Beitrag vom 06.06.2016
Tages-Anzeiger, Zürich
Millionen für Afrikas Diktatoren
Um den Flüchtlingsstrom zu stoppen, arbeitet die EU auch mit Gewaltherrschern zusammen. Länder wie Eritrea oder der Sudan profitieren.
von Johannes Dieterich Johannesburg
Das Flüchtlingsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Türkei – von beiden Seiten gepriesen – ist kaum zwei Monate in Kraft. Doch nun ziehen die Türken plötzlich eine Art Notbremse. Zur vollen Implementierung – heisst es seit dem Wochenende völlig überraschend aus dem türkischen Aussenministerium in Ankara – fehle jetzt eben noch ein Kabinettsbeschluss. Damit der Pakt «Wirksamkeit erlangt, muss zunächst der innertürkische Ratifizierungsprozess abgeschlossen werden», erklärte ein hoher Ministeriumsbeamter gegenüber dem «Tages-Anzeiger». Das ist neu. In Brüssel wie in Berlin ist man verblüfft. Und in Ankara gibt man sich wortkarg. Wann der Beschluss kommt? Keine Angaben. Nur so viel: Aussenminister Mevlüt Çavusoglu werde sich, «falls erforderlich», dazu äussern.
Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat seit Tagen klar gemacht, dass er sich an das EU-Türkei-Abkommen nicht gebunden fühle, solange nicht auch Europa zu seinen Zusagen stehe. Und eine davon war das visafreie Reisen für die Türken, möglichst schon ab Juli. Als die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, Erdogans wichtigste Verhandlungspartnerin in der Flüchtlingskrise, kürzlich zu Gast in Istanbul war, musste sie die Türken enttäuschen: So rasch wie zugesagt werde die lang ersehnte Visafreiheit nicht kommen. Nun hat Erdogans Regierung den Machthebel umgelegt: Zwangspause beim Flüchtlingsabkommen.
Staatspräsident Erdogan sagte am Wochenende, entweder arbeite man fair bei der Lösung der gemeinsamen Probleme zusammen, oder die Türkei höre damit auf, Europa die Sorgen vom Hals zu halten. Im Zuge des Paktes hatte die Türkei zugesagt, alle Flüchtlinge, die nach dem 20. März noch Griechenland erreichen, zurückzunehmen. Im Gegenzug hat sich Europa verpflichtet, für jeden Syrer darunter einen Syrer aus der Türkei aufzunehmen. Weil damit allein noch nicht genügend der Interessen ausgeglichen waren, versprach die EU der Türkei unter anderem noch Hilfsmilliarden für die Betreuung der Flüchtlinge, einen Schub bei den zähen Beitrittsgesprächen und vor allem die zügigere Visafreiheit – wenn denn das Land seinerseits alle Bedingungen dafür erfüllt.
Syrer müssen nicht zurück
Deshalb kommt es jetzt zum Kräftemessen. Die EU bemängelt wenige, aber entscheidende Punkte. Im Mittelpunkt des Streits stehen die türkischen Anti-Terror-Gesetze. Sie wurden in den vergangenen Monaten immer wieder herangezogen, um auch Regierungskritiker, darunter Abgeordnete und Journalisten, juristisch verfolgen zu können. «Unsere rote Linie ist die freie Meinungsäusserung», sagt einer der Verhandler aufseiten der EU. Weil sich die Türkei aber auch im Kampf gegen die Terroristen der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK befindet, der täglich neue Opfer fordert, weigert sich Erdogan bislang, den Terrorbegriff enger zu fassen. Merkel hatte noch gehofft, Ankara würde deshalb nicht gleich den ganzen Flüchtlingsdeal platzen lassen. Aber wie es aussieht, haben die Türken weit weniger Hemmungen als angenommen.
Das Abkommen ist eine Art politisches Kunstwerk, weil es seinen Zweck erfüllt, ohne zu funktionieren: Seit Inkrafttreten ist die Zahl der täglich in Griechenland ankommenden Flüchtlinge auf einige Dutzend zurückgegangen. Allein die Aussicht, in die Türkei zurückgeschickt zu werden oder aber im von der Schuldenkrise durchgeschüttelten Griechenland festzustecken, scheint viele Verzweifelte davon abzuhalten, die lebensgefährliche Überfahrt übers Mittelmeer auf sich zu nehmen.
Dabei ist es bislang ein Irrglaube, dass die Griechen die Flüchtlinge reihenweise zurückschickten. Im Gegenteil: Wer es als Syrer übers Mittelmeer geschafft hat, hat Chancen, in Europa bleiben zu dürfen. In Griechenland versuchen viele der Flüchtlinge, Asyl zu beantragen. Derzeit dauert es knapp drei Monate, bis die Behörden über die Anträge entschieden haben. In zahlreichen Fällen urteilen sie zugunsten der Flüchtlinge. Bisher wurde jedenfalls noch kein einziger Syrer gegen seinen Willen in die Türkei zurückgeschickt.
Dies könnte diese Woche zum allerersten Mal anstehen, wie aus Athen verlautet. Dann zeigt sich wirklich, wie ernst es die Türken meinen mit dem fehlenden Beschluss. Die Zahl der Rückführungen von Flüchtlingen auch aus anderen Ländern in die Türkei bleibt mit insgesamt 441 bisher niedrig. Das Land hatte sich auf viel mehr Rückkehrer eingestellt, als bisher tatsächlich gekommen sind. Solange es also in Griechenland wenig vorangeht, tut es niemandem wirklich weh, wenn die Türkei das Abkommen für nicht wirksam hält.
Afrikanische Migranten, die auf ihrem Weg nach Europa den Sudan durchqueren, müssen ab sofort eine zusätzliche Hürde überwinden. Ausser den Erpressungsversuchen ihrer Schlepper, den Schmiergeldforderungen sudanesischer Soldaten sowie der Durchquerung der Sahara und der Fahrt über das Mittelmeer droht ihnen jetzt noch eine weitere Gefahr: die sudanesische Regierung. Der vom Internationalen Strafgerichtshof wegen Völkermordes angeklagte Präsident Omar al-Bashir liess die ersten 442 Eritreer mit Lastwagen in ihre ebenfalls von einem Diktator beherrschte Heimat verfrachten. Dabei handelte es sich um eine rechtswidrige Aktion, die von der Europäischen Union wenn nicht ausgelöst, so doch gutgeheissen wurde.
Kürzlich wurden geheim gehaltene Pläne der EU bekannt, wonach der Staatenbund auch mit afrikanischen Gewaltherrschern zusammenarbeiten will, um die Zahl der Migranten nach Europa zu vermindern. Demnach sollen die 1,8 Milliarden Euro des beim europäisch-afrikanischen Gipfel in Malta Ende 2015 bekannt gegebenen «Trust-Fonds für Afrika» nicht nur für Entwicklungsprojekte in den Herkunftsländern der Flüchtlinge verwendet werden, sondern auch Massnahmen zum Stopp des Migrantenzuzugs zugutekommen.
Was passiert mit Rückkehrern?
Mit fast 150 Millionen Euro zählt auch der ansonsten mit Sanktionen belegte Sudan zu den Nutzniessern der EU-Gelder. Mindestens 40 Millionen Euro sind für «besseres Management der Flüchtlingsströme» vorgesehen, konkret: für elektronische Geräte zur Personenerkennung, für Fahrzeuge und den Bau zweier geschlossener Flüchtlingslager in den Provinzstädten Gadaref und Kassala. Unter den abgeschobenen Eritreern befanden sich nach Angaben des UNO-Flüchtlingskommissariats mindestens sechs Personen, die im Sudan als Flüchtlinge anerkannt waren. Nach internationalem Recht darf eine Regierung keine Menschen in ihre Heimat abschieben, falls ihnen dort Verfolgung, Folter oder gar der Tod droht. Was mit unfreiwilligen Rückkehrern in Eritrea geschieht, wissen auch dort stationierte Diplomaten nicht genau. Offiziell hat die Regierung in Asmara eine Amnestie für Heimkehrer erlassen. Ob diese eingehalten wird, ist unklar. Auf jeden Fall müssen die Rückkehrer ihren zeitlich unbegrenzten Militärdienst ableisten.
Wer aus Eritrea ausreisen will, braucht eine Erlaubnis der Regierung oder riskiert eine Gefängnisstrafe. Trotzdem verlassen nach UNO-Angaben monatlich 5000 Menschen unautorisiert das Land. Eritreer machen den grössten Teil der in Europa landenden afrikanischen Migranten aus: In den vergangenen zwei Jahren haben 70 000 Eritreer Asyl beantragt. Berichten zufolge sind eritreische Grenzsoldaten angehalten, auf Flüchtlinge zu schiessen, was die Regierung in Asmara aber bestreitet. Auf jeden Fall müssen die Flüchtigen bewaffneten Patrouillen ausweichen und Stacheldrahtzäune oder gar Minenfelder überqueren.
Um dem Exodus etwas entgegenzusetzen, nahmen Berlin und Brüssel wieder Kontakt zum bislang isolierten Regime in Asmara auf. Der deutsche Entwicklungshilfeminister Gerd Müller traf sich während eines Besuchs in der Hauptstadt Eritreas Ende 2015 auch mit Präsident Isaias Afwerki, der seit 23 Jahren ohne Wahlen und Oppositionsparteien regiert. Ein vor einem Jahr veröffentlichter UNO-Bericht wirft Afwerkis Regierung chronische Menschenrechtsverletzungen vor; die Rede ist von 10 000 politischen Gefangenen, von Folter und Zwangsarbeit. Asmara bestreitet die Vorwürfe vehement. Auch westliche Kenner Eritreas stellen den allein durch Recherchen ausserhalb des Landes zustande gekommenen UNO-Bericht infrage.
Im Zuge des derzeitigen «Tauwetters» in den europäisch-eritreischen Beziehungen wird Asmara erstmals seit Jahren wieder europäische Entwicklungsgelder erhalten – und zwar vor allem für Massnahmen zur Berufsausbildung, die junge Eritreer in der Heimat halten sollen. Ob solche Programme trotz des weiterhin bestehenden unbegrenzten Militärdienstes Aussicht auf Erfolg haben, ist zumindest fraglich. Die Zahl der fliehenden Jugendlichen sei derzeit so hoch wie noch nie, sagt ein Gesandter in Asmara: «Wenn das so weitergeht, ist Eritrea bald leer.»
Flüchtlinge, das neue Business
Magnus Taylor von der Brüsseler Expertengruppe «International Crisis Group» hält es für bedenklich, dass die EU in der Migrationspolitik mit repressiven Regierungen wie der sudanesischen zusammenarbeitet, zumal das Land ausser einem massgeblichen Transitstaat «auch selbst ein Produzent von Flüchtlingen» sei. Vor allem aus den Darfur- und den Kordofan-Provinzen, in denen die Khartumer Regierung einen Krieg gegen die Bevölkerung führt, fliehen Tausende. Bekannt ist ausserdem, dass sich die sudanesischen Sicherheitskräfte durch Schmiergelder an den Migranten bereichern. Aus dem «Management» des Flüchtlingsstroms ist ein regelrechter Geschäftszweig geworden, von dem nicht zuletzt Angehörige des Sicherheitsapparats profitieren.
Das trifft auch für den anderen bedeutenden afrikanischen Transitstaat zu, Niger. Aussenminister Ibrahim Yacoubou sprach kürzlich von einer Milliarde Euro, die zur Eindämmung der Migration und für den Aufbau einer Alternative für die nigrische Volkswirtschaft nötig sei. Vor allem Afrikas autoritäre Regierungen versuchen, sich ihre Kooperation für den ersehnten europäischen Migrationsstopp vergolden zu lassen – und die EU spielt mit, ohne dass der Erfolg absehbar wäre.