Beitrag vom 05.06.2010
DIE ZEIT ONLINE
ENTWICKLUNGSHILFE
Spart Europa auf Kosten der Armen?
Erste EU-Länder sparen an der Entwicklungshilfe, um ihre Schulden zu bekämpfen. Die OECD warnt vor einem "ängstlichen Nationalismus" in Europa.
VON Philip Faigle
Eckhard Deutscher ist besorgt. Der Vorsitzende des Entwicklungsausschusses der Industrieländer-Organisation OECD in Paris beobachtet derzeit genau, wie quer durch Europa die Staatsausgaben gekürzt werden, um die Schuldenberge abzutragen, die in der Wirtschaftskrise angehäuft wurden. Deutscher fürchtet, dass die Staaten angesichts der angespannten Haushalte auch dort sparen werden, wo es die Bürger erstmal am wenigsten trifft: bei der Entwicklungshilfe. Einen "ängstlichen Nationalismus" macht der Fachmann aus Paris in einigen Mitgliedsstaaten aus. Die Frage, wie Europa seiner Verantwortung noch gerecht werden könne, werde "immer virulenter".
Erste Anzeichen, dass der Sparkurs in Europa auch den Strom der Hilfszahlungen kleiner werden lässt, gibt es bereits. Spanien wird seine Entwicklungshilfe in den kommenden zwei Jahren um 600 Millionen Euro kürzen. Österreich hat seine Leistungen für die internationale Armutsbekämpfung bereits im vergangenen Jahr um fast ein Drittel zurückgefahren. Frankreich wird die Entwicklungshilfe - rechnet man die Schuldenerlasse heraus - im kommenden Jahr um 60 Millionen Euro kappen, rechnet die britische Lobby-Organisation One vor. In anderen Staaten schmieden die Regierungen gerade Pläne, wie das Defizit im Haushalt gesenkt werden könnte.
Schon jetzt laufen einige Länder ihren Zusagen aus der Vergangenheit hinterher. Vor fünf Jahren haben sich die Mitgliedsstaaten dazu verpflichtet, ihre Ausgaben für Entwicklungshilfe zu erhöhen. Bis zum Jahr 2010 sollte der Anteil auf 0,51 Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts steigen, bis 2015 gar auf 0,7 Prozent. Schon jetzt steht fest, dass die Europäer das erste Etappenziel verfehlen werden. Derzeit beträgt die Quote im Durchschnitt aller EU-Länder rund 0,42 Prozent, insgesamt etwa 49 Milliarden Euro. Zwar zahlt Deutschland mit neun Milliarden den größten Anteil. Bis zum Ende des Jahres wird die Regierung in Berlin aber höchstens auf einen Anteil von 0,4 Prozent am BIP kommen - und sein Versprechen damit brechen. Auch Frankreich wird das Ziel verfehlen (siehe Grafik).
Dementsprechend aufmerksam verfolgen die Hilfsorganisationen die Haushaltsklausur in Berlin an diesem Sonntag und Montag. Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel (FDP) wird in den Verhandlungen seinen Etat gegen die Sparzwänge im Haushalt verteidigen. Dass es zu Kürzungen im Entwicklungshilfe-Etat kommt, gilt derzeit allerdings als unwahrscheinlich. Aus Verhandlungskreisen ist zu hören, dass Niebel rund 400 Millionen Euro mehr für sein Ressort rausschlagen wird, um die international vereinbarten Ziele nicht ganz so drastisch zu verfehlen.
Offenbar will die Regierung auch deshalb Kürzungen vermeiden, um auf dem G-20-Treffen in Seoul im November nicht allzu schlecht dazustehen. Dort wollen die mächtigsten Industrieländer über den Kampf gegen die Armut beraten. Zudem werden die G-8-Staaten während ihres Treffens in Kanada im Juni erstmals öffentlich auswerten, welche Entwicklungsziele erreicht wurden und welche nicht. Deutschland wird dabei schlechter abschneiden als etwa die USA oder Großbritannien.
Zwar betonen auch Entwicklungshilfe-Organisationen, dass es zu kurz gegriffen ist, nur den stockenden Geldfluss in die armen Länder zu beklagen. Der alleinige Blick auf die Hilfszahlungen verschleiere etwa das Problem der Agrarsubventionen und der Migrationskontrollen, mit denen die reichen Länder ihre Märkte abschotten. Dennoch hält der OECD-Experte Deutscher die gebrochenen Versprechen für fatal: "Dadurch wird die Glaubwürdigkeit der europäischen Regierungen in den armen Ländern untergraben."
Zugleich warnt er davor, die Probleme zu unterschätzen, die sich langfristig für die Industrieländer ergeben. Die Entwicklungsländer, die bereits von Nahrungsmittelknappheit, von der Ölkrise und den klimatischen Veränderungen betroffen seien, litten weit stärker als die Industrieländer unter der Wirtschaftskrise. Millionen seien dadurch von neuer Armut betroffen. "Die kleinteilige Politik der reichen Länder wird uns irgendwann einholen", sagt Deutscher. "Nicht in einigen Jahrzehnten, sondern womöglich schon in wenigen Jahren."