Beitrag vom 09.07.2020
NZZ
«Die meisten afrikanischen Länder wären froh und dankbar, wenn sie die deutsche Polizei hätten»
Wie erlebt ein Schwarzer aus der Oberschicht die Debatte über Rassismus? Asfa-Wossen Asserate, Grossneffe des letzten äthiopischen Kaisers Haile Selassie, spricht im Interview über «Biodeutsche» auf Demos, Migranten, die ihr Gastland verachten, und den Bildungsmangel der neuen Bilderstürmer.
Haben Sie das Video gesehen, das den Tod von George Floyd bei einem brutalen Polizeieinsatz zeigt, Prinz Asserate?
Mehrmals. Es ist furchtbar.
Auch in Deutschland sind danach Zehntausende gegen Rassismus und Polizeigewalt auf die Strasse gegangen.
Das hat mich stolz gemacht. Wie viele Biodeutsche – entschuldigen Sie den Ausdruck – haben wir da gesehen? Es waren so viele, aus allen Generationen, sogar Omas. Das brauchen wir jetzt: eine Koalition der Gerechten.
Ist die Lage in Deutschland mit der Lage in den Vereinigten Staaten vergleichbar?
Natürlich gibt es auch hier faule Äpfel, in der Polizei und in anderen Behörden. Denken Sie an den NSU-Skandal. Aber ich würde nie auf die Idee kommen, Deutschland als rassistischen Staat zu bezeichnen.
Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken hat der deutschen Polizei latenten Rassismus vorgeworfen, später ist sie zurückgerudert.
Das war masslos. Als Afrikaner sage ich Ihnen: Die meisten afrikanischen Länder wären froh und dankbar, wenn sie die deutsche Polizei hätten.
Sie haben die Anführungszeichen bei den «Biodeutschen» eben quasi mitgesprochen. Wie möchten Sie selbst genannt werden: Person of Color? Afrodeutscher?
Ich bin ein Deutscher. Meine Heimat ist Deutschland, und mein Vaterland ist Äthiopien. Diese Diskussion über richtige und falsche Begriffe ist hochneurotisch. Wenn Sie Koslowski heissen, sagt niemand: Das ist ein polnischer Deutscher. Wozu brauche ich einen Zusatz? Das Problem ist mir schon klar: Deutschland war eines der letzten Länder in Europa, die das Blutsrecht bei der Staatsbürgerlichkeit abgeschafft haben, und in vielen Köpfen steckt dieses Denken noch drin. Ich bin, was das angeht, ein Verehrer der Französischen Revolution und des Begriffs «citoyen». Für Jean-Jacques Rousseau handelt es sich dabei um einen Staats-, Ehren- und Weltbürger. So sehe ich mich – als Bestandteil des deutschen Gemeinwesens, der eigenverantwortlich daran teilnimmt und es mitgestaltet. Natürlich haben es die Franzosen übertrieben. In den frankofonen Ländern Afrikas mussten die afrikanischen Schüler bis in die sechziger Jahre lernen, dass ihre Vorfahren Gallier seien (lacht). Das geht ein wenig zu weit.
Was sagen Sie zu Ausländern und Deutschen mit Migrationshintergrund, die dieses Land verachten und diejenigen, die schon länger hier leben, «Kartoffeln» und «Schweinefleischfresser» nennen?
Wer so etwas sagt, für den habe ich auch nur Verachtung übrig. Wissen Sie, wie Integration gelingt? Indem wir die Fehler von 2015 nicht wiederholen. Jeden, der ins Land kommt, müssen wir vom ersten Tag an belehren: Ihr seid willkommen, aber nur unter folgenden Bedingungen. Erstens, wir sind ein demokratischer Staat, in dem Männer und Frauen gleiche Rechte haben. Zweitens, wir haben Meinungs- und vor allem Religionsfreiheit. Drittens, dieses Land ist jüdisch-christlich geprägt; Antisemitismus steht bei uns unter Strafe. Viertens, gebt euch Mühe, unsere Sitten und Bräuche kennenzulernen. Fünftens, lernt unsere Sprache. Das bedeutet natürlich im Umkehrschluss, dass wir nicht nur anerkannten Flüchtlingen kostenlose Sprachkurse anbieten müssen; die muss es vom ersten Tag an in jeder Asylunterkunft geben. Für die anerkannten Flüchtlinge müssen wir ausserdem den Arbeits- und den Wohnungsmarkt schneller zugänglich machen, damit es nicht zur Entstehung einer Parallelgesellschaft kommt.
«Ich bin ein Mensch, der nie unter Rassismus gelitten hat. Es gibt keine weisse Tür, die für mich verschlossen geblieben wäre. Das ist ein Privileg, das ich zu schätzen weiss.»
Ihre Belehrungen klingen für deutsche Verhältnisse recht forsch.
Wissen Sie, ich bin aufgewachsen mit den Worten des ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss. Der hat mal auf die Frage nach den Grundlagen des Abendlandes von den drei Hügeln gesprochen, auf denen dieses stehe: Akropolis, Kapitol und Golgota. Griechische Philosophie, römisches Recht und christlicher Glaube. Das sind die Fundamente, auf der unsere Zivilisation begründet ist. Ich würde als viertes Element noch die Aufklärung hinzufügen.
Wo steht dieser Hügel?
In Königsberg.
Kant gilt inzwischen auch als belastet.
Ich weiss, der arme Kerl. Er hätte sich seine Volkskunde sparen sollen: Der schwarze Mann kommt nicht als schwarzer Mann auf die Welt, sondern als Weisser, und im Laufe seines Lebens fängt es dann mit dem rechten Zeh an . . . (lacht). So einen Quatsch kann nur ein Weisser schreiben, der nie einen Schwarzen gesehen hat.
Sie bleiben trotzdem Kantianer?
Selbstverständlich. Der kategorische Imperativ ist die Grundlage für alles Vernünftige. Handle so, dass die Maxime deines Handelns das allgemeine Gesetz sein könnte.
Fühlen Sie sich eigentlich wohl in Deutschland?
Sehr. Ich muss allerdings eingestehen, dass meine Situation eine besondere ist. Ich bin ein Mensch, der nie unter Rassismus gelitten hat. Es gibt keine weisse Tür, die für mich verschlossen geblieben wäre. Das ist ein Privileg, das ich zu schätzen weiss.
Ihre Beziehung zu diesem Land begann früh. Sie haben als Kind in Addis Abeba die Deutsche Schule besucht.
Und ich hatte seit meinem siebten Lebensjahr deutsche und europäische Nannys. Wissen Sie, als ich 1968 nach Deutschland kam, konnte ich nicht nur die Sprache sprechen. Ich hatte ein deutsches Abitur in der Tasche, und ich wusste einiges über die deutsche Kultur. Ich war ein Ausländer, der schon integriert war, als er ankam. Die allermeisten Flüchtlinge, die hierherkommen, können von solchen Umständen nur träumen. Rassismus, wie ihn diese Menschen deshalb vielleicht erleben, habe ich nie erlebt.
Gab es neben Ihrer Vertrautheit mit der Sprache und Geschichte noch einen anderen Faktor, der Ihre Integration begünstigt hat?
Mein Engagement. Ich habe in dem halben Jahrhundert, das ich hier nun lebe, immer den Kontakt zu den Deutschen gesucht. Auch zu andersdenkenden Deutschen. Für mich gibt es keine Orte, die tabu wären, auch im Osten nicht. Ich hatte dort viele Begegnungen.
Sie haben in Ostdeutschland keinen Rassismus festgestellt?
Rassismus gibt es überall, auch im Westen. Die Deutschen im Osten hatten einfach lange kaum Kontakt zu Menschen mit anderen Hautfarben, von ein paar Angehörigen der sozialistischen Brüdervölker abgesehen. Kein Wunder, dass dort noch Vorurteile herrschen. Meine Erfahrung ist die: Mit den meisten Menschen finden Sie eine gemeinsame Ebene, wenn Sie auf sie zugehen und normal mit ihnen sprechen. Das ist manchmal mühsam, aber es geht nicht anders. Wir können Rassismus nicht allein mit Gesetzen loswerden. Damit meine ich allerdings nicht Pegida und andere rechtsextreme Gruppen. Da herrscht blanker Hass.
Was ist mit der AfD? Die Partei tritt vor allem im Osten rechtsradikal und völkisch auf.
Ich bin fest überzeugt: Wenn sich die demokratische Mitte weiterhin einem Dialog mit der AfD verweigert, dann tut sie den Radikalen in der Partei den grössten Gefallen. Die sagen: «Schaut euch das Establishment an, die schliessen uns aus.» Das ist das Opfer-Argument. Dabei gibt es auch in dieser Partei immer noch Leute, mit denen ein Austausch möglich ist. Ich vertraue da unseren Institutionen. Solange eine Partei nicht verboten ist, ist es ein Gebot der Demokratie, sich mit ihr und ihren Mitgliedern auseinanderzusetzen.
Sind Sie selbst irgendwo Parteimitglied?
Nein, und daran wird sich auch nichts ändern. Ich bin zwar deutscher Staatsbürger, aber ich habe mir geschworen, parteipolitisch neutral zu sein.
Dann lassen Sie uns noch über eine andere Mitgliedschaft sprechen. Sie sind als Student in Tübingen Mitglied des Corps Suevia geworden. Was hat Sie dazu bewegt?
Ich brauchte damals ein Dach über dem Kopf. Den Antrag hatte ich schon in Äthiopien gestellt. Fechten durfte ich natürlich nicht . . .
. . . als Mitglied eines damals noch regierenden Königshauses.
Genau. Davon abgesehen war ich von diesem Corps überzeugt und später sehr stolz, als man mich aufgenommen hat.
Was hat Sie überzeugt?
Der liberale Geist. Dieses Corps war in den 1930er Jahren das erste im Land, das zugemacht hat, weil es seine jüdischen Corpsbrüder nicht hinauswerfen wollte. Viele Mitglieder dieses Corps waren später mit dem 20. Juli assoziiert, zum Beispiel der Corpsbruder Hassell (Ulrich von Hassell wurde am 8. September 1944 in Plötzensee mit einer Drahtschlinge erhängt, Anm. d. Red.). Als ich in Tübingen ankam, wehte der Wind des Wandels. Der wehte auch durch unser Corps. Einige Jahre später haben wir das Fechten aufgegeben.
Haben Sie dafür gesorgt?
Ach, wir hatten daran alle einen kleinen Anteil. Es gab eine ansteckende Aufbruchstimmung.
Hat 1968, alles in allem, einen guten Wandel ausgelöst?
Sagen wir es so: Es gab unter den Talaren tatsächlich noch den Mief von tausend Jahren, und es war richtig, dass man versucht hat, ihn loszuwerden. Im Eifer hat man dann aber alles, was nach Patrimonium, Geschichte und überlieferter Kultur roch, mit aus dem Fenster geworfen, so dass die nächste Generation orientierungslos wurde. Man hat das Kind mit dem Badewasser ausgeschüttet.
Ist seither neues Wasser in die Wanne geflossen?
Zum Glück! Von unseren heutigen Schülern bin ich begeistert. Die meisten sind viel manierlicher als zu meiner Zeit. Ich bin oft an Schulen und spreche über gesellschaftspolitische Themen und Afrika. Schauen Sie, es musste ja so kommen. Die Erziehung von damals, diese Anti. . .
. . . antiautoritäre Erziehung?
Ja. Das war doch in Wahrheit gar keine Erziehung. Und die Jungen von heute können damit Gott sei Dank nichts mehr anfangen. Die fragen: Warum habt ihr uns das Wahre, Schöne, Gute verschwiegen?
Sind Sie ein Patriot?
Auf jeden Fall: ein deutsch-äthiopischer. Mit all den Neurosen, die diese Dualität mitbringt. Patriotismus ist für mich ein Menschenrecht. Man muss ihn natürlich vom Nationalismus unterscheiden. Den gilt es entschieden zu bekämpfen.
Haben die Deutschen diese Unterscheidung verstanden?
Sie tun sich bis heute schwer. Wissen Sie, wann ich das erste Mal erlebt habe, dass sich meine Mitbürger selbstbewusst neben ihre Flagge gestellt haben? 2006 bei der Fussball-WM. Diese Angst vor sich selbst, die ist ungesund.
Darin kann auch eine Form des Stolzes liegen.
Die alten Römer pflegten zu sagen: Mach dich nicht so klein, du bist nicht so gross. Ein Deutscher, der auf die Frage nach seiner Herkunft «Ich bin Europäer» antwortet, hat ein Problem. Denn ein Europa, das nur ein Vorwand ist, um das eigene Deutschsein zu überwinden, ist ein totes Europa. Diese Gemeinschaft funktioniert entweder als Europa der Vaterländer oder gar nicht. Unsere Unterschiede sind unser wertvollster Schatz.
Kommen wir noch einmal zu den Protesten. Was halten Sie von den Forderungen, Strassennamen zu ändern und Statuen abzureissen, die an Profiteure von Sklaverei und Kolonialismus erinnern?
Ich halte überhaupt nichts von dem Versuch, Geschichte mit dem Vorschlaghammer umzuschreiben. Der Versuch, die verunglückten Teile unserer Vergangenheit zu tilgen, wird scheitern. Wir müssen mit unserer Geschichte auskommen und dafür Verantwortung tragen. Schauen Sie nach England. Vor einigen Tagen haben Jugendliche das Denkmal des Kaisers Haile Selassie im Cannizaro-Park nahe London demoliert. Das waren irregeleitete ethnozentrische Äthiopier. Die Statue war das Werk einer berühmten Antifaschistin, Hilda Seligman, die den Kaiser in den dreissiger Jahren als einen Anführer der weltweiten antifaschistischen Bewegung gesehen hatte. Selbst Winston Churchill wird verhöhnt. Der Retter der Nation! Das darf doch nicht wahr sein. Kinder, sage ich, schaut in ein Geschichtsbuch. Wenn Churchill nicht gewesen wäre, dann würde heute nicht der Union Jack am britischen Fahnenmast wehen, sondern das Hakenkreuz.
Wie erklären Sie solche Reaktionen?
Bildungsmangel.
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Asfa-Wossen Asserate, 71, ist ein äthiopisch-deutscher Unternehmensberater und Buchautor und der Grossneffe des letzten äthiopischen Kaisers Haile Selassie. Als junger Prinz besuchte er die Deutsche Schule in Addis Abeba. Später studierte er in Tübingen und Cambridge Jura, Geschichte und Volkswirtschaftslehre. 1974 wurde Haile Selassie gestürzt, und eine sozialistische Militärdiktatur übernahm die Macht in Äthiopien. Asfa-Wossen Asserate entschied wohlweislich, in Deutschland zu bleiben, wo er 1981 die Staatsbürgerschaft erhielt. Über die Sitten und Unsitten seiner hiesigen Landsleute hat er 2010 das Buch «Draussen nur Kännchen» geschrieben. Sein bekanntestes Werk «Manieren» ist 2003 erschienen.