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Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 13.10.2013

Handelsblatt

Bevölkerungspolitik in Afrika

"Wir haben die Lage nicht unter Kontrolle"

von Wolfgang Drechsler

350 Flüchtlinge starben allein in den vergangenen Tagen im Mittelmeer. Seitdem tobt in Europa eine emotionale Debatte über die Schuld der Europäer und die Politik der EU. Die wahren Gründe für die große Flucht bleiben jedoch zu großen Teilen ausgespart. Was treibt die Menschen zu solch einem Risiko? Eine Spurensuche in Uganda.

Kapstadt. Menschen, fast überall nur Menschen. Wer an einem Sonntagabend die knapp 40 Kilometer vom Flughafen Entebbe am Viktoriasee in die ugandische Hauptstadt Kampala fährt, steht nicht nur über weite Strecken im Dauerstau, sondern schaut oft auch auf einen wogenden Ozean von Menschen. Sie laufen über den Highway, sitzen auf den klapprigen Motorrädern, die auf dem Seitenstreifen vorbeiknattern oder feiern fast direkt am Straßenrand Party.

Oft steht der Verkehr dreispurig auf der Kampala Road, gegen die eine deutsche Landstraße wie ein breiter Boulevard wirkt. Die Abgase aus den alten Autos und Lastentaxis lassen die Augen tränen und kratzen im Hals. Reichlich benebelt erreicht der Besucher über zwei Stunden nach dem Eintreffen seine Unterkunft im Herzen von Kampala.

Mit einem Bevölkerungsanstieg von rund 3,5 Prozent gehört Uganda, das Winston Churchill einst als "die Perle Afrikas" pries, zu jenen Staaten der Welt, deren Bevölkerung besonders rasant wächst. Nur im Sahelstaat Mali wächst die Bevölkerung mit vier Prozent noch schneller.

Während die Gesellschaften im Westen immer mehr altern, brechen sie in weiten Teilen von Afrika unter der Last der vielen Kinder allmählich zusammen Jeder zweite Ugander ist heute jünger als 15 Jahre. Wenn die Zahl der Menschen weiter so schnell zunimmt, werden aus den heute rund 36 Millionen Ugandern nach offiziellen Projektionen bis 2025 etwa 55 Millionen werden - und sie werden sich bis 2050 sogar auf über 120 Millionen mehr als verdreifachen, in wenig mehr als einer einzigen Generation!

"78 Prozent der Ugander sind heute unter 30", sagt Monica Amoding, die im ugandischen Parlament eine Art Lobbyistin der Jugend ist. In der Altersgruppe zwischen 18 und 30 seien 83 Prozent arbeits- und mittellos. "Es ist völlig unklar, was uns 50 Jahre nach der Unabhängigkeit unter diesen Umständen für eine Zukunft erwartet" resümiert die Parlamentariern schonungslos offen.

Es sind Menschen wie die in Uganda, die ihrer Heimat verzweifelt den Rücken kehren und auf der Suche nach einem besseren Leben nach Norden fliehen. Unter Strapazen und hohen finanziellen Opfern ziehen sie oft wochenlang durch die Sahara, um mit Hilfe skrupelloser Schlepper über das Mittelmeer in das vermeintlich gelobte Europa zu gelangen.

Kein Mittel gegen die Bevölkerungs-Explosion

In den vergangenen Tagen waren dabei vor der italienischen Insel Lampedusa, dem südlichsten Vorposten Europas, gleich zwei Flüchtlingsboote gekentert, wobei mindestens 350 Menschen ums Leben kamen. Seitdem tobt in Europa eine emotional aufgeladene Debatte über die Schuld der Europäer an den Toten und das weitere Vorgehen der Europäischen Union. Die tieferen Gründe für die Wanderbewegung bleiben dabei jedoch zu großen Teilen ausgespart.

In Uganda selbst wird die Bevölkerungsexplosion im eigenen Land zwar hin und wieder diskutiert. Viel mehr interessieren dort jedoch andere Themen wie etwa das Missmanagement des Landes oder die lange Amtszeit des Präsidenten. "Wir haben zu viele Debatten und Komitees zur Familienplanung - und viel zu wenig Umsetzung", klagt auch Sylvia Ssinabulya, die sich im ugandischen Parlament seit Jahren mit Frauenfragen beschäftigt.

Geschehen ist allen Warnungen zum Trotz nur sehr wenig. Bezeichnend ist, dass die meisten Gesprächspartner in Zusammenhang mit der Bevölkerungszunahme gerne von "Herausforderungen" sprechen obwohl offensichtlich ist, dass es sich dabei längst um einen nationalen Notstand handelt.

Dies liegt auch daran, dass der seit 27 Jahre herrschende Präsident Yoweri Museveni bislang klare Worte vermissen lässt. Nachdem er früher stets betont hatte, es sei gut, viele Kinder zu haben, weil die Nation dadurch wachse und stark werde, hat er sich, vielleicht wegen der von einigen gemalten Horrorszenarien, zuletzt mit solchen Äußerungen zurückgehalten. Ein aktiver Akteur ist er sicherlich nicht.

Auch andere Politiker behaupten, genau wie viele westliche Unternehmensberater, dass eine Zunahme der Bevölkerung nützlich sei, weil mehr Menschen einen größeren Markt wie in China oder Indien schaffen würden. Von dem dadurch angehäuften sozialen Zündstoff sprechen sie hingegen kaum. Doch wie stark ist ein Markt armer Menschen ohne echte Kaufkraft? Selbst Ugandas früherer Finanzminister Aston Kajara hat eingeräumt, dass das jährliche Wirtschaftswachstum schon für längere Zeit um mehr als zehn Prozent steigen müsste, damit das Land nach vorne kommt.

Im Schnitt sieben Kinder

Tatsächlich dürfte das Wachstum auch dieses Jahr kaum halb so groß sein und dadurch allenfalls den Bevölkerungszuwachs kompensieren. An einen Abbau der tiefen Armut ist unter diesen Umständen nicht zu denken. Monica Amoding bleibt ebenfalls skeptisch. "Wie können die vielen Analphabeten und Armen Kaufkraft entwickeln?", fragt sie. "Ich glaube nicht an das Argument mit den vielen tollen Konsumenten."

Sie ist nicht einzige, Auch Harriet Egessa verlässt manchmal der Mut, wenn sie an die Zukunft ihres Landes denkt. Seit einigen Jahren arbeitet die resolute Krankenschwester mit der gelockten Perücke im Tororo-Distrikt im Südosten von Uganda und bemüht sich dort, den aus den Fugen geratenen Bevölkerungszuwachs zu stoppen. Eben hat eine Gruppe Laienschauspieler vor rund 150 Studenten des Lehrercolleges von Torono ein Theaterstück aufgeführt, das junge Menschen spielerisch mit Fragen der Familienplanung und Aids-Aufklärung konfrontiert.

Viele der jungen Zuschauer haben sich prächtig amüsiert. Doch die erhofften Erfolge bei der Geburtenkontrolle wollen sich dennoch nicht so recht einstellen. "Noch immer kriegen sehr viele Frauen in Uganda im Schnitt sieben Kinder", seufzt Egessa. Immerhin steigen die Nachfrage nach Aufklärung und der Wunsch nach weniger Kindern. "Doch unter Kontrolle haben wir die Lage nicht", sagt sie.

Noch immer werde jedes vierte Mädchen Mutter, ehe es überhaupt volljährig ist, erzählt die Krankenschwester. Die meisten hätten mit 20 oft schon ein zweites. Für Egessa spielen dabei vor allem kulturelle Gründe eine zentrale Rolle "Frauen, die in Uganda viele Kinder gebären, werden im Dorf respektiert. Und wenn man alt ist, hat man Kinder, die nach einem sehen."

Ungute Rolle von Vatikan und Muslims

In der Tat garantieren helfende Hände in einem Umfeld ohne jedes soziales Netz nicht nur billige Arbeitskraft, sondern auch eine Art Lebensversicherung. Im Gegensatz dazu werden Frauen, die nicht gebären, oft verlassen. Wenn eine Frau Verhütungsmittel nutzt, argwöhnen viele Männer, dass sie fremdgehen wolle. Kein Wunder, dass sich viele Mädchen schon wegen des hohen gesellschaftlichen Drucks für eine große Familie entscheiden. Um daran etwas zu verändern, müssten die Machtstrukturen zwischen Mann und Frau in Uganda grundsätzlich verändert werden. Doch davon ist das Land noch weit entfernt.

Dabei könnte mit einer intensiven, von Regierung und Geberländern nachdrücklich geförderten Familienplanung viel bewirkt werden. So wäre zum Beispiel das Erreichen der Millenniums-Entwicklungsziele der Vereinten Nationen (UN), welche die extreme Armut bis 2015 halbieren sollen, in Bereichen wie Bildung und Gesundheitsvorsorge um ein mehrfaches billiger, wenn man das Bevölkerungswachstum mit mehr Nachdruck angehen würde. "Während die hohen Geburtenraten bei fast allen Entwicklungsprogrammen vernachlässigt wurden, sind jahrelang massive Ressourcen ohne größeren Erfolg in die Bekämpfung der Aids-Epidemie geflossen", klagt Elly Mugumya, Chef der International Planned Parenthood Association.

Eine Allianz aus Vatikan, amerikanischen Evangelisten und Muslims hat ihrerseits dafür gesorgt, dass die Familienplanung zu einem Tabu der Entwicklungspolitik geworden ist. Aber auch Chinas Zwangsmodell der Ein-Kind-Politik hat entscheidend dazu beigetragen, dass Initiativen zur Familienplanung im Westen bis vor kurzem als moralisch fragwürdig galten - mit verheerenden Folgen für die betroffenen Länder. In Deutschland beschäftigt sich derzeit fast nur die Stiftung Weltbevölkerung (DSW) in Hannover intensiver mit diesem für Afrika so zentralen Thema.

Viel dürfte nach Ansicht von Experten wie Mugumya davon abhängen, ob sich diese Berührungsangst überwinden lässt und neben den Regierungen in Afrika auch die internationale Gemeinschaft das verlorene Interesse an Bevölkerungsfragen zurückgewinnt. Lampedusa könnte dabei zu einer Art Weckruf werden.