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Beitrag vom 27.12.2014

Handelsblatt

Nigeria

Ein Land versinkt im Chaos

von Wolfgang Drechsler

In zwei Monaten wählt Nigeria - doch das Land ist tief gespalten. Denn von den Ölexporten profitieren nur wenige. Vor allem der Norden ist bitter arm - der Nährboden für die Terrororganisation Boko Haram.

Kapstadt. Wenn es um große Versprechungen geht, sind Nigerias Politiker nicht zu schlagen. An guten Vorsätzen und wortreichen Ankündigungen hat es in dem westafrikanischen Öl-Staat noch nie gefehlt. Auch jetzt, knapp zwei Monate vor den Präsidentschaftswahlen im Februar und im Anschluss an eine besonders blutige Anschlagsserie, soll sich die Lage im Land trotz der aus dem Ruder gelaufenen Gewalt mal wieder zum Besseren wenden: Finanzministerin Ngozi Okonjo-Iweala, die seit langem die internationalen Medien für das schlechte Image ihres Landes verantwortlich macht, ist jedenfalls überzeugt davon, dass Nigeria seine vielen Probleme "doch noch irgendwie in den Griff kriegt". Und auch Präsident Goodluck Jonathan spricht vollmundig von einem "Gezeitenwechsel" und ist zuversichtlich, den längst seiner Kontrolle entglittenen Nordosten des Landes am Ende doch noch in den nigerianischen Staatenbund zurückholen zu können.

Dabei ist die Realität längst eine andere. Selbst für die inzwischen weitgehend an die Gewalt gewöhnten Nigerianer waren die vergangenen vier Wochen noch schlimmer als der Rest des Jahres: Ende November verübten Dutzende Kämpfer der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram einen bislang beispiellosen Anschlag auf eine Moschee in der zweitgrößten Stadt Kano, bei dem mindestens 120 Gläubige getötet und fast 300 verletzt wurden. Zwei Tage zuvor hatten sich zwei junge Selbstmordattentäterinnen in der Provinzhauptstadt Maiduguri, der Hochburg der Islamisten, in die Luft gesprengt und dabei fast 50 Menschen mit in den Tod gerissen.

Kaum weniger blutig verlief Mitte Dezember der jüngste Überfall der Terrorbande auf ein Dorf im Nordosten von Nigeria, bei dem mehr als 32 Menschen ermordet wurden. Überlebende berichteten, dass dabei weitere 200 Dorfbewohner verschleppt worden seien. Aufgrund fehlender Telefonverbindungen sowie schlechter Straßen wurde das Massaker in Gumsuri erst vier Tage später im nur 70 Kilometer entfernten Maiduiguri bekannt.

Wie kein anderer hat zuletzt der liberale Emir der angegriffenen Moschee von Kano der allgemeinen Empörung über die Zustände im Land Ausdruck verliehen: Niemals, so schwor Mohammed Sansui II, werde man sich dem Terror von Boko Haram beugen sondern versuchen, der Bande mit Bürgerwehren und anderen probaten Mitteln das Handwerk zu legen. Der zweithöchste islamische Würdenträger weiß genau, wovon er spricht: Unter seinem bürgerlichen Namen Lamido Sansui war er bis zu seiner Ernennung zum Emir im Juni lange Zeit Notenbankchef Nigerias gewesen und hatte sich mit seiner Geldpolitik aber auch seinen klaren Worten gegen die Korruption einen guten Ruf erworben. Vor einem Jahr war Sansui dann jedoch Knall auf Fall entlassen worden, weil er nun öffentlich die massive Veruntreuung von Geldern bei der nationalen Ölgesellschaft angeprangert hatte. Sansui sprach damals von der ungeheuren Summe von mehr als 20 Milliarden Dollar; am Ende räumte die Regierung tatsächlich das Verschwinden von fast zwölf Milliarden Dollar ein.

Soldaten und Polizisten suchen bei Angriffen das Weite

Ebenso hart ging der frühere Notenbankchef zuletzt mit der Unfähigkeit der Armee ins Gericht, die Bedrohung des islamistischen Terrors wirksam zu bekämpfen. Seit Monaten eskaliert die Gewalt vor allem deshalb, weil der nigerianische Staat gerade hier auf ganzer Linie versagt. Soldaten und Polizisten suchen bei Angriffen oft das Weite und tauchen erst zu den Aufräumarbeiten wieder auf - oder gar nicht. Angesichts der vermeintlichen Aussichtslosigkeit ihres Kampfes gegen Boko Haram ist die Armee inzwischen weitgehend demoralisiert. So verfügen die Terroristen über ein modernes Waffenarsenal wie gepanzerte Fahrzeuge und Raketenwerfer, die ihnen vermutlich von korrupten Offizieren verkauft oder bei Überfällen auf Kasernen der Armee erbeutet wurden.

Die hohe Korruption in Militärkreisen und die immer wieder von Soldaten gegen die Bevölkerung verübte Gewalt und Folter dürfte der Grund dafür sein, weshalb sich inzwischen selbst die Amerikaner weigern, Nigerias Streitkräften moderne Waffen zu liefern. Welche Systeme das Land in den USA bestellt hat, ist öffentlich nicht bekannt. Mutmaßlich handelte es sich aber um bewaffnete Drohnen, Hubschrauber und andere Flugzeuge.

Als Reaktion auf die Weigerung Washingtons zur Waffenlieferung hat Nigerias Regierung inzwischen ihre erst zu Jahresbeginn aufgenommene engere Kooperation mit der US-Armee gleich wieder eingestellt. Dabei sollten die Amerikaner eigentlich ausgesuchte Einheiten der nigerianischen Armee in der Terrorbekämpfung unterrichten.

Zusammen mit den neuen Waffen hat Boko Hara auch viele neue Mitglieder rekrutiert. Inzwischen wird die Zahl der aktiven Kämpfer der Terrorbande auf bis zu 10.000 geschätzt - doppelt so viele wie vor zwei Jahren. Der wohl wichtigste Grund für den hohen Zulauf und die Radikalisierung der muslimischen Jugend ist das völlig aus dem Ruder gelaufene Bevölkerungswachstum, das alle noch so kleinen Fortschritte bei der Entwicklung des bitterarmen Nordostens gleich wieder auffrisst: Mit rund 175 Millionen Menschen ist der westafrikanische Ölstaat der mit Abstand bevölkerungsreichste in Afrika und rangiert weltweit bereits heute auf Platz sieben. Spätestens im Jahr 2100, vermutlich aber noch viel früher, könnte Nigeria mit dann rund 900 Millionen Menschen gleich hinter China und Indien auf Rang drei vorrücken.

Kaum fünf Prozent der Frauen können im muslimischen Norden lesen oder schreiben

Jedes Jahr werden in dem kaum entwickelten und fast völlig vom Ölexport abhängigen Land sieben Millionen Kinder geboren - mehr als zehnmal so viel wie in Deutschland. Und dennoch geht das Wachstum fast ungebremst weiter wie Reiner Klingholz vom Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung schreibt. Anders als in vielen Ländern Asiens und Lateinamerikas hat sich die Fruchtbarkeitsrate in Nigeria seit der Unabhängigkeit vor 54 Jahren nur minimal verringert - von damals 6,6 auf nun 5,7 Kinder pro Frau.

Die Ungleichheit im Land ist regional stark verschieden. Wenn sie unterschiedliche Länder wären, würden einige der nigerianischen Nordprovinzen auf der internationalen Entwicklungsskala ganz unten rangieren, so groß ist die Armut dort. Schätzungen gehen davon aus, dass fast 80 Prozent der Menschen der Region unter der Armutsgrenze leben - doppelt so viele wie im Süden des Landes.

Dabei rangiert Nigeria unter den Opec-Produzenten auf Rang sieben und verfügt über hohe Öleinnahmen. Doch das Geld versickert unter den Eliten des Landes und in der Bürokratie. Nirgendwo anders auf der Welt gehen deshalb auch so wenige Kinder zur Schule wie im muslimischen Norden Nigerias. Und kaum fünf Prozent der Frauen können hier lesen oder schreiben. "Boko Haram spiegelt die tiefe Krise in unserem Land wider" konstatiert ein früherer Ausbilder einer Militärakademie. Der Aufstieg der Terrorbande werde von der hohen Armut aber auch der Brutalität und Inkompetenz der Sicherheitskräfte befeuert. Nicht wenige befürchten deshalb mittelfristig auch ein Auseinanderbrechen des Landes. "Niemand kann voraussagen, wann Nigeria im Chaos versinkt" schreibt der renommierte "Economist" und warnt: "Aber der Tag scheint immer näher zu rücken."