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Beitrag vom 07.08.2015

FAZ

Äthiopien

Auf der afrikanischen Überholspur

Äthiopiens Wachstum der Bevölkerung zwingt das Land zu radikalen Wirtschaftsreformen. Und die schlagen an. Besonders erfolgreich ist die Landwirtschaft / Von Thomas Scheen

JOHANNESBURG, im August. Kenya Airways ist eine der erfolgreichsten Fluggesellschaften auf dem Kontinent. KQ, wie sie genannt wird, verfügt über ein dichtes Streckennetz, gut gewartete Maschinen und pünktlich sind die Flieger auch noch. Und trotzdem mussten die Kenianer in der vergangenen Woche einen Verlust für das zurückliegende Geschäftsjahr in Höhe von 290 Millionen Dollar ausweisen. Schuld daran sind zwei Faktoren: Der brachliegende Tourismus in Kenia, dem die Anschläge von radikalen Islamisten insbesondere an der Küste schwer zugesetzt haben, und die Konkurrenz aus Addis Abeba. Ethiopian Airlines ist drauf und dran, Kenya Airways als umsatzstärkste Airline Ostafrikas abzulösen. Dabei könnten die Firmen unterschiedlich nicht sein: Großaktionär bei Kenya Airways ist die niederländische KLM mit all ihrem Sachverstand. Ethiopian Airlines hingegen gehört dem Staat. Und dennoch ist die Erfolgsgeschichte der äthiopischen Luftfahrtgesellschaft symptomatisch für das Land: Das Hungerland Äthiopien ist seit vielen Jahren auf der Überholspur, doch gemerkt hat das in Europa offenbar kaum einer.

Der Internationale Währungsfonds zählt Äthiopien zu den fünf am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt. Seit einem Jahrzehnt wächst die Wirtschaftsleistung real um zehn Prozent jährlich. Getragen wird dieses Wachstum vor allem von der Landwirtschaft, die 48 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt beisteuert und für rund 85 Prozent aller Exporterlöse verantwortlich ist. Äthiopien ist inzwischen Selbstversorger, das heißt, das Land exportiert mehr Lebensmittel, als für die Ernährung seiner Bevölkerung importieren muss. Angebaut werden Kaffee, Mais, Zwerghirse, Weizen, Hülsenfrüchte, Kartoffeln, Zuckerrohr und Gemüse. Hinzu kommen große Schnittblumenplantagen, die vor allem für den niederländischen Großhandel produzieren, und der mit 75 Millionen Tieren größte Viehbestand des Kontinents, der wiederum die große Schuhindustrie des Landes mit Leder versorgt.

Erkauft wurde diese Erfolgsgeschichte allerdings mit den Zwangsumsiedlungen ganzer Ortschaften. Denn die Agrarkonzerne aus Indien, China, Saudi-Arabien und Südkorea brauchen Platz. Farmen von 10.000 Hektar und mehr sind eher die Norm als die Ausnahme. Das hat auch damit zu tun, dass Land unglaublich preiswert zu pachten ist (ab 1,5 Dollar pro Hektar). Menschenrechtsgruppen kritisieren die Landnahme als moderne Kolonisierung, zumal ein Großteil der angebauten Produkte für den Export bestimmt ist. Die äthiopische Regierung macht eine andere Rechnung auf: Sie rechnet die jährlichen Einnahmen eines Subsistenzbauern gegen die eines angestellten Arbeiters auf und teilt das Ganze durch die Hektarzahl verbrauchten Landes. Der Bauer sieht dabei immer schlecht aus.

Auch in anderen Wirtschaftsbereichen legt Äthiopien beständig zu. Die industrielle Produktion wuchs in 2014 um 21 Prozent, die Dienstleistungen um zwölf Prozent. Das industrielle Wachstum ist zu einem großen Teil China geschuldet. Viele chinesische Unternehmen aus der Textilbranche lassen inzwischen in Äthiopien fertigen, um den gestiegenen Lohnstückkosten daheim aus dem Weg zu gehen. Das kann man als Lohndumping bezeichnen, man kann es aber auch als Chance für Äthiopien verstehen, überhaupt Arbeitsplätze in nennenswerter Zahl zu schaffen. Die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei etwa 15 Prozent. Ob diese Zahl korrekt ist, ist allerdings nicht zu überprüfen. Gleichwohl ist der Vergleich mit Südafrika interessant: Dort liegt die offizielle Arbeitslosenrate bei 25 Prozent.

Äthiopien ist das nach Nigeria zweitbevölkerungsreichste Land Afrikas. 100 Millionen Menschen beherbergt das Land. Deren Zahl wächst jährlich um knapp drei Prozent beziehungsweise drei Millionen Menschen. Wenn alle diese Menschen von Subsistenzwirtschaft leben müssen, sieht Äthiopien bald wieder so aus wie vor 30 Jahren, als auf der ganzen Welt Geld gesammelt wurde für die Hungernden am Horn von Afrika. Insofern hat Äthiopien gar keine andere Möglichkeit, als die nur auf Durchreisende romantisch wirkende Subsistenzlandwirtschaft durch kommerzielle Landwirtschaft zu ersetzen. Alleine im vergangenen Jahr importierte Äthiopien landwirtschaftliches Gerät im Wert von 200 Millionen Dollar. Das war drei Mal mehr als im Nachbarland Kenia.

Immerhin gehören die Infrastrukturprobleme bald der Vergangenheit an. Überall im Land bauen chinesische Unternehmen Straßen und Brücken. In der Hauptstadt Addis Abeba entsteht ein Nahverkehrssystem. Und an der Grenze zu Sudan stauen die Äthiopier gerade den Blauen Nil, um ihn als Energieproduzenten zu nutzen. Bis zu 6000 Megawatt Leistung sollen die Turbinen ab 2018 nicht nur in das heimische Netz speisen, sondern auch in das sudanesische und das ägyptische.
Die Entwicklung Äthiopiens in den vergangenen zehn Jahren ist umso erstaunlicher, als die seit vielen Jahren regierende „Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker“ (EPRDF) ein sozialistisches Weltbild pflegt. Daran hat sich nichts geändert. Der Kapitalismus ist aus der Sicht der EPRDF nach wie vor ein gefährliches Tier, und weil die Partei gerne alles unter Kontrolle hat, werden staatliche Firmen beziehungsweise parteinahe Firmen bei Ausschreibungen systematisch bevorzugt. Im Global Competitiveness Report belegt Äthiopien Platz 118 von 144 Ländern. Als größte Hindernisse bezeichnet der Bericht ineffiziente Bürokratie, Devisenkontrollgesetze und Korruption. Das sind alles andere als ideale Rahmenbedingungen, doch die Richtung stimmt.

Das Alles ist aber nicht der plötzlichen Einsicht geschuldet, dass freie Marktwirtschaft dem Sozialismus überlegen ist. Es geht hier schlicht und ergreifend um Frieden im Land und damit um das politische Überleben der Regierenden. Wie in allen afrikanischen Ländern hat auch Äthiopien mit einer massiven Verstädterung der Gesellschaft zu tun, die das teure Leben in der Stadt immer noch erträglicher empfindet, als das harte Leben auf dem Land. Es sind vor allem die Jungen, die in die Städte ziehen und 60 Prozent der äthiopischen Bevölkerung sind jünger als 25 Jahre. Doch die Städte bieten nicht genug Arbeitsplätze für die Zuzügler. Ohne Perspektiven aber sind solche Menschenmengen in den urbanen Zentren wie ein Volksaufstand mit Ansage. Stoppen kann die Urbanisierung selbst ein so autoritärer Staat wie der äthiopische nicht. Aber er kann sie verlangsamen. Die Modernisierung der Landwirtschaft ist die Schiene, auf die Äthiopien setzt, um die Landflucht zu bremsen. Landwirtschaft bedeutet schließlich nicht nur, den ganzen Tag auf dem Traktor zu sitzen. Moderne Agrarbetriebe brauchen Techniker, Marketingfachleute und Mechaniker. Mit anderen Worten: gut bezahlte Jobs in Gegenden, in denen auch der Wohnraum erschwinglich ist.