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Beitrag vom 04.03.2015

Neue Zürcher Zeitung

Nigeria vor der Präsidentenwahl

«Ich wähle nur noch Christen»

Markus M. Haefliger, Jos

Bei der kommenden Präsidentenwahl in Nigeria ist die Wählerschaft so stark wie noch nie in religiöse Lager gespalten. In Jos im zentralen Teilstaat Plateau gefährden die Spannungen einen hart erkämpften Frieden.

In Jos im zentralen Hochland des nigerianischen Gliedstaats Plateau drückt mitten in der Trockenzeit der Harmattan aufs Gemüt. Der Nordwind sättigt die schwere Luft mit Feinstaub aus der Sahara, das Auge sieht in der rötlich-diesigen Atmosphäre oft nicht weiter als einen Kilometer. Die auf 1200 Höhenmetern gelegene Stadt rühmt sich normalerweise ihres guten Klimas, aber Ende Februar ist davon nichts zu spüren. Die Bewohner sehnen den Beginn der Regenzeit herbei oder hoffen wenigstens auf ein Gewitter.

Nigeria en miniature

Auch das politische Klima der 800 000 Einwohner zählenden Regionalhauptstadt ist einen Monat vor der Präsidentenwahl getrübt. Jos liegt nur 300 Kilometer von Borno entfernt, dem Teilstaat im Nordosten, in dem die terroristische Raserei der islamistischen Sekte Boko Haram bisher am meisten Todesopfer gefordert hat. Vertriebene aus Borno, die nicht mehr ein noch aus wissen, stranden am ehesten in Jos. Und wenn Terroristen ein Ziel angreifen wollen, das sie per Motorrad an einem Tag erreichen und schnell wieder verlassen können, suchen sie sich Jos aus. Letzten Mai töteten sie bei einem einzigen Doppelanschlag auf eine Busstation über 120 arglose Passanten.

Audu Onoja bezeichnet seine Heimatstadt als «Nigeria en miniature». Wenn das Land unter Spannungen leide, sei Jos besonders gereizt, sagt der Lokaljournalist, der für die Tageszeitung «Daily Independent» in Lagos berichtet. Umgekehrt gingen nationale Initiativen für Frieden und Aussöhnung häufig von Jos aus. Plateau liegt an der Schnittstelle zwischen Nord- und Südnigeria. Über 50 von landesweit über 250 anerkannten Volksstämmen bezeichnen Plateau State als ihre Heimat, in keinem anderen der 36 Teilstaaten sind so viele ethnische Minderheiten zu Hause. Kurz vor der für Ende März geplanten Präsidentenwahl greift die Armee die Islamisten endlich an und drängt sie zurück. Seither verlegt sich Boko Haram, wie zu erwarten war, vermehrt auf Terrorangriffe gegen weniger geschützte Städte. Nigeria ist nervös, mehr noch Jos. Seine Stadt fühle sich «wie im Belagerungszustand» an, sagt Onoja.

Vertriebene im eigenen Land

In der Sekundarschule von Bukuru, einem christlichen Quartier am südlichen Stadtrand, hausen 115 Familien, rund 700 Personen, auf engstem Raum. Die Binnenflüchtlinge stammen aus Gwoza und erzählen Geschichten schier unerträglicher Odysseen. Die mehr als 500 Kilometer weiter östlich gelegene Stadt an der Grenze zu Kamerun wurde im August von Boko Haram überrannt und zur «Hauptstadt» des Kalifats der Sekte ausersehen. Die meisten Vertriebenen wichen zuerst nach Madagali aus, später nach Michika, Lassa und Mubi, alles weiter südlich gelegene Distrikthauptorte. Überall erwies sich die erhoffte Sicherheit als trügerisch, überall rückten die Islamisten nach.

Die Schule stellt ihre Unterkünfte für auswärtige Kinder und einen Schulhof zur Verfügung; die ausquartierten Buben und Mädchen übernachten derweil bei Klassenkameraden. Räume, in denen normalerweise zwei Kinder unterkommen, müssen nun für ganze Grossfamilien reichen. Alte Frauen und Männer schlafen auf Kartonfetzen auf dem Steinboden oder unter freiem Himmel. Laut Mark Lipdo, dem Koordinator der Stefanos-Stiftung, einer christlichen Hilfsorganisation, suchten im letzten Halbjahr 460 Familien Zuflucht in Jos. Drei Viertel von ihnen konnten in Familien untergebracht werden, die übrigen leben auf dem Schulgelände von Bukuru.

Historische Lasten

Lipdo betont, der Terrorismus von Boko Haram werde von tribalistischen, nicht von religiösen Motiven getrieben. Die Kämpfer der Sekte, meist Angehörige der Kanuri, machten Jagd auf nichtmuslimische ethnische Untergruppen, zu diesen gehörten neben Christen viele Anhänger animistischer Stammeskulte. Der Einwand gegen die übliche Lesart des Konflikts als Glaubenskrieg wirft ein Licht auf Ursachen und Dynamik der islamistischen Raserei. Die Kanuri bilden das Mehrheitsvolk im Nordosten des Landes und blicken auf eine kriegerische Geschichte zurück. Laut Konfliktforschern versuchen Boko-Haram-Prediger, diese für ihre Sache zu vereinnahmen.

Vom 9. Jahrhundert an und bis zur Kolonialzeit beherrschten die Kanuri das Reich von Kanem-Bornu, das sich im Tschadsee-Becken über Teile der heutigen Länder Nigeria, Kamerun und Tschad ausdehnte. Es wurde noch vor dem westlich gelegenen Emirat von Sokoto islamisiert. Dass ethnischer Chauvinismus möglicherweise mit eine Rolle spielt, ändert freilich nichts daran, dass Abubakar Shekau, der Anführer von Boko Haram, seine Kämpfer mit dem Ruf nach einer steinzeitlichen Auslegung des Islam in die Schlacht schickt. Im August leistete er in einer Videobotschaft dem Anführer des Islamischen Staats im Irak und in Syrien, Abu Bakr al-Baghdadi, den Treueschwur.

Dass Mark Lipdo dem Konflikt eine ethnische Dimension anfügt, hat mit seiner Herkunft zu tun. Der auch dort geborene Einwohner von Jos kennt politische Konflikte in Gestalt eines Religionskrieges aus eigener Anschauung. In den Jahren 2001 und 2010 wurde Jos von sektiererischen Kämpfen zerrissen. «Wir hatten das alles schon», sagt dazu der Journalist Onoja. Haussa-Fulani aus dem Norden, die seit hundert Jahren in Jos lebten, sahen sich nach der Wiedereinführung der Demokratie der Protektion durch eine Reihe von Militärregimen beraubt. Sie forderten eine eigene Distriktverwaltung, was ihnen von drei Volksgruppen verwehrt wurde, die Jos als ihren traditionellen «Besitz» ansehen.

Im nigerianischen Föderalismus finden traditionelle Ansprüche oft einen modernen politischen Raum, um sich auf der Ebene von Distrikten oder Teilstaaten durchzusetzen. Die Haussa-Fulani klagten, sie würden bei der Besetzung öffentlicher Stellen und der Aufnahme in staatliche Bildungsinstitutionen übergangen. Es kam zu Pogromen und Vertreibungen, schliesslich wurden Moscheen und Kirchen gebrandschatzt. Insgesamt kamen bei den Unruhen laut Schätzungen rund 5000 Personen ums Leben.

Heute hat sich die Lage beruhigt. Laut Mohammed Lawal Ishaq, rechtlichem Berater der grossen Moschee von Jos und ehemaligem Vorsitzenden einer muslimischen Dachorganisation, haben Anstrengungen zur Versöhnung gefruchtet. Der Gouverneur von Plateau State, David Jonah Jang, ein Parteigänger Präsident Goodluck Jonathans und in seiner ersten Amtszeit ein Scharfmacher gegen die Haussa-Fulani, sei nach seiner Wiederwahl auf diese zugegangen. «Die Diskriminierungen sind nicht verschwunden, aber unsere Stimme wird gehört», sagt Lawal.

Der Friede hat freilich einen Preis: Jos ist zu einer getrennten Stadt geworden. Die Haussa-Fulani wichen in die nördlichen Quartiere aus, die Christen konzentrierten sich im Süden. Nicht das Einkommen entscheide, wer wo wohne, sondern die Religionszugehörigkeit, sagt der Menschenrechtsanwalt Nankin Bagudu, ein Christ. Er und Lawal preisen die Toleranz, die obsiegt habe. Die Segregation sei eine Vorsichtsmassnahme, jeder könne sich frei in allen Stadtquartieren bewegen. Gleichzeitig hoffen sie, dass die Wahlen alte Wunden nicht wieder aufreissen.