Beitrag vom 25.05.2025
NZZ
«Trumps Hilfsstopp ist grausam. Gleichzeitig hoffe ich, dass dieser ein Umdenken bewirkt»
Ist die Entwicklungshilfe nun am Ende? Der kenyanische Politikwissenschafter Ken Opalo spricht über selbstgerechte Helfer und einen Kontinent, der ohne Hilfe auskommen könnte.
Samuel Misteli, Nairobi
Die internationale Hilfe kämpft um ihr Überleben, seit die amerikanische Regierung ihre Entwicklungsbehörde USAID eingestampft und mehr als 90 Prozent ihrer Hilfsprojekte gestoppt hat. Damit fällt der mit Abstand wichtigste Geldgeber für humanitäre Hilfe und Entwicklungshilfe weg. Aber auch viele andere Länder, darunter die Schweiz, Deutschland und Grossbritannien, sparen.
Verhungern nun Millionen von Menschen? Oder kann aus dem Chaos auch Gutes entstehen? Zum Beispiel ein afrikanischer Kontinent, der nicht mehr von Hilfe abhängig ist? Der kenyanische Politikwissenschafter Ken Opalo ist eine einflussreiche Stimme, wenn es um Entwicklung in Afrika geht.
Herr Opalo, als der amerikanische Präsident Trump im Januar die Kürzungen der Hilfe der USA verkündete, hiess es rasch, Millionen von Menschen in ärmeren Ländern müssten nun sterben. Ist das Alarmismus oder realistisch?
Es ist beides. Ein Land wie Südafrika zum Beispiel hätte genügend Geld, um HIV-Medikamente zu beschaffen und Menschen am Leben zu halten. Länder wie Liberia oder Sierra Leone haben das nicht. Die Debatte um die Kürzung von Hilfe ist aber auch sensationalistisch: Den drohenden Untergang der Afrikaner dramatisch herbeizureden, hat eine lange Geschichte. Und es verhindert, dass über langfristige Lösungen nachgedacht wird.
In den vergangenen Jahrzehnten sind Milliarden an Hilfsgeldern nach Afrika geflossen. Allein der Südsudan hat seit der staatlichen Unabhängigkeit 2011 mehr als zehn Milliarden Dollar Hilfsgelder erhalten – die Bevölkerung ist trotzdem bitterarm. Was lief schief?
Die Hilfe hat zwar Leben gerettet, aber keine Strukturen geschaffen, die Hilfe überflüssig machen würden. Eher hat die Hilfe Abhängigkeit zementiert. In vielen afrikanischen Ländern sind zum Beispiel die Gesundheitssysteme von westlicher Hilfe abhängig.
In den sechziger und siebziger Jahren, nachdem die meisten afrikanischen Länder die Unabhängigkeit erlangt hatten, sprachen afrikanische Regierungen viel von Souveränität und davon, sich von Europa zu emanzipieren. Wieso begaben sie sich dann doch wieder in die Abhängigkeit?
Der Wendepunkt für viele afrikanische Länder war die Schuldenkrise der achtziger Jahre. In den zwei Jahrzehnten zuvor wuchsen afrikanische Volkswirtschaften schnell. Dann kam weltweit ein Wirtschaftsabschwung, und mit dem Preiszerfall bei afrikanischen Exportgütern wie Kaffee oder Kupfer versiegte die Grundlage des Wachstums. Die Schulden stiegen, während die Erlöse aus dem Verkauf von Rohstoffen sanken.
Viele Staaten hatten auf staatlich gelenkte Entwicklungsmodelle gesetzt. Nun wurden Haushalte drastisch gekürzt. Alle glaubten, afrikanische Staaten würden sowieso nichts auf die Reihe bekommen, nichtstaatliche Entwicklungsorganisationen übernahmen wichtige staatliche Aufgaben. Wirtschaftspolitisches Denken wurde an ausländische Experten, etwa vom Internationalen Währungsfonds und von der Weltbank, ausgelagert.
Das heisst, afrikanische Eliten gaben das Regieren an westliche Experten ab?
Es ist eine Frage der Anreize: Wenn ich mich als politische Führungskraft darauf verlassen kann, dass der Währungsfonds, dass USAID oder andere zur Rettung eilen, dann übernehme ich keine Verantwortung. Bildung, Gesundheit, Landwirtschaft – viele politische Weichen wurden von den Hilfsgebern und ihren Experten gestellt. Statt eigene Lösungen zu entwickeln, orientierten sich afrikanische Regierungen an deren Vorgaben.
In den vergangenen zwanzig Jahren haben Entwicklungshelfer viel über Wirksamkeit gesprochen und versucht, den Erfolg von Projekten zu evaluieren. Was hat das gebracht?
Es war sicher ein Fortschritt, dass man begonnen hat, die Wirkung von Entwicklungshilfe zu messen. Aber dann ist man übers Ziel hinausgeschossen. Es wurden nur noch Dinge gemacht, die sich messen liessen. Plötzlich galt es als Erkenntnis, dass Kinder besser lernen, wenn sie satt sind. Ja natürlich – jeder Mensch weiss, dass Kinder besser lernen, wenn ihr Magen nicht leer ist. Wir sollten aber nicht fragen: Sollen wir Kinder in der Schule mit Essen versorgen? Die wichtigere Frage ist: Wie sorgen wir dafür, dass alle Kinder in der Schule etwas zu essen bekommen? Statt die grossen Fragen anzugehen, haben wir uns in Mikroprojekten verloren.
Heisst das, dass die Interessen der Hilfsindustrie kurzfristig sind, die Bedürfnisse der Staaten aber langfristig?
Kurzfristigkeit ist nur eines von vielen Problemen. Viele Entwicklungshelfer haben eine seltsam bescheidene Erwartungshaltung gegenüber armen Ländern. Idealerweise würden Entwicklungshelfer daran glauben, dass Malawi ein wohlhabendes Land werden kann – doch die meisten glauben das nicht. Dazu kommt ein Wissensproblem: Oft sind es westliche Wissenschafter, finanziert von westlichen Institutionen, die eine Studie in Malawi durchführen – ohne tieferes Interesse daran, was Malawier und ihre Eliten wirklich denken oder brauchen. Das Ziel solcher Studien ist es nicht, der Politik vor Ort zu nützen. Es geht vielmehr darum, dass sie in renommierten amerikanischen Fachzeitschriften publiziert werden können.
Haben die geringen Erwartungen gegenüber den Afrikanern mit Rassismus zu tun?
Er schwingt im Hintergrund sicher mit. Natürlich weiss jeder Experte, der ein Land erforschen will, dass er dafür lokale Expertise braucht. Viele handeln aber so, als sei das zweitrangig. Das ist kein offener Rassismus, aber ein Erbe überkommener Denkmuster. Es fehlt den Experten auch an Netzwerken. Sie kommen aus dem Ausland, bleiben nur kurz und haben kaum Kontakt zur lokalen Gesellschaft.
Aber in der Entwicklungshilfe arbeiten doch Personen, die sich für andere Kulturen interessieren und Gutes tun wollen.
Nur weil jemand in der Entwicklungszusammenarbeit tätig ist, heisst das noch lange nicht, dass er oder sie die Perspektiven der Menschen vor Ort respektiert oder überhaupt wahrnimmt. In Kenyas Hauptstadt Nairobi zum Beispiel, einer wichtigen Basis für viele Organisationen, gehen die meisten Expats in dieselben Bars, wohnen in denselben Vierteln – es herrscht eine deutliche soziale Trennung. Fragst du die Leute, wer ihre Freunde seien, sind es meist andere Ausländer. Das begrenzt massiv, wie viel sie vom Land verstehen.
Zurück zur Abhängigkeit: Es gibt auch Beispiele für afrikanische Länder, in denen die Eliten Hilfsgelder effizient einsetzen. Rwanda zum Beispiel wird zwar streng autoritär regiert, aber die Regierung hat den Ehrgeiz, das Land voranzubringen.
Es gibt einige afrikanische Länder, die sich nicht der Vorstellung unterwerfen, dass Ausländer oder Geberorganisationen automatisch alles besser wissen. Sie nehmen zwar Hilfe an, bestehen aber auf ihrer eigenen Entwicklungsagenda: Rwanda ist das beste Beispiel.
Weshalb läuft es in Rwanda anders – schlicht weil der dortige Präsident Paul Kagame ambitionierter ist als andere Präsidenten?
Rwandas Regierung muss effektiver arbeiten als viele andere in Afrika, weil die Geister des Genozids von 1994 noch immer präsent sind. Die Furcht vor neuer Gewalt ist allgegenwärtig. Die meisten andern afrikanischen Regierungen sind in der Vergangenheit damit durchgekommen, wenig zu tun.
Wieso?
In vielen afrikanischen Ländern konnten die Regierungen mehr als zwei Drittel der Bevölkerung ignorieren, weil sie als Subsistenzbauern lebten. Das hiess: Die Leute versorgten sich selber, auch wenn es der Wirtschaft schlechtging. Statt sich mit guter Wirtschaftspolitik legitimieren zu müssen, konnten die Regierenden ethnische Spiele zur Absicherung ihrer Macht spielen. In Rwanda geht das nicht, dort lautet der Deal: Die Regierung garantiert die Sicherheit und hält die Wirtschaft in Gang – und zieht daraus ihre Legitimität.
Neben den USA kürzen viele weitere Länder, darunter Grossbritannien, die Niederlande, Deutschland und die Schweiz, ihre Hilfsgelder. Verschieben sich dadurch die Anreize für afrikanische Regierungen so, dass sie die Entwicklung ihrer Länder selber in die Hand nehmen?
Die Anreize für Afrikas Eliten verändern sich unabhängig von den Kürzungen der Hilfsgelder. Viele Länder verstädtern sehr schnell, zudem ist die Bevölkerung heute viel besser ausgebildet als vor zwanzig Jahren. Kinder, die zur Schule gegangen sind, wollen nicht mehr wie ihre Eltern Kleinbauern sein. Gleichzeitig fällt die Landwirtschaft als soziales Ventil zunehmend weg – unter anderem, weil sie stark vom Klimawandel betroffen ist. Die Folge: Afrikanische Regierungen müssen die Wirtschaft zum Funktionieren bringen, um Stabilität zu wahren.
Sind Afrikas Eliten diesen Herausforderungen gewachsen? Die Qualität der Regierungsführung ist an vielen Orten katastrophal.
Es wird nicht über Nacht passieren. Aber in vielen afrikanischen Ländern liegt das Problem weniger in der Qualität der Eliten als in den Rahmenbedingungen. In vielen frankofonen Ländern Westafrikas zum Beispiel hat der französische Neokolonialismus lange einen bestimmten Typus eines Politikers hervorgebracht: in Frankreich ausgebildet, verbringt gerne Zeit in Paris, verscherbelt natürliche Ressourcen fast gratis an französische Firmen. Im Gegenzug schützte Frankreich diese Führer militärisch – und wurde sie über Putsche wieder los, wenn sie französischen Interessen nicht mehr dienten. Aber afrikanische Länder sind nicht auf bestimmte Führungsfiguren festgelegt. Wenn sich die Rahmenbedingungen ändern, werden auch andere Führungstypen aufsteigen.
Braucht es dann überhaupt noch Hilfe?
Das langfristige Ziel sollte es sein, ganz ohne Hilfe auszukommen – abgesehen von Unterstützung in Notsituationen. Bis dahin braucht es weiterhin lebensrettende Hilfe, etwa im Gesundheitsbereich: Impfkampagnen, Seuchenbekämpfung. Aber auch das sollte zunehmend über staatliche Gesundheitssysteme laufen. Der Fokus sollte sein: weg von reiner Hilfe, hin zum Aufbau wirtschaftlicher Fähigkeiten. Afrikanische Länder brauchen grosse Infrastrukturprojekte wie Strassen, Stromnetze, Dämme, damit Wachstum möglich wird. Die Weltbank zum Beispiel könnte über günstige Entwicklungskredite eine zentrale Rolle in der Infrastrukturfinanzierung spielen. Heute tut das fast nur noch China.
Nach dem amerikanischen Hilfsstopp hiess es, dass Länder wie China, Russland oder die reichen Golfstaaten einspringen könnten. Passiert das?
Nicht wirklich. Die USA haben, vor allem über USAID, andere Dinge gemacht als China. Während China Strassen, Brücken, Häfen und Staudämme baut, hat sich USAID hauptsächlich auf den Gesundheitsbereich konzentriert. Länder wie Russland oder die Golfstaaten machen kaum klassische Entwicklungshilfe.
Wird Hilfe künftig stärker von geostrategischen Interessen gelenkt sein?
Entwicklungshilfe war schon immer interessengeleitet und wird das künftig noch stärker sein. Staaten verbargen ihre Agenda bisher hinter Schlagwörtern wie «Demokratieförderung», künftig aber wird die Interessenpolitik expliziter sein. Aber es muss nicht schlecht sein, wenn alle wissen, woran sie sind.
Ist es nicht schädlich für die afrikanische Souveränität, wenn ausländische Mächte wie im Kalten Krieg nackte Interessenpolitik verfolgen?
Ich glaube nicht, dass wir eine Rückkehr zur Logik des Kalten Krieges sehen werden. Damals waren viele afrikanische Länder gerade unabhängig geworden und waren institutionell extrem schwach. Heute sind sie gefestigter und in der Lage, sich in einem umkämpften geopolitischen Umfeld zu behaupten. In den siebziger Jahren war es für eine ausländische Macht einfach, einen Putsch in Ghana zu initiieren. Heute ist es das nicht mehr – das politische System ist stabiler. Auch leben wir in einer multipolaren Welt. Afrikanische Länder haben viele Optionen – nicht nur China oder die USA.
Wenn wir in dreissig Jahren zurückschauen: Ist es möglich, dass wir dann sagen, Donald Trump habe Afrika mit dem Hilfsstopp einen Gefallen getan?
Klar ist: Der Übergang wird mit viel Leid verbunden sein. Menschen verlieren den Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten, andere verlieren ihre Arbeit – das ist grausam. Gleichzeitig hoffe ich, dass der Schock ein Umdenken bewirkt: weg von der Abhängigkeit von Hilfe als Entwicklungsmodell. Hilfe sollte dazu dienen, Länder zu befähigen – nicht dazu, sie abhängig zu halten. Wenn der Schock dazu beiträgt, können wir irgendwann sagen: In all diesem Chaos lag zumindest ein kleiner Hoffnungsschimmer.