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Beitrag vom 15.01.2020

spiegel.de

Humanitäre Organisationen im Biafra-Krieg

Hunger als Kriegswaffe

In Biafra hungerten Millionen Afrikaner - bis kirchliche Helfer eine Luftbrücke starteten. Der Krieg, der vor 50 Jahren endete, zeigt das Dilemma von Hilfswerken: Wann sind sie Partei und verlängern den Krieg?

Von Hans Hielscher

Am Morgen des 13. Januar 1970 besetzten Demonstranten die Eingangshalle des SPIEGEL in der Hamburger Brandstwiete. Mitarbeiter des Magazins mussten sich den Weg zwischen am Boden hockenden jungen Menschen bahnen. Aktivisten der Aktion Biafra Hilfe waren alarmiert von der Nachricht, dass die Rebellenrepublik im Osten Nigerias kapituliert hatte, und befürchteten einen "Völkermord": Die siegreichen Truppen der Zentralregierung würden nun massenweise Männer umbringen, Frauen vergewaltigen, Schulen und Kirchen niederbrennen. DER SPIEGEL, forderten die Demonstranten, müsse den Genozid im kommenden Heft als Titelthema brandmarken.

Die Mitglieder der Aktion Biafra Hilfe waren die aktivsten einer bis dahin in Deutschland kaum denkbaren Bewegung. Zugleich tobte der Vietnamkrieg, der Prager Frühling und die Studentenunruhen machten Schlagzeilen - und doch interessierten sich Hunderttausende für einen Bürgerkrieg in Afrika, aufgerüttelt von erschütternden Bildern.

Nigeria galt nach der Unabhängigkeit 1960 zunächst als Afrikas Musterstaat und zählte damals 35 Millionen Einwohner. Nach Putschen und Pogromen zog sich die Volksgruppe der Ibo in ihr Herkunftsgebiet im Osten zurück und rief 1967 den Separatstaat Biafra aus. Im Boden dort lagerten große Ölvorkommen. Die Zentralregierung in Lagos wollte die "Rebellion" per "Polizeiaktion" niederschlagen. Aber Biafra verteidigte sein Territorium, das von anfangs 77.000 auf zuletzt 2000 Quadratkilometer schrumpfte.

Luftbrücke mit "Stockfischbombern"

Bis der Waffenstillstand am 15. Januar 1970 in Kraft trat, starben bis zu zwei Millionen Menschen im Krieg und an Hunger. Nachdem Nigerias Armee im Mai 1968 Biafras Zugang zum Meer erobert hatte, konnte der Separatstaat nur noch aus der Luft versorgt werden. Anderthalb Jahre hielten Spenden aus aller Welt 13 Millionen eingeschlossene Menschen am Leben.

Die Luftbrücke in den Buschkessel erinnerte die Deutschen an die Berliner Blockade. Wie einst die "Rosinenbomber" wurden nun "Stockfischbomber" zum Symbol für Widerstand und humanitären Einsatz. Die katastrophalen Kriegsfolgen dokumentierten Fotos und Fernsehbilder von Kindern mit ballonförmig aufgeblähten Bäuchen und skeletthaften Gliedmaßen. Für die "Biafra-Babys", Opfer der Hungerblockade, sammelten Bürgerinitiativen und Prominente Geld und Hilfsgüter.

Weil die Mehrzahl der Soldaten in Nigerias Armee aus den muslimischen Ethnien des Nordens stammte und die Ibos fast durchweg Christen waren, wurde der Biafra-Konflikt - zu Unrecht - auch als Religionskrieg dargestellt. Kommentatoren verglichen das Elend und die Menschenvernichtung mit Auschwitz. Der Historiker Andreas Eckert beschrieb den Biafra-Krieg als "eine entscheidende Etappe in der Entstehung einer Holocaust-Rhetorik".

Ein Hauptakteur im Hilfseinsatz um Biafra war Caritas Internationalis. Die katholische Organisation legt nun zum 50. Jahrestag des Kriegsendes den Bericht "50 Jahre Biafra: Ein Lehrstück für die Dilemmata der Humanitären Hilfe in Gewaltkonflikten" vor und schildert schonungslos, wie Hilfswerke diplomatische Regeln brechen und mit zweifelhaften Partnern zusammenarbeiten mussten, um eingreifen zu können. Biafra, heißt es darin, wurde "die größte Herausforderung für die humanitären Organisationen nach dem Zweiten Weltkrieg". Und die Geburtsstunde eines "New Humanitarianism", in dem die traditionellen Prinzipien der Neutralität und Unparteilichkeit nicht zu halten seien.

"Kein Ibo soll ein Stück zu essen bekommen"

Nigeria sah den Abfall Biafras als unrechtmäßige Separation; diese Bewertung unterstützten die Organisation Afrikanischer Staaten, die Uno, die frühere Kolonialmacht Großbritannien sowie viele weitere Regierungen der Welt, auch die der Bundesrepublik. Deshalb erteilte Nigeria keine Erlaubnis für Flüge in das Gebiet.

Die Caritas und andere Hilfswerke entschieden sich dennoch für die "Operation Biafra", weil nigerianische Militärs das Aushungern als "legitime Waffe im Krieg" bezeichnet hatten. "Ich will verhindern, dass auch nur ein Ibo vor der Kapitulation ein Stück zu essen bekommt", sagte General Benjamin Adekunle (Spitzname "Schwarzer Skorpion") der "Times" zufolge.

Wer aber war bereit, ohne Erlaubnis und vom Abschuss bedroht in nigerianisches Hoheitsgebiet zu fliegen? Caritas fand nur einen zwielichtigen Partner. Der berüchtigte Waffenhändler Hank Warton brachte für 3800 Dollar pro Flug je zehn Tonnen Hilfsgüter von der portugiesischen Insel São Tomé ins belagerte Biafra. Um mehr transportieren zu können, kaufte Caritas später in Zürich fünf gebrauchte DC7-C-Maschinen und schloss einen Nutzungsvertrag mit Wartons Firma. Die Flugzeuge wurden aus dem deutschen Register gestrichen und in Bermuda registriert.

Dass sie nicht nur Lebensmittel, Treibstoff und Medikamente ins isolierte Biafra brachten, ist ziemlich sicher. Denn die humanitären Helfer waren außerstande, alle Transporte zu kontrollieren. Zudem gab es Grenzfälle: Waren Schlauchboote oder Fallschirme (angeblich für den Abwurf von Lebensmitteln) Kriegsmaterial oder nicht? Alle Ladungen wurden nachts bei völliger Dunkelheit gelöscht, als Landepiste diente eine auf 21 Meter verbreiterte Fernstraße bei der Stadt Uli - kein Tower, keine Feuerwehr, keine Auftankmöglichkeiten. Um nigerianischen Kampffliegern die Orientierung zu erschweren, wurde die Landebahn immer nur kurz vor dem Aufsetzen einer Hilfsgüter-Maschine erleuchtet.

"Jesus Christ Airline" flog bis zum bitteren Ende

Caritas Internationalis beteiligte sich im Herbst 1968 an der Gründung von "Joint Church Aid", einem ökumenischen Zusammenschluss von 25 kirchlichen Hilfswerken aus 17 Ländern. Der JCA-Verbund, den Piloten "Jesus Christ Airline" nannten, brachte in 5310 Flügen mehr als 6000 Tonnen Hilfsgüter nach Biafra. Dabei starben laut Caritas-Bericht 122 Helfer aus Biafra und 35 aus Europa und den USA, darunter 17 Piloten. Acht Flugzeuge gingen verloren. Das letzte Hilfsflugzeug landete im Kessel am 12. Januar 1970, einen Tag nachdem sich Biafra-Führer Odumegwu Ojukwu mit Familie und großem Gepäck abgesetzt hatte.

"Der Bruch der Blockade durch die Luftbrücke war illegal", urteilt der Autor Christian Heidrich im Caritas-Bericht, "aber er war moralisch geboten und legitim." Caritas wurde nicht allein deshalb heftig kritisiert, der Organisation wurde auch Parteinahme vorgeworfen. Zudem finanzierte das Hilfswerk den Biafranern den Druck einer eigens geschaffenen Währung, das Biafra-Pfund, um auf lokalen Märkten einheimische Lebensmittel kaufen zu können. Denn die eingeflogene Nahrung reichte zur Versorgung der Menschen nicht aus.

Für den Erwerb der neuen Währung flossen harte Devisen auf Schweizer Konten - bis Mitte 1969 waren es einem SPIEGEL-Bericht zufolge 30 Millionen DM von den Kirchen und 10 Millionen vom Roten Kreuz. Mit diesem Geld finanzierte Biafra weitgehend seinen Waffennachschub.

"Mit eurer Hilfe für die Rebellen verlängert ihr nur den Bürgerkrieg", argumentierten die nigerianische Seite und deren Unterstützer von Beginn an. Im Laufe der Jahre kamen solche Gedanken auch bei Biafra-Helfern auf. So empfahl der Weltkirchenrat im Dezember 1969, "die Einstellung der Biafra-Luftbrücke ernsthaft zu erwägen". Mit der Kapitulation des Separat-Staates im folgenden Monat erledigte sich diese Frage.

Kein Völkermord nach der Kapitulation

Doch das moralische Dilemma, welche Art von Hilfe legitim ist und ab wann sie in die Unterstützung einer Kriegspartei mündet, beschäftigt die Hilfsorganisationen bis heute. Es ist ihre ewige Zwickmühle: Leicht können sie in einem über Jahre anhaltenden, unübersichtlichen Konflikt selbst zum Akteur werden, auch zur Zielscheibe. Waffen und Munition zu transportieren oder versteckte Lieferungen zu ermöglichen, widerspräche selbstverständlich ihrem humanitären Auftrag. Aber nur tatenlos zusehen - das können und wollen sie angesichts sterbender Menschen wie in Biafra erst recht nicht. Es ist eine ähnliche Klemme, wie sie die Uno seit 1948 bei ihren Friedensmissionen mit Blauhelmsoldaten kennt.

Weithin vergessen ist heute, dass es 1970 im besiegten Biafra nicht zu den befürchteten Massakern kam. Zwar klagen Angehörige der Ibo-Ethnie bis heute über Zurücksetzungen, und eine kleine Gruppe kämpft für die Wiederauferstehung des untergegangenen Staates. Doch die Mehrheit der Ibos sucht ihren Platz im chaotischen Nigeria. Immerhin konnte der inzwischen verstorbene Biafra-Gründer Ojukwu nach 13 Jahren im Elfenbeinküste-Exil nach Nigeria zurückkehren und sich dort - erfolglos - um den Präsidentenposten bewerben.

Die Demonstranten von der deutschen Aktion Biafra Hilfe gründeten die bis heute weltweit aktive Gesellschaft für bedrohte Völker. Der erste SPIEGEL nach der Kapitulation enthielt am 19. Januar 1970 zwar einen ausführlichen Beitrag über Biafras Ende und die möglichen Folgen. Aber auf die Titelseite schaffte es der Bürgerkrieg in Afrika nicht mehr.