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Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 23.07.2025

NZZ

Afrikas politische Eliten führen Krieg gegen die Jungen. Sie werden ihn verlieren

Afrikas Jugend hat genug von Korruption und schlechten Regierungen. Das sollte auch Europäer interessieren, denn 2050 wird jeder vierte Mensch Afrikaner sein. Afrikas Zukunft ist die Zukunft der Welt.

von Samuel Misteli

Neulich hatte der Präsident von Kenya eine Idee, wie er die jungen Leute zum Schweigen bringen könnte. Die Jungen, die seit über einem Jahr im ganzen Land gegen ihn demonstrieren. «Schiesst ihnen ins Bein», sagte der Präsident, William Ruto, vor Polizisten. Vielleicht würde das endlich helfen.

Doch die Aussicht, ins Bein geschossen zu werden, schreckt Kenyas Jugend längst nicht mehr. Im vergangenen Jahr hat die Polizei mehr als hundert junge Leute erschossen. Sie hat andere verschleppt, nachts aus ihren Wohnungen geholt. Sie hat gefoltert, manche in Haft getötet. Sie hat Stacheldraht meterhoch um das Zentrum der Hauptstadt Nairobi gezogen, um Proteste zu stoppen. All das in einem angeblich demokratischen Land. Aber die Jungen demonstrieren weiter. Sie fordern ein Ende der Korruption, ein Ende der Gewalt und dass die Regierung Perspektiven schafft.

Es ist nicht nur Kenya. In Afrika eskaliert ein Konflikt der Generationen. In Nigeria, Ghana, Togo, in Moçambique, Uganda, im Sahel – in allen möglichen Ecken des Kontinents haben junge Leute genug. Von ihren sogenannten politischen Eliten. Oft alten Männern, manche über 90, die glauben, ein gottgegebenes Recht zu haben, immer weiter zu regieren.

Es wirkt zunehmend wie Krieg. Einer, den die Alten nicht gewinnen werden. Denn die Jungen sind mehr. 400 Millionen Afrikanerinnen und Afrikaner sind zwischen 18 und 35 Jahre alt. «Sie können uns nicht alle töten», sagen die Demonstranten in Kenya. Das klingt pathetisch. Es ist aber auch schlicht ein demografischer Fakt. Einer, der Veränderung unausweichlich macht. Entweder im Guten oder im Schlechten.

Zehn Millionen Afrikaner jährlich neu auf dem Arbeitsmarkt

Afrika hat ein riesiges Reservoir an begabten Leuten – und eine politische Klasse, die vieles tut, damit sich dieses Potenzial nicht realisiert. 10 Millionen junge Afrikanerinnen und Afrikaner kommen jedes Jahr auf den Arbeitsmarkt. Nur 3 Millionen von ihnen finden formelle Jobs. Der Rest schafft sich seine eigenen Stellen. Afrika ist ein Kontinent von Millionen von jungen Selfmade-Unternehmern. Man muss das nicht romantisieren. Denn die meisten kommen gerade so durch.

Die Regierungen in vielen afrikanischen Ländern funktionieren parasitär. Ministerien und Parlamente sind voller Leute, die Politik nicht als Möglichkeit sehen, die Zukunft ihres Landes zu gestalten. Sondern um an Geld zu gelangen. Kein Kontinent ist korrupter als Afrika. Keiner ist ungleicher.

Das hat mit der Geschichte zu tun. Afrikanische Institutionen haben ihre Wurzeln im Kolonialstaat. Dieser diente nicht dazu, die Rahmenbedingungen für Fortschritt zu schaffen. Er diente der Plünderung und der Kontrolle: Rohstoffe effizient abzutransportieren, die Wirtschaft zu monopolisieren, sicherzustellen, dass einheimische Arbeitskräfte nicht zu unabhängig vom Staat wurden.

Seit der Unabhängigkeit hat sich vielerorts auf dem Kontinent eine politische Klasse eingenistet, die keine Anstalten machte, Institutionen zu reformieren. Sie plündert bis heute, wie das früher Briten oder Franzosen taten – postkoloniale Kolonialisten. Wer in Kenya Minister oder Parlamentarier wird, hat Zugang zu Land, zu Firmen, zu Bestechungsgeldern. Kenyas Präsident ist arm aufgewachsen, ist aber inzwischen einer der reichsten Männer des Landes. Nicht weil er ein unternehmerisches Genie wäre. Sondern weil er sich früh an die richtigen Politiker hängte.

Die Plünderung ging lange gut. Afrikas Eliten verstanden sich darauf, ethnische Gruppen gegeneinander auszuspielen, wie das früher die Kolonialisten taten. Sie profitierten auch davon, dass der Grossteil ihrer Bevölkerungen ungebildete Kleinbauern waren, die sich leicht von traditionellen Führern dirigieren liessen.

Das ist vorbei. Der Widerstand wird immer grösser. Afrikas Gerontokraten stehen Millionen von jungen Leuten gegenüber, die sich nicht mehr für dumm verkaufen lassen. Die Jungen sind besser gebildet als frühere Generationen. Sie sind vernetzt, wissen, was in anderen Ländern läuft. Sie scharen sich zusammen, oft ohne Anführer. Zum Beispiel hinter einem Hashtag: #Fixthecountry lautete dieser in Ghana. #EndBadGovernance in Nigeria. Die Auslöser der Proteste sind unterschiedlich: in Moçambique eine gefälschte Wahl, in Kenya neue Steuern, in Nigeria Polizeigewalt. Doch überall ist der grössere Konflikt derselbe: junge Leute gegen alte korrupte Elite.

Mit Chat-GPT gegen die Eliten

«Weshalb waren frühere Präsidenten nie mit diesem Chaos konfrontiert?», fragte ein beleidigter kenyanischer Präsident im Juli. «Weshalb so viel Verachtung und Arroganz?» William Ruto hat, wie viele andere afrikanische Regierende, noch nicht begriffen, dass er diesen Krieg nicht gewinnen kann. Weil es ein Krieg gegen die Demografie ist. Afrika ist der jüngste Kontinent der Welt. Das Medianalter in den Ländern südlich der Sahara liegt unter 19 Jahren. 70 Prozent aller Afrikaner sind unter 30. Mehr als 30 Millionen Afrikanerinnen und Afrikaner werden jedes Jahr volljährig. Afrikanische Regierungen sitzen auf einer Zeitbombe.

Afrikas Eliten werden den Krieg auch verlieren, weil die Jungen cleverer sind als sie. Weil sie Technologie und Social Media auf eine positive Weise nutzen. In Kenya setzten Demonstranten Chat-GPT dazu ein, eine umstrittene Steuervorlage in regionale Sprachen zu übersetzen. Damit auch die ältere und ländliche Bevölkerung versteht, worum es geht.

Afrikas Eliten werden den Krieg auch verlieren, weil die Jungen im Gegensatz zu ihnen eine Idee haben: Die einer Regierung, die nicht plündert, sondern sich darum bemüht, dass Arbeitsplätze entstehen. Die Firmen keine Bestechungsgelder abnötigt. Die die Lebenshaltungskosten zu senken versucht. Eine Regierung aus fähigen Leuten.

Man muss das alles gar nicht glorifizieren. Junge Menschen haben schon oft gegen selbstherrliche Eliten gekämpft. Auch in Afrika. Manche Junge wurden später einfach alte Eliten und nicht minder selbstherrlich. Ugandas 80-jähriger Autokrat Yoweri Museveni war einmal ein junger Revolutionär.

Der Unterschied diesmal ist: Kaum je war der demografische Druck für Veränderungen so gross. Afrikanische Eliten haben die Wahl. Entweder sie leiten Reformen ein, sie schaffen Perspektiven für viele Millionen junge Leute. Oder sie versuchen weiter, diese zum Schweigen zu bringen. Das Resultat wird Chaos sein.

Afrikaner wollen nicht weg

Das alles sollte auch in Europa interessieren. Denn was im Nachbarkontinent passiert, hat Auswirkungen nördlich des Mittelmeers.

Westliche Diplomaten lästern gerne hinter vorgehaltener Hand über afrikanische Politiker. Erzählen, dass diese nur gegen ein stattliches Taggeld an Konferenzen auftauchten. Dass sie von europäischen Botschaften erwarteten, Visa zu organisieren, damit die ganze Familie auf Staatskosten Firstclass nach Paris oder Berlin fliegen könne. Dass afrikanische Politiker am liebsten an den vornehmsten Hoteladressen abstiegen.

Doch sie laden die Afrikaner weiter unter diesen Bedingungen ein. Man hat schliesslich gemeinsame Projekte, an denen Geld und Jobs hängen. Es ist nicht nur schlecht, dass die Regierung von Donald Trump die Entwicklungshilfe in eine Sinnkrise gestürzt hat, indem sie die amerikanische Entwicklungsagentur USAID eingestellt hat. Die Hilfe leistet Gutes, doch für viele afrikanische Regime ist sie auch eine lebenserhaltende Massnahme. Uganda zum Beispiel liess sich über die Hälfte seines Gesundheitshaushalts mit Hilfsgeldern finanzieren. Fehlt das Geld plötzlich, stehen afrikanische Regierungen unter Erklärzwang.

Europa duckt sich weg, wenn es um Afrikas Jugend geht. Aus Angst, die verbliebenen Verbündeten auf dem Kontinent vor den Kopf zu stossen, gegenüber China und Russland weiter an Boden zu verlieren – Länder, die sich zwar häufig so aufführen, als würden sie den Afrikanern dabei helfen, sich vom westlichen Joch zu befreien. Sich aber am besten mit den autoritärsten unter Afrikas Herrschern verstehen.

Europa fürchtet auch, dass all diese jungen Afrikaner potenzielle Migranten sein könnten. Dabei holen europäische Länder schon jetzt jedes Jahr Zehntausende junger Afrikaner nach Europa. Weil sie diese als Fachkräfte benötigen. Sie arbeiten als Pfleger und Ärztinnen. Europäische Regierungen kommunizieren das nicht laut, weil es nicht populär ist.

Die allermeisten jungen Afrikaner wollen sowieso nicht weg. Sie wollen in ihren Ländern bleiben, dort arbeiten, Familien gründen. Sie wollen weg, wenn ihnen ihre Regierungen die Perspektiven verbauen.

Nicht Afrikas Junge sind das Problem. Das Problem sind die Regierungen.

Es bringt deshalb wenig, korrupte Regierungen pfleglich zu behandeln. Europa hat das im Sahel versucht, wo sich Regierungen wenig darum scherten, was ausserhalb der Hauptstädte geschah. Ausserhalb der Hauptstädte sind dann Tausende junger Männer jihadistischen Gruppen beigetreten. Nicht weil sie besonders religiös wären. Sondern weil ihnen der Jihadismus ein Einkommen verschafft und Beschäftigung. Inzwischen haben in den Sahel-Staaten Militärs gegen die unfähigen Regierungen geputscht. Das Chaos wird dadurch nicht kleiner. Es weitet sich auf andere Länder aus.

«Afrikas Zukunft wird die Zukunft der ganzen Welt bestimmen», schreibt der Autor Howard French. Bis 2050 wird die Hälfte des globalen Bevölkerungswachstums in Afrika stattfinden. Jeder vierte Mensch wird 2050 in Afrika leben.

Wandel wird deshalb kommen in Afrika. Entweder im Guten oder im Schlechten. Es ist eine Revolution, die kein Pathos braucht. Weil die Statistik sie unausweichlich macht.