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Beitrag vom 14.08.2017

Handelsblatt

Das afrikanische Zeitempfinden

von: Wolfgang Drechsler

Auf den ersten Blick mag Südafrika und die Schweiz rein gar nichts verbinden. Doch bei genauerem Hinsehen entdeckt man eine wundersame Begeisterung der Afrikaner für die überpünktlichen Fondue-Liebhaber.

Während Geschäftstermine in Südafrika von den Beteiligten meist strikt eingehalten werden, kann es bei einer privaten Einladung im gleichen Land durchaus schon mal zu einer mehrstündigen Verspätung kommen.

Es hat seinen Grund, dass Nelson Mandela, Südafrikas erster schwarzer Präsident, seine erste Auslandsreise nach 27 Jahren Haft ausgerechnet in die Schweiz führte: Viele Südafrikaner bewundern die Vielzahl weltbekannter Produkte aus dem kleinen Land im Herzen Europas – von der am Kap sündhaft teuren Schweizer Schokolade, über die Medizin bis hin zu den Uhren, die wohl wie nichts anderes den auch in Südafrika verbreiteten Ruf der Schweizer für ihre (über)große Pünktlichkeit und Präzision begründen.

Vielleicht speist sich diese Bewunderung aber auch gerade daraus, dass viele (Süd)Afrikaner mit der ihnen eigenen „happy go lucky“-Attitüde („Morgen ist auch noch ein Tag“) ein wenig anders gepolt sind - und sie der Schweizer Sinn für feste Regeln, Vorausplanung und besondere Gründlichkeit umso mehr fasziniert. Dies kann allerdings auch schon einem Deutschen passieren. Als ich kürzlich auf einer Stippvisite von Zürich in die Redaktion einer meiner Schweizer Zeitungen am Rande von Luzern fuhr, brauchte ich für die Strecke kaum 90 Minuten. Sowohl Straßenbahn und Bus, vor allem aber die Schweizer Bahn, waren nicht nur stets superpünktlich sondern trafen fast alle leicht verfrüht am Zielort ein. Es scheint wirklich nichts zu geben, das die Effizienz der Schweizer Verkehrssysteme aus dem Takt bringen könnte.

Der berühmte kenianische Politikprofessor Ali Mazrui hat diesen kulturellen Unterschied einst besonders markant beschrieben, als er die afrikanischen Eliten in einem seiner Essays dazu aufrief, sich die teure Rolex nicht nur protzig ums Handgelenk zu legen, sondern zumindest hin und wieder auch einmal mal draufzuschauen. Denn mit der Uhr sei auch ein kulturelles Regelwerk verbunden, das in Afrika kaum berücksichtigt werde. Eine Uhr diene hier oft allein zur Zierde des Besitzers.

Dabei ist das Zeitempfinden von Afrikanern schwer zu generalisieren. Während Geschäftstermine in Südafrika von den Beteiligten meist strikt eingehalten werden, kann es bei einer privaten Einladung im gleichen Land durchaus schon mal zu einer mehrstündigen Verspätung kommen. Das Zeitempfinden funktioniert nach seinen ganz eigenen, ehernen Gesetzen. „Nicht Stunden oder Minuten gliedern sie, sondern natürliche Zyklen und kulturelle Regeln: Regen- und Trockenzeit, Aussaat und Ernte, Geburt, Initiation, Heirat und Tod“, schreibt Spiegel-Korrespondent Bartholomäus Grill in seinem Buch „Ach Afrika“ so treffend.

Es gibt wohl keinen europäischen Geschäftsmann, der auf einer Dienstreise in Afrika nicht einmal stunden- oder gar tagelang auf einen Termin warten musste. Denn wer auf dem Kontinent einen Anzug oder eine Uniform trägt, lässt schon deshalb gerne warten, um damit seine Autorität zu bekunden.
Kolumnen: Die Geschichten unserer Auslandskorrespondenten

Außerdem müssten Uhren swiss made schon wegen des hohen Markenbewusstseins reicher (Süd)Afrikaner gerade am Kap besonders gute Verkaufschancen haben, zumal vor allem viele Schwarze kein Problem damit haben, ihren Wohlstand hier offen zur Schau zu tragen. Erschwert wird dies jedoch dadurch, dass selbst die südafrikanische Mittelklasse wegen ihrer ausgeprägten Konsumfreude derzeit bis an die Haarspitzen verschuldet ist – und besonders beliebte Schweizer Uhren wie eine klotzige Breitling oder TAG Heuer für die meisten deshalb einstweilen wohl ein ferner Traum bleiben wird.