Beitrag vom 27.10.2010
DIE ZEIT 27.10.10
ENTWICKLUNGSHILFE
276 Seiten Hass und Resignation
In ihrem Buch "Die Mitleidsindustrie" klagt die Journalistin Linda Polman die NGOs in Krisengebieten an. Lösungsansätze für die Misere hat sie keine.
VON: Hauke Friederichs
In diesem Buch geht es um Korruption, um die brutalsten Konflikte seit dem Zweiten Weltkrieg. Es handelt von Metzeleien an Minderjährigen, Verstümmelungen, Vergewaltigungen, von Hungerkatastrophen alttestamentarischen Ausmaßes und Seuchen, die Westeuropäer nur noch aus den Geschichtsbüchern kennen. Und dennoch stellt sich das schlechte Gefühl beim Lesen vor allem im letzten Kapitel von Die Mitleidsindustrie ein. Denn dort, wo andere Autoren Lösungsvorschläge bieten, offenbart die niederländische Autorin Linda Polman, dass auch sie nicht weiter weiß.
Die 50-jährige Journalistin, die seit mehr als 20 Jahren von den Krisenschauplätzen der Welt, vor allem aus Afrika berichtet, schaut hinter die Kulissen der internationalen Hilfsorganisationen. Diese gelten automatisch als die Guten, doch Polman entdeckt, dass sie in vielen Kriegs- und Katastrophen nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems sind. Sie beschreibt vor allem die Hilfseinsätze in Darfur, im Kongo und in Sierra Leone
Die Kapitel heißen Goma. Die 'totale ethische Katastrophe', Humanitäre Hilfe als Kriegswaffe oder Flüchtlingskrieger. In ihnen beschreibt Polman das Dilemma: Sie brauchen von Menschen oder der Natur verursachte Katastrophen, um ihre Arbeit zu finanzieren. Sie müssen Mitleid in den Geberstaaten erwecken, die Plakate mit den ausgemergelten Kindern mit den großen Augen in die Fußgängerzonen hängen. Es sind so viele Organisationen, die ihren Teil vom großen Spendenkuchen abhaben wollen.
Krieg ist gut fürs Geschäft dieser angeblichen Mitleidsindustrie, schreibt Polman. In den Einsatzgebieten kooperieren sie mit Kriegsparteien, verschwenden Geld und ziehen irgendwann einfach weiter. "Rettungssöldner", hätte Polman ihr Buch auch nennen können. Tief schwarz pinselt sie ihr Bild der NGOs. Und das letzte Kapitel, das Nachwort, trägt den Titel: Stellt ihnen Fragen. Und das ist dann auch alles, was Linda Polman ihren Lesern mit auf dem Weg gibt. Stellt den NGOs Fragen. Dass sie damit enttäuscht, weiß die Autorin selbst.
"Jetzt wollen Sie sicher wissen, wie es denn sein sollte", schreibt die Journalistin ihrem Leser, der bis dahin 188 sehr zornige Seiten gelesen hat, auf denen Polman gleißende Blitze auf Hilfsorganisationen, die internationale Staatengemeinschaft und die Vereinten Nationen abfeuert. Genau das täte tatsächlich gut, nachdem man von humanitären Helfern erfahren hat, die sie sich abends im Katastrophengebiet in Kneipen mit blutjungen Prostituierten vergnügen. Nachdem sich Polman über ausländische Helfer ausgelassen hat, die in Afghanistan die Hauptstadt Kabul und ihre sicheren Häuser nicht verlassen und stattdessen einheimische Mitarbeiter opfern und in die gefährlichsten Gegenden schicken. Nachdem man gelesen hat, wie Organisationen in Zentralafrika mit den Handabhackern der RUF oder den Völkermördern der Hutu zusammengearbeitet haben.
Doch Polman hat nur eine bittere Pille übrig: "Eine schnelle Patentlösung soll den Schmerz betäuben. Diese Lösung habe ich nicht." Es spricht für die Autorin, dass sie die Schwäche ihres Buchs so gnadenlos ehrlich offenlegt. Doch das Gefühl der Unzufriedenheit legt sich damit nicht. Wer so harte Attacken wie Polman reitet, müsste doch wissen, wie die von ihr gescholtenen Organisationen, von Ärzte ohne Grenzen über das Internationale Rote Kreuz bis zum Welternährungsprogramm der UN, die Hilfe besser verteilen könnten. Kaum ein Vorschlag, wie man der Verschwendung von Geld Herr und wie verhindert werden könnte, dass Rebellen, Warlords und andere Verbrecher ihre Bürgerkriege am Laufen halten, um auf Kosten der Darbenden reich zu werden.
Ihr einziger Vorschlag klingt nach dem Zynismus, den sie den vermeintlich Guten vorhält: "Es muss tatsächlich die Möglichkeiten geben, nichts zu tun, wenn das besser ist, aber das ist kein Plädoyer dafür, überhaupt nichts mehr zu tun. Ich plädiere vielmehr dafür, das System nicht vor Kritik zu bewahren, denn es läuft zu vieles falsch." Solche Sätze lassen den Leser ratlos und vor allem enttäuscht zurück. Es sind Worthülsen, die aus dem Sprachbausatz von Politikern stammen könnten, die auf internationalen Konferenzen zusammenzukommen, um ein wenig Hilfe für irgendeines dieser afrikanischen Länder zu verteilen.
Am Ende scheint Polman der Mut zu fehlen, ihrer eigenen Argumentation zu folgen. Was denn nun: Helfen oder nicht helfen, das ist hier die Frage. Oder konkreter: Können wir es ethisch verantworten, hunderttausenden Hungernden nicht zu helfen, weil Hilfsmittel auch bei Terroristen oder bei Unrechtsregimen landen könnten? Die Liste der undemokratischen Länder ist lang: Wollen wir die Nordkoreaner für die Steinzeitkommunisten an ihrer Staatsspitze bestrafen? Sollen die Kongolesen hungern, weil ihr Land seit Jahrzehnten Schauplatz einer der widerlichsten Bürgerkriege in Afrika ist, und auch Kämpfer von den Care-Paketen leben? Und lassen wir Pakistan mit den Folgen der Flut alleine, weil die Taliban dort entstanden und vom Grenzgebiet aus Afghanistan destabilisieren? Die Antworten muss der Leser sich selbst erarbeiten.
Trotzdem sollte man dieses Buch lesen. Die Autorin versteht ihr Handwerk. Besonders die hart recherchierten Fallbeispiele zeigen, wie leicht Hilfsorganisationen zu Handlangern von Diktatoren, Kriegsverbrechern und Gangstern werden: Omar Bashir im Sudan oder Mengistu Haile Mariam in Äthiopien sind da nur zwei Beispiele. Welch große Teile der gespendeten Summen für Verwaltung, PR-Kampagnen und Gehälter ausgegeben werden. Weshalb der Konkurrenzkampf der Organisationen um die Aufmerksamkeit der Spender zu Übertreibungen und auch zu Lügen führt. Vieles davon hat irgendwo schon einmal gestanden, doch Polman trägt viele Einzelfälle zu einer großen Abrechnung zusammen - auch wenn ein Teil ihrer Kritik über das Ziel hinausschießt und unfair ist.
Polman wirft die schmerzhaften Fragen auf. Die Schlüsselfrage: Sollen wir denn nichts tun?, fragt ein Mitarbeiter einer NGO die Autorin, die sich darüber beschwert, dass Kindersoldaten der RUF ihren Opfern die Gliedmaßen angeblich deshalb abschlugen, damit Helfer kommen. "Hör zu", fährt er fort, "eine Kollegin, auch Physiotherapeutin, kam heute Morgen blass, leichenblass in mein Büro. Sie hatte gerade eine Patientin gehabt, ein Mädchen, 16 Jahre alt vielleicht. Rebellen hatten ihre Hand abgehackt, und sie gezwungen, die zu essen. Sollen wir dann einfach weggehen und das Mädchen im Stich lassen?" Polman ist ratlos: "In diesem humanitären Zeitalter müssen wir uns diese Frage zumindest stellen. Sonst bereiten wir das Schlimmste für morgen vor."