblichen Subventionen zu verlassen, investieren wir entlang der neuen Strecken vor allem in Immobilien“, sagt er. Und deren Wert sei zuletzt kräftig gestiegen.
Nichts symbolisiert den Wirtschaftsaufschwung in dem Land, das lange Jahre mit Hunger und Not
verbunden wurde, besser als die in nur drei Jahren für 475 Millionen Dollar aus dem Boden gestampfte Metro. Sie ist zu 85 Prozent mit chinesischem Geld finanziert und wird für die kommenden fünf Jahre von der Shenzhen Metro Group und der China Railway Engineering Corporation gemanagt.
Chinesisches Geld ist auch in die Bahnstrecke geflossen, die von Addis Abeba zum Seehafen Dschibuti am Horn von Afrika führt und kommendes Jahr in Betrieb gehen soll. Sie soll die Transportzeit für Güter halbieren. Äthiopien ist ein Paradebeispiel für die neuen Hoffnungen für
Afrika: Gelingt der Schritt zu dauerhaftem Wachstum und einem Anstieg der Lebensverhältnisse in
einigen Ländern nach vielen enttäuschten Hoffnungen diesmal?
Auf dem Rücken gewaltiger Infrastrukturprojekte wie Bahnlinien und Straßen, Kraftwerken und
Staudämmen ist Äthiopien fast unbemerkt zum neuen Wachstumsstar des Kontinents avanciert. Die Volkswirtschaft wächst seit 2003 zwischen acht und zehn Prozent pro Jahr. Der mit Macht vorangetriebene Ausbau der Infrastruktur hat inzwischen auch das Interesse ausländischer Unternehmen geweckt: Große Marken wie die Bekleidungskette H&M, der Konsumgüterkonzern Unilever oder der Getränkehersteller Diageo haben in Äthiopien investiert. „Das Potenzial ist riesengroß“,
schwärmt Mario Delicio, der für den deutschen Hersteller Krones seit Jahren Abfüllanlagen in Afrika baut und auch in Äthiopien aktiv ist.
Ein weiteres Prestigeprojekt ist der rund 3,5 Milliarden Euro teure Renaissance-Staudamm, den
das Land seit knapp drei Jahren am wasserreichen Blauen Nil nahe der Grenze zum Sudan baut. Er soll nach seiner Fertigstellung 2018 Äthiopien zum größten Energieproduzenten in Afrika
machen. Das Land will das Wasser fast ausschließlich zur Stromgewinnung nutzen, um die Unabhängigkeit von Rohölimporten zu reduzieren und Devisen zu erwirtschaften, mit denen der Umbau vom Agrar- zum Industriestaat finanziert werden soll.
Seit dem Sturz des kommunistischen Militärregimes im Jahre 1991 folgt Äthiopien strikt dem chinesischen Entwicklungsweg: so wenig Demokratie wie nötig, so viel Staatskapitalismus wie möglich. Das heißt aber auch, dass sich unter den 547 Parlamentariern inzwischen kein einziger Oppositioneller mehr befindet. Das Bündnis um die äthiopische Regierungspartei Ethiopian People’s Revolutionary Democratic Front (EPRFD) gewann bei den Parlamentswahlen vor sechs Monaten glatte 100 Prozent.
Dabei hatte der äthiopische Premierminister Hailemariam Desalegn, der seit 2012 regiert, zu
Beginn seiner Machtübernahme versprochen, das politische System etwas zu öffnen. Das Gegenteil
ist der Fall. „Das politische Umfeld ist sehr repressiv, es gibt kaum Pluralismus”, resümiert Jason Mosley von der Londoner Denkfabrik Chatham House. Der Fokus der Regierung liege allein
auf dem wirtschaftlichen Vorankommen. Äthiopien ist eine Entwicklungsdiktatur.
In nur zehn Jahren ist der hinter Nigeria bevölkerungsreichste Staat Afrikas zur fünftgrößten
Volkswirtschaft in Subsahara-Afrika aufgestiegen. Addis Abeba ist zugleich Sitz der Afrikanischen
Union (AU). Obwohl Äthiopien trotz des Aufschwungs beim Pro-Kopf-Einkommen weiterhin zu den ärmsten Ländern der Welt zählt, wird es international heftig umworben: Auch für die USA ist es wegen seiner Nähe zum Mittleren Osten ein wichtiger Partner in Sicherheitsfragen. Kein Wunder,
dass US-Präsident Barack Obama bei seiner Afrika-Visite im Juli neben der kenianischen Heimat seines Vaters nur noch Äthiopien eine Aufwartung machte.
Symbol für den Höhenflug ist neben der Metro auch die staatliche Fluggesellschaft Ethiopian
Airlines, die derzeit alles daran setzt, größter Carrier in Afrika zu werden. Mit 77 Flugzeugen hat sie bereits die größte Flotte des Kontinents. Bei den beförderten Passagieren schließt sie mit sechs Millionen Passagieren 2014 – viele aus China – fast auf zu Egypt Air und South African Airways (SAA)mit je rund sieben Millionen.
Doch bei allen Erfolgen in den vergangenen Jahren hat das Land auch mit Problemen zu kämpfen. Eigentumsrechte sind oft ungeklärt, was Investoren abhält. Und ohne ein schnelleres Wachstum
seiner Industrieproduktion wird Äthiopien kaum all die Arbeitskräfte absorbieren können, die
im Zuge der mit aller Macht vorangetriebenen Modernisierung seiner Landwirtschaft aus dem
Agrarsektor fallen. Letzterer beschäftigt noch rund drei Viertel der Bevölkerung. Derzeit befeuert vor allem der Agrarsektor das Wachstum und bringt rund 80 Prozent der Exporterlöse ein.
Der einstige Hungerstaat ist zum Selbstversorger geworden, exportiert mehr Lebensmittel, als für
die Ernährung der Bevölkerung importiert werden müssen – in Afrika eine Sensation.
Neben Kaffee verspricht vor allem der Export von Blumen hohe Zuwachsraten. Allein 2014 exportierte Äthiopien Schnittblumen im Wert von 250 Millionen Dollar, rund acht Prozent seiner Gesamtexporte. Zu diesem Zweck verpachtet die Regierung Flächen an Unternehmen wie Sher Ethiopia,
eine Tochter des holländischen Blumenzüchters Afri flora.
Inzwischen werden auf den Farmen um Addis Abeba jedes Jahr rund 2,5 Milliarden Rosen geschnitten,
die bis zu zwölf Stunden in Kältekammern gelagert und dann per Flugzeug in Europas Supermärkte gebracht werden. „Solche Dimensionen sind in Europa einfach nicht mehr möglich“, sagt Marc Holla, der eine große Blumenfarm südlich von Addis Abeba betreibt. In nur zehn Jahren sei hier eine Industrie entstanden, für deren Aufbau Kenia als bislang größter Blumenproduzent Afrikas fast 40 Jahre gebraucht habe.
Während auf Hollas Blumenfarm niemand vom Land vertrieben wurde, wurden andere Erfolgsgeschichten
nur durch Zwangsumsiedlungen der Kleinbauern möglich. Die Agrarkonzerne aus Indien und China, Südkorea und dem arabischen Raum brauchen Platz. Menschenrechtler prangern die billige Verpachtung als moderne Form der Kolonisierung an. Die Regierung in Addis Abeba verweist auf die erheblich höhere Produktivität der kommerziellen Farmer. Ohne die Modernisierung der Landwirtschaft könne die Bevölkerung, die um drei Prozent im Jahr wächst, nicht ernährt werden.
Die Regierung will Äthiopien binnen weniger Jahre vom Agrarstaat in die Moderne katapultieren.
Doch kann ein solcher Sprung gelingen? Razia Khan, Leiterin der Afrika-Abteilung der Bank Standard Chartered, beschreibt die Struktur der äthiopischen Wirtschaft als stark „ausgehöhlt“.
Dem Land fehle die Mittelklasse als Arbeiter wie Konsumenten für das angestrebte Wachstum. Obwohl
sich der Anteil der Äthiopier, der von mehr als zehn Dollar am Tag lebt, zwischen 2004 und 2014 verzehnfacht hat, fallen noch immer kaum mehr als zwei Prozent der Gesamtbevölkerung in diese Gruppe. Über drei Viertel der Bevölkerung müssen sogar mit weniger als zwei Dollar am Tag auskommen. Zudem mahnen Beobachter: Sollte die Regierung in Addis Abeba nicht politische Reformen und mehr Pluralismus zulassen, verschrecke sie am Ende potenzielle Investoren und verspiele die Chance, zu einem echten Vorbild für Afrika zu werden.