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Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 19.12.2014

Neue Zürcher Zeitung

Keine Industrialisierung in Sicht

Gemischte Signale aus Afrika

Markus M. Haefliger, Nairobi

Afrika verwirrt. Erfolgsgeschichten und optimistischen Prognosen stehen fortgesetzte Krisen und Hiobsbotschaften gegenüber. Eines steht fest: Eine Industrialisierung ist nicht in Sicht.

Was stimmt nun: Gehört Afrika das 21. Jahrhundert, wie manche behaupten, oder bleibt der Kontinent das Sorgenkind des Rests der Welt - mit wiederkehrenden Krisen, Konflikten und steigender Zahl an Menschen und Dingen, aber wenig Entwicklung? Man kann jeden verstehen, der angesichts der afrikanischen Parallelwelten verwirrt ist. Die guten Nachrichten brechen nicht ab - die schlechten aber leider auch nicht. Die Ersteren stammen meist aus der Wirtschaft, die Letzteren aus der Politik oder von Katastrophen wie derzeit der Ebola-Seuche in Westafrika.

Drei Erfolgsmeldungen . . .

Vorneweg zur Illustrierung je drei Erfolgsmeldungen und Hiobsbotschaften: Zuerst die Erfolge. Erstens wurden Kriege, die an der letzten Jahrhundertschwelle wüteten, beigelegt oder eingefroren. Dies betrifft blutige, sogenannte Bürgerkriege in Kongo-Kinshasa, Liberia, Sierra Leone und an der Grenze zwischen Äthiopien und Eritrea. Zweitens nehmen die Investitionen in die Infrastruktur erstmals seit dem Ende der Kolonialzeit kontinuierlich um rund 10% pro Jahr zu. Das ist bedeutsam.

Laut der Weltbank müsste Schwarzafrika (Afrika südlich der Sahara) pro Jahr rund 90 Mrd. $ in Infrastrukturen wie Stromproduktion, Wasserversorgung, Abwasserkanäle, Telekommunikation und Transportsysteme investieren, um den Rückstand auf andere Entwicklungsregionen wettzumachen. 2001 waren es 7 Mrd. $, weniger als 10% des Bedarfs, 2012 immerhin 22 Mrd. $. Laut Prognosen sollen es in zehn Jahren über 150 Mrd. $ sein. Das sind nicht nur statistische Angaben - in Ostafrika trifft man beispielsweise vielerorts auf Baustellen, an denen Überlandstrassen gebaut werden. Das transkontinentale Highway-Netz ist weit davon entfernt, realisiert zu werden, aber es wächst zumindest teilweise zusammen.

Als dritten Fortschritt lässt sich die rasch voranschreitende Urbanisierung nennen. Derzeit leben 40% der Afrikaner in Städten, 2030 werden es 50% sein, in Ländern wie Nigeria, Südafrika und Kenya sogar 80%. Die Stadtbevölkerung wächst deutlich schneller als die Gesamtbevölkerung. Und es wachsen nicht nur die Millionenstädte - derzeit gibt es davon rund 50 in Afrika - zu unüberschaubaren Megacitys; die Verstädterung geht zu zwei Dritteln auf das Konto verhältnismässig kleiner Städte mit weniger als 750 000 Einwohnern.

Die Urbanisierung ist eine gute Sache, weil Stadtbewohner durchschnittlich über mehr als doppelt so hohe Einkommen verfügen wie Landbewohner. Sie haben viel früher Zugang zu Strom, Wasser, Gesundheitsdiensten, Schulen, Jobs, Finanzdienstleistungen. Zudem gruppieren sich Stadtmenschen eher nach sozialen Kriterien als nach der ethnischen Gruppe, ein nicht zu unterschätzender sozialer Fortschritt.

. . . und drei Hiobsbotschaften

Aber auch die Negativmeldungen brechen nicht ab. Erstens hält sich in Afrika hartnäckig eine strukturelle Gewalt, auch wenn Kriege marginaler geworden sind. Gewalt ist für viele Menschen alltäglich - von Gewalt in der Familie über Polizeiwillkür bis hin zu politischer Gewalt. Diese bricht häufig vor Wahlen auf, oder es gibt Ressourcen-Konflikte um Weide- oder Ackerland. Weil Regierungen es versäumten, traditionelle, kollektive Landrechte in eine moderne juristische Form zu überführen, bricht in abgelegenen, ländlichen Gegenden ausserdem häufig Streit aus, weil Investoren Besitzrechte erwerben und sie geltend machen. Ein zunehmendes Gewaltrisiko geht auch von der grenzüberschreitenden Kriminalität aus, also vom Schmuggel von Drogen, Menschen, Waffen, Elfenbein. Auch hier reichen die Folgen weiter als Gewalt und kriminelle Energie an sich: Bei den illegalen Geschäften wird oft das Vielfache dessen umgesetzt, was der Polizei zur Verbrechensbekämpfung zur Verfügung steht; der Staat wird ausgehöhlt.

Ein zweiter Negativfaktor betrifft die Landwirtschaft. Seit 1960 wuchs die weltweite Agrarproduktion pro Ackerfläche um 145%, in Afrika schrumpfte sie im gleichen Zeitraum um 10%. Afrika kann sich längst nicht mehr selber ernähren und wird zunehmend von Nahrungsmittelimporten abhängig sein. Um den Trend umzukehren, müssten Bewässerungssysteme gebaut und hohe Beträge in landwirtschaftliche Infrastruktur wie Transport und Trocknungsanlagen investiert werden; Bauern müssten auf bessere Praktiken und Sorten umsatteln. Aber die Widerstände gegen eine grüne Revolution sind gross.

Ein dritter Dämpfer jedes Afrika-Optimismus liegt in der Kapitalflucht. Sie ist volkswirtschaftlich gesehen noch schädlicher als die häufiger genannte Korruption, denn sie enthält diese meistens. Aber während korrupt abgezweigte Gelder anderswo wie in Asien meist im Land selber investiert werden, gelangen sie in Afrika ins Ausland. Im vergangenen Jahrzehnt wurden jährlich durchschnittlich 45 Mrd. $ ins Ausland geschafft, meistens mittels falschen Fakturierungen von afrikanischen Exporten (zu günstig) oder Importen (zu teuer). 45 Mrd. $ sind mehr als die Entwicklungshilfe für Afrika zusammengerechnet. In den jüngsten Jahren stieg die Summe sogar auf 50 bis 60 Mrd. $. Der Anteil der Raubzüge gegen das Volkseigentum liegt in Afrika bei 6% bis 7% des Bruttoinlandprodukts (BIP), und damit höher als in jeder anderen Entwicklungsregion der Welt.

Boom? Welcher Boom?

An internationalen Wirtschaftskonferenzen ist derzeit viel von einem afrikanischen «Boom» die Rede. Nüchtern betrachtet, erscheint das durchschnittliche, kontinentweite Wirtschaftswachstum von 4% bis 5% pro Jahr vor allem in einem vorteilhaften Licht, weil es sich von den Krisen und Rezessionen früherer Jahrzehnte abhebt. Einige Länder wie Äthiopien, Moçambique und Burkina Faso, von denen man das noch vor kurzer Zeit nicht erwartet hätte, weisen deutlich beachtlichere Wachstumsraten von 7% bis 10% aus.

Der Motor des Fortschritts ist nicht wie in Indien seit den 1960er Jahren eine agrarische oder wie in China seit den 1990er Jahren eine industrielle Revolution. Ein Strukturwandel fehlt in Afrika; am ehesten findet er noch bei den Dienstleistungen statt, dem am raschesten wachsenden Sektor. Millionen von Afrikanern haben, auch dank der Mobiltelefonie, erstmals Zugang zu Finanzdienstleistungen. Aber diese sind nicht handelbar, und Dienstleistungen, die es wären, wie Call Centres, spielen in Afrika derzeit keine Rolle.

Ein hoher Anteil des Wirtschaftswachstums stammt sodann aus dem informellen Sektor, also von den Kleinhändlern und Kleinhandwerkern, die man in Afrika an jeder Strassenecke sieht. Ihre Betriebe sind weder registriert, noch zahlen sie Steuern oder verfügen über Verträge und Versicherungen. Bis vor kurzem hatten sie auch kein Telefon, aber das hat sich gründlich geändert. Dank der Mobiltelefonie können informelle Unternehmer Kundenkontakte und vieles mehr, für das sie früher weit marschieren mussten, von der Werkstatt aus erledigen. Der informelle Sektor legte an Effizienz enorm zu; manchenorts macht die Mobiltelefonie einen Viertel des Wachstums aus.

Die Breitenwirkung dieser Entwicklung darf nicht unterschätzt werden, denn ausser im südlichen Afrika arbeiten in Afrika die meisten Beschäftigten ausserhalb der Landwirtschaft im informellen Sektor. In westafrikanischen Städten liegt ihr Anteil bei über 90%. Die Handy-Revolution erhöht die Kaufkraft einkommensschwacher, städtischer Schichten. Sie decken sich zunehmend in Ladenketten mit konfektionierter Ware ein, statt wie früher auf informellen Märkten kleinste Mengen des Lebensnotwendigsten einzukaufen.

In der Folge entdeckte die Konsumgüterindustrie den afrikanischen Konsumenten. In Metropolen und mittlerweile auch in Provinzstädten spielt der Markt für Motorräder, Spielsachen, Kleidung, Schuhe, Elektronik, Wegwerfwindeln und konfektionierte Nahrungsmittel wie Maggiwürfel, Nescafé, Cornflakes oder Pasta. Eine nichtrepräsentative, aber illustrative Erfolgsstory ist Johnnie-Walker-Whisky. Sein Konsum wächst in Ostafrika dank einem hohen Marketing-Aufwand jährlich um 30% und mehr. In Afrika wird viel getrunken, statt traditionellen Bieren zunehmend Markenbier, und statt Markenbier Johnny-Walker-Whisky.

Die höhere Kaufkraft hat den Mythos einer rasch wachsenden afrikanischen Mittelschicht entstehen lassen. Unter Mittelstand versteht man eigentlich eine Kategorie von Bürgern in wirtschaftlich komfortabler Stellung. Aber sie bleiben in Afrika selten. Den höchsten Anteil an neuen Käufern bilden Konsumenten mit einem verfügbaren Einkommen von bis zu 5000 $ pro Jahr, das sind 5 $ bis 10 $ pro Tag. Sie sind zwar der absoluten Armut entronnen, aber ihre Lage ist weiterhin prekär.

Das verfügbare Einkommen wächst dennoch rasant. Nach dem derzeitigen Trend dürften die Konsumausgaben zwischen 2008 und 2020 von 860 Mrd. auf 1400 Mrd. $ zunehmen, ein Wachstum von 65% in zwölf Jahren. Der Trend ist stabil und reagiert im Unterschied zu den Rohstoffexporten kaum auf konjunkturelle Einbrüche. Vergangenes Jahr gingen Afrikas Exporte konjunkturbedingt zurück, aber die Importe nahmen um 2% zu. Die Demografie fördert diese Entwicklung - die afrikanische Bevölkerung wächst, ist überproportional jung und zieht in die Städte.

Neue Partner

Der Handel floriert, und mit ihm die Bedeutung neuer Handelspartner. Innerhalb von fünf Jahren nahm der Aussenhandel Afrikas mit den Bric-Staaten China, Brasilien und Indien (Russland spielt eine untergeordnete Rolle) um mehr als das Doppelte zu und macht heute einen Drittel des Gesamthandels aus, im Vergleich zu 20% vor fünf Jahren. Der grösste Anteil fällt auf China, aber auch Indien und Brasilien sowie andere Schwellenländer wie die Türkei spielen eine wachsende Rolle.

Brasilien könnte als Wirtschaftspartner besonders interessant werden, wenn sich afrikanische Regierungen einen Ruck geben und in die Agrarwirtschaft investieren würden. Die brasilianische Landwirtschafts-Forschungsanstalt Embrapa ist vielerorts in Afrika als Beraterin oder Ausbildnerin engagiert. Die einheimischen institutionellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen für eine Agrarrevolution wie in Brasilien fehlen allerdings; es mangelt in Afrika an Eigentumsgarantien, dazu kommt der Konservativismus der Bauern.

Auch die Direktinvestitionen aus den aufstrebenden Märkten nehmen zu. Eindrücklich ist dabei vor allem die Zunahme der inter-afrikanischen Investitionen von 8% auf 23% zwischen 2003 und 2013. Es handelt sich dabei vor allem um südafrikanische Banken und Supermarktketten.

Afrika und die Weltmärkte

Afrikas künftige Rolle auf den Weltmärkten wird weiter wachsen, von einem derzeitigen Anteil am Welthandel von knapp 3% auf vielleicht 4% bis 5% in 15 Jahren. Der Kontinent wird für Investoren immer interessanter. Aber seine Stellung auf den Weltmärkten verändert sich qualitativ kaum. Die Anzeichen einer Industrialisierung sind schwach; Bodenschätze, die vielerorts noch unentdeckt unter dem Boden schlummern, werden in grösseren Mengen, aber weiterhin in roher Form ausgeführt. Informelle Händler und Handwerker werden das Strassenbild auch in Zukunft beherrschen. Anders als afrikanische Regierungen in «Masterplänen» und «Visionen» vorgaukeln, dürfte ihre Bedeutung an der Beschäftigung sogar zunehmen.