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Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 20.09.2013

Neue Zürcher Zeitung

Boom in Afrika

Reichlich unausgeschöpftes Potenzial im Süden

Der vielbeschworene afrikanische Boom ist nur so gut wie die Wirtschaftspolitik in den einzelnen Staaten. Eine Goldmine in Südafrika.Der vielbeschworene afrikanische Boom ist nur so gut wie die Wirtschaftspolitik in den einzelnen Staaten. Eine Goldmine in Südafrika. (Bild: Reuters)
Nach einem Jahrzehnt Wachstum zeigen Afrikas Volkswirtschaften Fortschritte. Afrika holt auf: Die Armut geht zurück, Investoren entdecken Konsummärkte. Der nötige Strukturwandel und eine Industrialisierung lassen aber auf sich warten.

Markus M. Haefliger, Nairobi

Konjunkturberichte über Schwarzafrika (Afrika südlich der Sahara) sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Vor einem Jahrzehnt zeichneten sie ein düsteres Bild. Die meisten Volkswirtschaften der Region kämpften mit hohen Staatsdefiziten, negativen Aussenbilanzen und hoher Inflation. Das Wachstum stagnierte, wenn es nicht zurückging. Heute weisen die Indikatoren vielerorts in die umgekehrte Richtung.

Jahrzehnt der Hoffnungen

Ein Vergleich der Veränderungen des Pro-Kopf-Einkommens von 1998 bis 2002 und von 2008 bis 2012 in neun ausgewählten Ländern verdeutlicht dies. War das Bruttoinlandprodukt pro Kopf während der ersten Fünfjahresperiode um durchschnittlich 12% geschrumpft, wuchs es ein Jahrzehnt später um 23%. Nicht ins Bild passen Erdöl- und Rohstoffexporteure, die schon früher Wachstum kannten, sowie Krisenstaaten, die auch jüngst weiter stagnierten. Aber im Alltag spürbares Wachstum ist keine Ausnahme mehr: 20 erdölimportierende Länder weisen jährliche Zuwachsraten von 4% und mehr über längere Zeit auf. Durchschnittlich wächst die Region um 5%, die erdölproduzierenden Länder etwas stärker, die Länder mittleren Einkommens, die stärker von der globalen Konjunktur abhängen, etwas schwächer.

Verschiedene Beobachtungen bestätigen diese Entwicklung: von den Baubooms in den Metropolen über die Zunahme der Mobiltelefonie, die Rückkehr von Afrikanern aus der Diaspora, die in der Heimat investieren, bis zur wachsenden Zahl von Supermärkten (siehe Zusatzartikel). In keiner Weltregion ist die Durchdringung mit Mobiltelefonen seit 2000 so stark gewachsen wie in Schwarzafrika, von weniger als 1% der Bevölkerung mit einem Anschluss auf 55% im vergangenen Jahr. Da viele Afrikaner ihre Handys gemeinsam nutzen, liegt die tatsächliche Durchdringung noch höher. Der Kommunikationssektor trug je nach Land 1 bis 2 Prozentpunkte zum Wirtschaftswachstum bei.

Auch Zauderer fügen sich dem Trend. Äthiopien, das mehrere internationale Organisationen beherbergt, aber über notorisch schlechte Mobilfunkverbindungen verfügt, hat vor kurzem mit den chinesischen Technologiekonzernen ZTE und Huawei Abkommen über insgesamt 1,6 Mrd. $ für den Ausbau der Kapazitäten unterzeichnet. Derzeit liegt das Land mit einer Handy-Durchdringung von 23% am Ende der Statistik. Gar nur 1% der Äthiopier verfügt über internettaugliche Smartphones, im Vergleich zu 8% in Kenya und 25% in Südafrika.

Dass Äthiopien die Entwicklung verschlafen hat, ist ein Hinweis darauf, dass in der Region die Politik eine grössere Rolle spielt als anderswo - im Guten wie im Schlechten. Das Bild bleibt widersprüchlich. Staaten mit solidem Wachstum stehen etwa 20 politisch zerbrechliche oder wirtschaftlich stagnierende Staaten entgegen, die jährlich um 4% oder weniger wachsen. In 10 von 49 Staaten kam es allein in den vergangenen vier Jahren zu gewaltsamen Konflikten mit nachhaltigen Negativfolgen für Handel und Produktion.

Zu den Krisenländern kommen andere Probleme hinzu. Eine Reihe von Staaten wächst, macht aber kaum Fortschritte bei der Armutsbekämpfung und der sozialen Entwicklung. Bei Erdölexporteuren wie Nigeria, Angola oder Gabon überrascht dies weniger - die Diskrepanz zwischen Wachstum und Armut beschäftigt Analytiker des «Ressourcen-Fluchs» seit Jahrzehnten. Aber weshalb wuchs Burkina Faso, ein einkommensschwaches Entwicklungsland ohne Rohstoffvorkommen, zwischen 2003 und 2008 überdurchschnittlich, konnte den Anteil der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze aber nur von 49 auf 46 Prozent senken?

Schwache Verwaltungen

In einer 2012 veröffentlichten Studie gingen zwei Afrika-Experten der Weltbank, Shantayanan Devarajan und Wolfgang Fengler, den Ursachen der Divergenzen nach. Sie verglichen diese mit dem Country Policy and Institutional Assessment (CPIA), einem Datenset, das die Weltbank-Tochter IDA für die Vergabe von stark konzessionierten Krediten heranzieht.

Das CPIA bewertet vier Politikbereiche nach insgesamt 16 Kriterien. In der Wirtschaftspolitik (darunter fallen Budget-, Währungs-, Geld- und Steuerpolitik) erzielten afrikanische Staaten Fortschritte, ebenso in der Sozialpolitik (Frauenförderung, Zugang zu Sozialdiensten, Arbeiter- und Umweltschutz). Laut den Autoren sind rationale politische Massnahmen die Voraussetzung dafür, dass afrikanische Länder günstige Faktoren wie den technischen Fortschritt und die demografische Entwicklung nutzen können. Letztere verschafft Afrika einen einzigartigen Vorteil: Während der Anteil der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter weltweit sinkt, dürfte er in Afrika bis 2050 weiter wachsen. Was die Urbanisierung angeht, wächst diese bis 2030 auf 50%, in Ländern wie Nigeria, Südafrika und Kenya auf 80%. Städte gelten als Entwicklungsmotoren, weil sie einen effizienteren Zugang zu Dienstleistungen und Erwerbsmöglichkeiten erlauben.

In zwei Bereichen des CPIA schneidet Schwarzafrika dagegen sehr schlecht ab. Erstens sind die Leistungen der öffentlichen Verwaltung ungenügend; diesbezügliche Normen umfassen ein verbindliches Regelwerk, transparente Finanzhaushalte sowie wirksame Institutionen der Steuereintreibung und Korruptionsbekämpfung. Bei der Strukturpolitik, zweitens, weist die Bewertung der IDA sogar nach unten - dazu gehören Handelsliberalisierung, funktionierende Finanzaufsicht sowie Rahmenbedingungen für den Privatsektor. Regionale Freihandelsabkommen kommen zwar voran, aber langsam und uneinheitlich. Der Anteil des Binnenhandels liegt noch immer bei bloss 10% des Gesamthandels (in der EU sind es 65%). Ostafrika ist bei der Integration am weitesten fortgeschritten, aber im Hauptquartier der East African Community (EAC), einer Zollunion, gilt als die meistbeschäftigte Abteilung diejenige, die Klagen über neue nichttarifäre Hemmnisse entgegennimmt.

Nötiger Strukturwandel

Trotz anhaltendem Wachstum stockt die Industrialisierung. In einigen Ländern, allen voran Südafrika, gingen gar industrielle Arbeitsplätze verloren. Die Integration Afrikas in die Weltwirtschaft bleibt auf wenige Sektoren, vor allem Rohstoffe, beschränkt und bewegt sich kaum. Nach Subregionen aufgegliedert, veränderten sich innerhalb des zurückliegenden Jahrzehnts die Anteile der wichtigsten Exportprodukte an den Gesamtausfuhren minimal. Die Hindernisse für den nötigen Strukturwandel hin zu mehr produktiven formalen und industriellen Beschäftigungsmöglichkeiten lauten mangelnde Infrastrukturen sowie Vetternwirtschaft und Korruption. Moçambique beispielsweise wächst laut den Statistiken seit 2000 anhaltend, aber der Trend rührt fast ausschliesslich von kapitalintensiven Investitionen im Bergbau her. Der arbeitsintensive Kleinbauernsektor dagegen bleibt mangels Investitionen in Strassen und Infrastrukturen von den lokalen und regionalen Märkten ausgeschlossen. In Tansania hat die Regierung versucht, Kleinbauern durch Gutschriften, die zum Erwerb von Produktionsfaktoren berechtigen, unter die Arme zu greifen. Das Vorhaben wurde jedoch durch illegale Abzweigungen unterlaufen - die Gutschriften landeten zu 60% bei korrupten Lokalpolitikern.

Horrende Transportkosten

An Wirtschaftskonferenzen auf dem Kontinent ist viel von der Notwendigkeit der Erhöhung der Wertschöpfung die Rede. In der Praxis wird eine Industrialisierung aber durch zu hohe Produktionskosten unterbunden. Als Beispiel, wie willkürlich die Verhältnisse sind, aber auch verbessert werden könnten, kann der Strassentransport entlang des Mombasa-Nairobi-Uganda-Korridors in Ostafrika herhalten. Laut Gilbert Langat, dem Direktor des Shippers Council of Eastern Africa, einer privaten Interessenvereinigung, sassen bis vor kurzem Import- und Exportgüter im Hafen von Mombasa durchschnittlich während acht Tagen fest und verursachten unnötige Lagerungskosten. Die kenyanischen Behörden hatten die Anzahl der Ausfahrtstore des Zollfreilagers auf vier von achtzehn beschränkt.

Die neue Verwaltung hat jüngst die für den Transit zugelassenen Tore auf dreizehn erhöht, was augenblickliche Verbesserungen zur Folge hatte. Aber nach wie vor sind Lastwagen nur für bestimmte Transitrouten lizenziert, so dass sie die Hälfte der Zeit leer durch die Gegend fahren. Spediteure müssen Kautionen aller Art hinterlegen, was korrupten Praktiken Tür und Tor öffnet.

Dazu kommen exzessive Gewichts- und Polizeikontrollen. Insgesamt kostet der Transport eines Containers von China bis Mombasa weniger als 1000 $, aber von Mombasa bis Kigali in Rwanda 4500 $, bis Juba im Südsudan 7000 $. Die Behinderungen hemmen den Markteintritt von Transportunternehmen; sie führen zu einem Oligopol und zu Wucherpreisen. Laut einer Weltbankstudie aus dem Jahr 2009 kosten Transportleistungen in Afrika bis zu 100% mehr als die effektiven Betriebskosten der eingesetzten Lastwagen. Korrupte Netzwerke streichen Extragewinne ein und lähmen den Ausbau und Betrieb von Alternativen. Der Anteil des Frachttransports per Eisenbahn entlang des genannten Korridors ist inzwischen auf 2% gesunken.

Beschäftigungs-Notstand

Die afrikanischen Staaten haben in den Augen von Devarajan und Fengler noch einen weiten Weg zu gehen. Verbesserungen des Investitions- und Geschäftsklimas, wie sie die Weltbank mit dem «Doing Business»-Index anstrebt, haben nur beschränkte Wirkung, weil sie den formellen Privatsektor betreffen. Dieser Sektor beschäftigt weniger als 10% der arbeitenden Bevölkerung und kann die 7 bis 10 Mio. Afrikaner, die jährlich ins arbeitsfähige Alter eintreten, nicht absorbieren. Wirksame Reformen müssen daher auch den informellen Sektor berücksichtigen, also Familienbetriebe in Landwirtschaft, Handwerk und Kleinhandel. Dies kann auf der Angebotsseite durch Berufsbildung geschehen, auf der Nachfrageseite durch verbesserte Infrastrukturen und den Abbau von bürokratischen Schikanen für Kleinbetriebe. Selbst unter Annahme der optimistischsten Szenarien wird der informelle Sektor aber auch in zehn Jahren noch 70% aller Afrikaner beschäftigen.

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Die Entdeckung des afrikanischen Konsumenten

Ein wachsender Anteil der Bevölkerung in Schwarzafrika verfügt über freies Einkommen. Meist bleibt es gering, aber die kumulierte Wirkung ist dennoch hoch. Auf die wachsende Kaufkraft reagiert auch die globale Konsumindustrie. Laut einem Ende vergangenen Jahres publizierten Bericht von McKinsey erwarten Experten, dass Firmen des Gross- und Detailhandels, Kundenbanken sowie Telekommunikations- und Reiseunternehmen bis ins Jahr 2020 um die 400 Mrd. $ investieren. Schon im letzten Jahrzehnt trug der Konsumsektor mehr zum kontinentweiten Wachstum bei als Rohstoffe.

Laut der Studie liegt der Wert des Privatkonsums in Afrika höher als etwa in Russland oder Indien. Ein wichtiger Wachstumsmotor ist das Internet, ausserdem wird das Wachstum durch die Demografie beflügelt: Als Käufer treten vor allem Junge und Städter auf. Nutzniesser sind Ladenketten, die vielerorts wie Pilze aus dem Boden schiessen. In Kenya bestreiten vier Supermarktketten knapp 40% des Nahrungsmittelhandels; in Südafrika liegt der Anteil bei über 50%. Supermärkte beeinflussen die ländliche Entwicklung positiv, weil sie finanzstark sind, Kleinbauern Kredite gewähren und in Lagerräume und dergleichen sowie die Qualitätssicherung investieren. Das Nachsehen haben die häufig parasitären Mittelsmänner des informellen Handels.

Zunehmend investieren internationale Ladenketten auf dem Kontinent. Vergangenes Jahr erregte der amerikanische Konzern Wal-Mart Aufsehen, als er für 2,4 Mrd. $ eine Mehrheit an der führenden südafrikanischen Supermarktkette Massmart erwarb. Massmart hatte bereits zuvor in der Region expandiert, eine Tendenz, die Wal-Mart ausbauen möchte. Bis 2016 sollen kontinentweit 1250 neue Läden eröffnet werden. Auch Spar und Carrefour investieren, ihnen folgen Spezialisten für Haushaltgeräte wie Mr Price und Truworths.

Die Kaufkraft nach Einkommensschichten zeigt erwartungsgemäss das Bild einer unterentwickelten Region: Haushalte mit einem Jahreseinkommen unter 5000 $ stellen mit über 300 Mrd. $ pro Jahr gesamthaft die stärkste Kaufkraft, während Schichten, die über Jahreseinkommen von mehr als 5000 $, 10 000 $ und 20 000 $ verfügen, je rund 200 Mrd. $ Kaufkraft auslösen. Nach den Berechnungen von McKinsey wächst die Kaufkraft der Bevölkerungsgruppe mit einem Jahreseinkommen von über 20 000 $ jedoch am stärksten.

Die oft zitierte «afrikanische Mittelklasse» wächst demnach allenfalls längerfristig. Die African Development Bank definiert die angebliche Schicht optimistisch als Personengruppe mit einem täglichen Einkommen zwischen 2 $ und 20 $. Schaut man die Analysen genauer an, verdienen jedoch 60% dieser heterogenen Gruppe zwischen 2 $ und 4 $. Dies mag ein (bescheidenes) freies Einkommen ermöglichen, aber es handelt sich eher um Beschäftigte im informellen Sektor mit einer prekären Existenz als um Mitglieder eines Mittelstands im soziologischen Sinn. Behält McKinsey recht, wächst die tatsächliche Mittelschicht immerhin am raschesten.