Beitrag vom 14.01.2017
Spiegel
Entwicklung
Schicksalhaft verbunden
Minister Gerd Müller will einen Marshallplan für Afrika vorlegen. Die Einsicht: Geldspritzen im alten Stil helfen nicht weiter, die Handelsbeziehungen müssen sich ändern.
Wenn Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) auftritt, werden die Probleme der Welt ganz schnell ganz klein. "Wir haben die Lösungen", ruft er dann, nachdem er zuvor den Planeten am Rande des Abgrunds beschrieben hat. Oder: "Wir müssen die WTO zu einer fairen Handelsunion umbauen", nachdem gerade von den hohen Handelsbarrieren für afrikanische Produzenten die Rede war.
So war es auch beim Empfang für die afrikanischen Botschafter Ende November in Müllers Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) in Berlin. An die dreißig von ihnen waren gekommen, von "einer neuen Dimension der Zusammenarbeit" schwärmte Müller, von "großartigen Potenzialen für private Investitionen" und einer Unterstützung der "Reform-Champions unter Ihnen".
Er wolle, so der Kern seiner Botschaft, einen "Zukunftspakt für Afrikas Jugend" schließen, "eine neue Dimension der Zusammenarbeit" eröffnen, aber vor allem: "einen Marshallplan mit Afrika" auflegen.
Seit Monaten kündigt der Minister den neuen Plan mit dem alten, klangvollen Namen nun an. Oder zumindest Eckpunkte. Einen Plan, der einen umfassenden Ansatz, langen Atem des Gebers und Milliardenhilfen für viele Länder verspricht. So war jedenfalls das Vorbild nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa angelegt. Seit über einem halben Jahr lässt Müller an dem Opus werkeln. Es gab Workshops, Besprechungen, Termine mit der Wirtschaft, mit den NGOs, mit Vertretern Afrikas. Ideenskizzen wurden erdacht, Thesenpapiere geschrieben – und wieder verworfen. Nun drängt die Zeit, das Kanzleramt fragte zuletzt immer ungeduldiger nach.
Aus gutem Grund, denn Angela Merkel eilt die Zeit davon. Seit im Jahr 2015 fast eine Million Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind, ist Afrika auf ihrer Agenda weit nach oben gerückt. Beim G-20-Gipfel im Juli in Hamburg sollen die Themen Afrika, Migration und internationale Hilfen vorrangig behandelt werden. Im Jahr 2015 kam ein knapp zweistelliger Prozentsatz der Flüchtlinge, die die EU erreichten, aus Afrika. Doch ihr Anteil steigt. "Wir müssen uns in neuer Weise mit Afrika befassen", sagte Merkel im Oktober in einem Interview mit der "Zeit", der Kontinent bedürfe einer neuen Form der Zuwendung. Nun soll vor allem Gerd Müller seinen Beitrag leisten.
Merkel hat erkannt: Die herkömmliche Form der Hilfe und Ertüchtigung für Afrika reicht nicht aus. Milliarden an Hilfen, Zehntausende bezahlte Helfer, Tausende Projekte, selten aufeinander abgestimmt, haben der Tristesse des Kontinents nicht abgeholfen. Die Bevölkerung wächst weiter, die Zahl der Arbeitsplätze nur unzureichend, die Wirtschaft kommt in den meisten Ländern kaum auf Touren, vor allem aber: Die Zahl der Migranten aus Eritrea, Guinea, Nigeria und all den anderen Problemländern bleibt beängstigend hoch und produziert neue Konflikte in Europa. Gefragt sind deshalb Antworten, die über die banale Parole "Fluchtursachen bekämpfen" deutlich hinausgehen.
Mit Begriffen wie Transitzentren, Reformpartnerschaften oder auch Migrationsmanagement versuchten sich die Staatenlenker Europas über die vergangenen zwei Jahre zu retten. Es sind Chiffren geblieben für ihre verzweifelten Versuche, die Wanderungsbewegungen der Moderne irgendwie in den Griff zu bekommen. Doch all die, die wie Müller oder Außenminister Frank-Walter Steinmeier etwa das Migrationszentrum im nigrischen Agadez besucht haben, kehrten ratloser zurück, als sie hingereist waren. Merkel hat inzwischen verstanden, dass beide Kontinente schicksalhaft miteinander verbunden sind: "Wenn Millionen in Afrika hungern, werden wir die Stabilität Europas nicht aufrechterhalten können", hat sie gesagt.
Minister Müller hat sich in den vergangenen drei Jahren redlich bemüht. Er hat eine "Zukunftscharta" aufgelegt, Sonderinitiativen erfunden, die "Migrationspartnerschaften" der EU mitgetragen. Er hat Milliarden in den Nahen Osten und nach Afrika transferiert und die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in die Türkei, den Nordirak und in den Sudan geschickt. Und er hat – auch auf Betreiben der Kanzlerin – von seinem Finanzminister zuletzt so viel Geld bekommen wie noch kein BMZ-Chef vor ihm. Doch nachhaltige Lösungsansätze ist er bisher schuldig geblieben.
Nun also der Marshallplan. Übernommen hat Müller die Formel von dem Informatiker und Ökonomen Franz Josef Radermacher, der ihn seit Jahren berät und in langen Gesprächen inhaltlich aufgerüstet hat. Vor der Sommerpause hatte Müller seine Afrikareferate auf Trab gebracht. "Ernährung sichern, Schöpfung bewahren", stand anfangs noch auf deren Folien oder auch "Bleibeperspektiven durch Frieden und Sicherheit schaffen, zivile Ansätze stärken". Es war von Minderung von Konfliktursachen die Rede, von Prävention, von guter Regierungsführung und selbsttragendem Aufschwung. Leerformeln, wie man sie seit Langem kennt und oft gehört hat.
Irgendwann dämmerte Müller, dass ein fundamental neuer Ansatz hermuss, ein Paradigmenwechsel. Er ordnete eine "grundlegende Überprüfung" bisheriger Instrumente an. Der Privatsektor solle in Zukunft intensiver einbezogen werden. Man will nicht nur Hilfsprojekte finanzieren, sondern vor allem Investitionen fördern. Zudem soll die Eigenverantwortung afrikanischer Regierungen gestärkt werden.
Bisher sind die Konturen des Plans noch unscharf, doch so viel ist klar: Vor allem reformfreudige Staaten sollen Unterstützung erfahren, korrupte, ineffiziente Regime müssen mit Kürzungen rechnen. Afrikas Regierungen sollen eigene Steuersysteme aufbauen, ihre Rechtssysteme stabilisieren, funktionsfähige Verwaltungen entwickeln.
Um Investitionen zu fördern, sind mehr Risikobürgschaften für deutsche Unternehmen geplant. Zudem soll es Steuervergünstigungen geben, wenn sie in Afrika investieren. 20 Millionen neue Arbeitsplätze pro Jahr seien nötig, sagt der Minister, um Afrika aufzuhelfen. Eine Zielmarke, die man nach Lage der Dinge nur verfehlen kann. Doch der Minister hat erkannt, dass nur Arbeitsplätze und Beschäftigung einen nachhaltigen Aufschwung gewährleisten können. Und neue, anders ausgerichtete Handelsbeziehungen.
Der von der EU lange propagierte Freihandel mit Afrika scheint jedenfalls ausgedient zu haben. In Afrika hat kein Land bisher davon profitiert, und kaum einer der fünf Freihandelsverträge (EPA), die derzeit zwischen der EU und afrikanischen Staaten in Arbeit sind, dürfte noch in Kraft treten. Zwar gewähren die Verträge den afrikanischen Staaten einen gewissen Schutz ihrer Märkte, trotzdem behaupten deren Regierungen, dass sie vor allem den europäischen Exporteuren nutzen.
Das sieht auch Günter Nooke so, Afrikabeauftragter der Bundeskanzlerin und Freigeist im BMZ. Er warnt seit Jahren vor den EPAs: Die gegenseitigen Marktöffnungsklauseln schadeten Afrika mehr als sie nutzten. Heute sagt er: "Wir sollten die Verhandlungen für zehn Jahre aussetzen." Damit lag der Beauftragte der Kanzlerin lange im Widerspruch zu seinem Minister, der zum ausverhandelten EU-Freihandelsabkommen mit dem südlichen Afrika noch vor neun Monaten voller Überzeugung verkündet hatte: "Das Abkommen eröffnet neue Chancen für eine wirtschaftlich und sozial nachhaltige Entwicklung."
Inzwischen denkt auch Müller anders, nun sagt er über freien Handel und EU-Agrarsubventionen: "Damit lassen wir den Afrikanern kaum eine Chance im direkten Wettbewerb."
Tatsächlich wäre eine neue Handelspolitik gegenüber Afrika ein erster ernst zu nehmender Aufschlag. Er wäre allerdings nur im Konflikt mit europäischen Gemüsebauern, Landwirten, Fischern und ihren Lobbyverbänden zu erzielen. "Alles, was auf dem afrikanischen Kontinent produziert werden kann, sollte dort produziert werden", heißt es in einem Thesenpapier von Günter Nooke, das auch im Kanzleramt liegt. Europas Interesse könne angesichts von Hunderttausenden afrikanischen Migranten nicht "in der Lieferung von Waren nach Afrika" bestehen, schreibt Nooke weiter, "sondern an der Produktion in Afrika, damit dort viele Menschen Arbeit und eine Perspektive finden".
So klar hat sich Müller bisher nicht positioniert. Überhaupt kommt sein Umsteuern womöglich zu spät, um kurz vor dem Ende der Legislaturperiode noch Pflöcke einschlagen zu können. Insofern reiht sich seine Initiative ein in eine lange Kette von Misserfolgen in der deutschen Afrikapolitik. Lange stand sie im Zeichen des Kalten Krieges, später dümpelte sie ohne besondere Ideen, kreative Ansätze oder dynamische Projekte vor sich hin. Nur das Sterben in Somalia, ein Genozid in Ruanda oder die Ebola-Epidemie unterbrachen für jeweils kurze Zeit das kollektive Desinteresse.
Seitdem afrikanische Migranten nach Norden streben, haben die Europäer manches versucht, funktioniert hat bisher nichts. Etwa der EU-Afrika-Gipfel auf Malta 2015 oder der Khartum-Prozess, bei dem die EU auf zweifelhafte Weise mit den Staaten am Horn von Afrika und entlang der Schlepperrouten kooperiert, damit sie die Migranten und Menschenhändler irgendwie aufhalten. Dabei müssen EU-Emissäre mit Vertretern des sudanesischen Präsidenten verhandeln, der mit internationalem Haftbefehl gesucht wird, oder sie reisen in den Südsudan, dessen Staatschef sein Land mit einem Bürgerkrieg systematisch in den Abgrund wirtschaftet. Und was ist mit Eritrea, wo offenbar hohe Militärs am Schleusergeschäft kräftig mitverdienen?
Die Frage, mit welchen Regierungen Deutschland in Afrika zusammenarbeiten sollte, ist das große Dilemma von Müllers Plan: Die meisten Flüchtlinge kommen gerade aus jenen Ländern, die ohne tragende Strukturen und weitgehend verarmt sind oder von korrupten Eliten regiert werden. Wenn Müller das gute Regieren zur Messlatte für Unterstützung macht, schließt er genau diese Länder von seinem Plan aus. Problemländer wie Gambia, Guinea oder Burundi wären dann von Hilfen größtenteils abgeschnitten.
An Vorabkritik mangelt es jedenfalls nicht. "Unfug", lautet lapidar der Kommentar von Diplomaten im Auswärtigen Amt. "Der Plan kommt ein bisschen spät", sagt Andreas Wenzel, Afrikareferent des Deutschen Industrie- und Handelskammertags, der sich vor allem Impulse für die Wirtschaft erhofft. Selbst im eigenen Haus ätzen Skeptiker munter drauflos: "Bringt in der Sache wenig. Hilft höchstens der PR des Ministers." Sie nörgeln nicht zuletzt, weil Müller sein Konzept mehr oder weniger im Alleingang erstellt hat.
Am treffendsten hat das Defizit wohl vor wenigen Tagen Désiré Assogbavi beschrieben, Verbindungsmann von Oxfam bei der Afrikanischen Union in Addis Abeba: "Wenn unsere westlichen Partner uns dabei helfen würden, die 60 Milliarden Dollar Schwarzgeld, die jedes Jahr aus Afrika abfließen, auf dem Kontinent zu halten, würde es uns prima gehen, und wir könnten auf jeden Marshallplan verzichten."
Horand Knaup, Christoph Schult