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Beitrag vom 03.10.2024

NZZ

Massiver Anstieg sexueller Gewalt in Kongo
Vertriebene Frauen sind besonders häufig Opfer von Vergewaltigungen
Andrea Marti

In Kongo-Kinshasa steigen die Zahlen der Fälle sexueller Gewalt massiv an: 25 000 Opfer wurden letztes Jahr von Ärzte ohne Grenzen behandelt, wie die Organ
isation in ihrem jüngsten Bericht schreibt. Das sind so viele wie nie zuvor. Der Anstieg findet vor dem Hintergrund der Konflikte im Norden des Landes statt, die zunehmend intensiver werden. In der Region Nord-Kivu kämpft die kongolesische Armee gegen die Rebellengruppe M23, die die Kontrolle über die Region erlangen will.

Hunderttausende Menschen fliehen vor dem Konflikt in die Flüchtlingscamps um die Provinzhauptstadt Goma. Dort ist die Situation prekär, es fehlt an Wasser, Nahrung und Arbeit. Das macht insbesondere Frauen verwundbar: Sie müssen auf umliegenden Feldern und Hügeln Wasser und Feuerholz suchen, wo sich bewaffnete Gruppen aufhalten. In fast 70 Prozent der Fälle sind bewaffnete Männer die Täter. Oft sind Frauen solchen Situationen auch regelmässig ausgesetzt, wodurch sie teilweise mehrmals angegriffen werden.

Die prekäre Versorgungslage im Konfliktgebiet macht Frauen anfällig für Druckversuche: «Er sah mich und sagte, er könne mir einen Essensgutschein besorgen, wenn ich mit ihm käme. Also folgte ich ihm», sagte ein Opfer laut dem Bericht von Ärzte Ohne Grenzen. Viele Frauen schämen sich für das, was ihnen angetan wurde. Sexueller Gewalt haftet ein grosses Stigma an, Opfer erleben nach dem Übergriff Isolation und soziale Ächtung. Eine Frau sagt: «Nachdem ich angegriffen worden war, rieten die Bekannten meines Mannes ihm, mich zu verlassen. Jetzt lebe ich allein mit meinen vier Kindern.» Dieses Stigma hält viele Opfer davon ab, sich Hilfe zu suchen. Sie kennen Angebote nicht, weil darüber nicht gesprochen wird. Und sie trauen sich nicht, anderen vom Übergriff zu erzählen.

Sexuelle Gewalt hat oft nicht nur körperliche, sondern auch schwere seelische Folgen. Schlaflosigkeit, Ängste, Depressionen und psychosomatische Schmerzen kommen bei Opfern häufig vor. Eine Psychologin von Ärzte ohne Grenzen berichtet über eine Frau: «Nachts hat sie Suizidgedanken, sie hat schwere körperliche Verletzungen und weint viel. Sie ist verzweifelt, es ist bereits das zweite Mal, dass sie vergewaltigt wurde.»

2024 sind die Fallzahlen angestiegen. Allein in der Provinz Nord-Kivu wurden zwischen Januar und Mai 17000 Überlebende nach Übergriffen behandelt. Bis 2022 waren es in den fünf Provinzen insgesamt jährlich etwa 10000 Fälle. Experten gehen zudem von einer hohen Dunkelziffer aus.