Direkt zum Inhalt
Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 08.01.2014

Neue Zürcher Zeitung

Bürgerkriege in Afrika

Tribalismus als Symptom

David Signer

2013 war ein schlechtes Jahr für Afrika. In Tunesien, Libyen und Ägypten versanken die hoffnungsvollen Revolutionen in Gewalt und politischer Stagnation. In Südafrika rief der Tod Nelson Mandelas in Erinnerung, wie weit Präsident Zuma, der ANC und weite Teile der Gesellschaft von Mandelas Visionen entfernt sind. Nigeria wird von der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram destabilisiert. Auch massive Militärpräsenz ändert daran nichts. In Mali konnten Anfang des Jahres auf die Hauptstadt vorrückende Islamisten nur dank der französischen Militärintervention gestoppt werden. In der Republik Zentralafrika putschten die Seleka-Rebellen den Präsidenten aus dem Amt. Deren Anführer Djotodia installierte sich als neuer Regierungschef, konnte oder wollte seine Kämpfer jedoch nicht zügeln. Im November kam es zu Massakern, die zur zweiten grossen Militärintervention Frankreichs 2013 führten. Im jüngsten Staat der Welt schliesslich, im Südsudan, eskalierten die Spannungen schon zweieinhalb Jahre nach seiner Gründung. Ein Machtkampf zwischen Präsident Kiir und seinem ehemaligen Vize Machar entlud sich in einem ethnischen Gemetzel zwischen Nuer und Dinka, das trotz Friedensgesprächen andauert.

Inmitten von Pseudo-Institutionen

Aber ist das nicht die typisch europäisch-pessimistische Sicht auf Afrika, mit dem ewigen Tunnelblick auf Kriege und Krisen? Sind andere Weltgegenden nicht ebenso von Gewalt gezeichnet? Doch. Aber in Ländern wie der Türkei, der Ukraine, Bangladesh, Thailand, Kambodscha oder Brasilien mag es zu heftigen Unruhen kommen, der Staat als Ganzes steht dabei nicht gleich infrage. Im subsaharischen Afrika jedoch sind viele Staaten und deren Institutionen so schwach, dass ein Lufthauch beziehungsweise eine kleine Kompanie gut bewaffneter Kämpfer ausreicht, um sie zusammenbrechen zu lassen wie ein Kartenhaus. Und von der Bevölkerung ist kaum zu erwarten, dass sie sich gegen die Usurpatoren stellt, weil der Staat an sich, egal wer ihm gerade vorsteht, als Usurpator empfunden wird, der nur nimmt, aber kaum etwas gibt.

In Moçambique genügte ein bewaffneter Schlagabtausch zwischen den beiden verfeindeten Parteien Frelimo und Renamo, und schon geht das Gespenst vom Bürgerkrieg und vom «gescheiterten Staat» wieder um. Oder Zentralafrika: Djotodia hegte vermutlich nicht die Absicht, die Macht in Bangui zu übernehmen; er wollte einfach sein Stück vom Kuchen. Aber ehe er sich's versah, war der Präsident getürmt, und er fand sich in dessen Sessel wieder. Dass in Zentralafrika Muslime gegen Christen kämpfen und im Südsudan Nuer gegen Dinka, sollte nicht überinterpretiert werden. Der Rückgriff auf Religion und Ethnie ist nicht Ursache des Konflikts, sondern Symptom. Er zeigt weniger, wie stark das «Stammesdenken» immer noch ist, sondern vielmehr, wie zerbrechlich der Staat ist. Warum sollte man sich mit einem nationalen Emblem identifizieren, das wie ein bunt bemaltes Feigenblatt lediglich die Raffgier einer Elite bemäntelt, die das Land an die Meistbietenden verscherbelt? Kann man sich weder auf Soldaten, Polizisten, Politiker, Richter, Beamte noch auf Ärzte, Banken, Schulen, Versicherungen oder die Stromversorgung verlassen, ist es nur vernünftig, sich auf seinesgleichen zu stützen, seien es Verwandte, Nachbarn oder Menschen derselben Sprache und derselben Religion. Je mehr der Druck von aussen wächst, umso mehr rückt man zusammen und wehrt sich - wobei Selbstverteidigung, Rache und Angriff nicht immer genau auseinanderzuhalten sind. Dieser Rückzug aufs «Eigene» setzt einen Teufelskreis in Gang, weil er dem «nation building» - also dem staatlichen Zusammenwachsen mitsamt politischer und rechtlicher Sicherheit unabhängig von der Herkunft - zuwiderläuft, die Institutionen schwächt und so zu noch mehr Misstrauen gegenüber dem Nationalen führt.

Willkür und Terrorismus

Im September richteten Terroristen im Westgate-Einkaufszentrum in Nairobi ein Blutbad an. Etwa zur gleichen Zeit begann der Prozess gegen Präsident Kenyatta und seinen Vize Ruto am Internationalen Strafgerichtshof (ICC) wegen ihrer Rolle bei den blutigen Unruhen anlässlich der Wahlen 2007/08. Kurz darauf, am Sondergipfel der Afrikanischen Union, warfen die beiden Staatsmänner und mit ihnen eine Mehrheit der Machthaber auf dem Kontinent dem ICC Rassismus vor. Diese Farce und der Terrorangriff haben vordergründig nichts miteinander zu tun. Hintergründig schon. Im Klima von Selbstgerechtigkeit, Sündenbocksuche, Straflosigkeit, ethnischer Aufwiegelung und Nihilismus gedeihen Empörung, Radikalisierung, Militanz und Terrorismus. Sie geben sich als Gegengift gegen die verbreitete Amoralität aus, leiden jedoch an denselben Krankheiten wie ihre Feinde.

Man muss sich vor der Mythisierung Afrikas hüten, sei sie positiv oder negativ. Das Ethnische ist kein ewiges, archaisches Überbleibsel; seine Virulenz hat mehr mit dem Heute als mit dem Gestern zu tun.