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Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 28.06.2024

NZZ

PROTESTE GEGEN KORRUPTE POLITIKER

Die Demonstranten in Kenya sind nicht die faule Gen Z

Samuel Misteli, Nairobi

Es begann harmlos, auf Social Media, mit ein paar jungen Leuten, die sich aufregten über neue Steuern, die die Regierung plante. #Rejectfinancebill2024, lautete der Hashtag. Kenyanische Politiker machten sich lustig: Verwöhnte Gen Z halt, sagten sie, wollen keine Steuern zahlen und machen ein wenig Lärm auf Tiktok. Damit würde es enden. Es endete nicht. Knapp zwei Wochen später sind in allen Landesteilen Kenyas Zehntausende oft sehr junge Menschen auf die Strasse gegangen. Im Zentrum der Hauptstadt Nairobi überwältigten Demonstranten die Polizei und stürmten das Parlament. Laut Zahlen der kenyanischen Ärztevereinigung hat die Polizei mehr als 20 Demonstranten erschossen.

Die Regierung markierte zuerst Härte: Sie entsandte das Militär. Am nächsten Tag knickte sie ein. Sie zog das Steuerpaket zurück. Die «Gen-Z-Revolution» in Kenya, wie sie manche nennen, ist mächtig. Sie ist es, weil es nicht um ein paar Tiktoker geht, die keine Steuern zahlen wollen. Sondern um eine ganze Generation, die eine ungeheure Wut hat auf eine Politikerkaste, die sie mit Geringschätzung bis Verachtung behandelt. Diese Wut ist auch nach den Konzessionen der Regierung nicht verflogen. Die Proteste werden weitergehen.

Kenya ist ein afrikanisches Land mit einer vergleichsweise funktionsfähigen Demokratie. Und doch wird Kenya regiert von einer politischen Kaste, die korrupt ist und Politik auch als Mittel sieht, Land, Immobilien oder andere wirtschaftliche Pfründen zu erwerben. Im kenyanischen Staatswesen überdauert noch immer die DNA des Kolonialstaats, der darauf angelegt war, die Ressourcen des Landes abzutransportieren und seine Bewohner auszupressen.

Während die Regierung von Präsident William Ruto den 55 Millionen Kenyanerinnen und Kenyanern seit 2022 eine Reihe neuer Steuern auferlegt hat, verantwortete sie mehrere Korruptionsskandale. Die amerikanische Regierung hat sich vor einigen Monaten beklagt, für amerikanische Firmen sei es schwierig geworden, in Kenya zu investieren, weil die Behörden offensiv Bestechungsgelder verlangten.

Viele Demonstranten in Nairobi sagten am Dienstag zwischen Tränengasschwaden: Es gehe ihnen gar nicht um die Steuern. Sie seien bereit, zu einem funktionierenden Staat beizutragen. Aber wieso sollten sie immer mehr Steuern bezahlen für einen Staat, der verantwortungslos mit dem Geld umgeht? Der Alltagsgüter wie Brot und Tampons verteuert, um dann die Büros der Frauen des Präsidenten und des Vizepräsidenten mit fürstlichen Budgets auszustatten? Ein Staat, der Präsident Ruto erlaubt, einen Privatjet zu mieten, um mit einer überdimensionierten Entourage auf Staatsbesuch in die USA zu reisen?

Die Demonstrantinnen und Demonstranten in Kenya sehen sich nicht als Verweigerer. Sondern als Patrioten. Viele hatten die Landesflagge mitgebracht. Sie sangen die Nationalhymne. Und es ist tatsächlich eine neue Generation. Die meisten demonstrieren zum ersten Mal, sie sind Anfang 20 oder jünger. Von früheren Generationen unterscheiden sie sich nicht darin, dass sie Social Media nutzen. Das taten Demonstrierende schon im Arabischen Frühling. Die jetzigen Protestteilnehmer gehen noch raffinierter mit Social Media um; sie halten Online-Gespräche mit Tausenden von Teilnehmern ab, sie mobilisieren Geld für die Be- handlung verletzter Demonstranten, sie nutzen Apps, die dabei helfen, sich in der Menge zu orientieren.

Doch sie sind eine neue Generation von Protestierenden, weil die meisten von ihnen gebildet sind und zur Mittelklasse gehören. Viele Protestteilnehmer sind Universitätsabgänger. Sie finden keine festen Stellen, weil die Regierung es nicht fertigbringt, die Wirtschaft so umzuformen, dass sie unabhängiger wird von staatlichen Töpfen und Klientelsystemen. In Kenya sind Millionen junge Menschen Selfmade-Unternehmer aus Not. Und nun sind sie Aktivisten. Und weil die Demonstranten gebildeter sind als frühere Generationen, sind sie schwerer zu manipulieren. Zum Beispiel nach ethnischen Loyalitäten, wie das früher in Kenyas Politik immer der Fall war. «Wir sind nicht hier für unsere Ethnie, wir sind hier für unsere Rechte», sagte ein Demonstrant am Dienstag. Er sprach für viele.

Diese Generation umfasst Millionen. Das Medianalter in Kenya ist unter 20. Die Generation der Protestteilnehmer ist jene, die am stärksten von Arbeitslosigkeit betroffen ist. Sie wächst und ist ein vorzüglicher Feind für die politische Kaste, weil die jungen Leute furchtlos sind und wenig zu verlieren haben. Die Konstellation ist vielerorts in Afrika ähnlich, dem jüngsten Kontinent der Welt. Millionen junger Leute werden von Geronto- und Kleptokraten regiert, die sich an Ämter und damit verbundene Geldtöpfe klammern. Es wäre kein Wunder, wenn Kenyas Proteste auf andere Länder übergreifen würden.