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Beitrag vom 20.12.2023

NZZ

Ein Staat, so gross wie Westeuropa, wählt einen Präsidenten: Warum die Wahl in Kongo-Kinshasa wichtig ist

100 000 Kandidatinnen und Kandidaten, 75 000 Wahlbüros, Gesamtkosten von mehr als einer Milliarde Dollar. Eine Wahl der Superlative.

Samuel Misteli, Nairobi

1. Was wird gewählt?
Kongo-Kinshasa, das grösste afrikanische Land südlich der Sahara, wählt am Mittwoch einen neuen Präsidenten – dazu Abgeordnete auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene. Es sind Wahlen der Superlative: 44 Millionen Wählerinnen und Wähler sind aufgerufen, in 75 000 Wahlbüros über die Tauglichkeit von rund 100 000 Kandidatinnen und Kandidaten zu entscheiden. Die Kosten für die Organisation der Wahlen belaufen sich laut der zuständigen Behörde auf mehr als eine Milliarde Dollar.

Für das Präsidentenamt kandidieren 18 Kandidaten und eine Kandidatin. Favorit ist der Amtsinhaber Félix Tshisekedi, der 2019 zum Sieger einer umstrittenen Wahl erklärt worden war und das Land in den vergangenen fünf Jahren regierte. Seine Bilanz ist von wirtschaftlichen Schwierigkeiten und Unsicherheit geprägt. Tshisekedis stärkster Gegner ist Moïse Katumbi, ein reicher Geschäftsmann und früherer Gouverneur der rohstoffreichen Provinz Katanga um die Stadt Lubumbashi im Süden Kongos. Weitere prominente Kandidaten sind Martin Fayulu, ein früherer Exxon-Mobil-Manager, der sich als «wahren Präsidenten» bezeichnet, weil ihm mit grosser Wahrscheinlichkeit der Sieg bei der letzten Wahl gestohlen wurde; sowie Denis Mukwege, ein Gynäkologe und Friedensnobelpreisträger, der in seiner Klinik in Ostkongo Tausende von Frauen behandelt hat, die Opfer sexueller Gewalt wurden. In einem Interview mit der NZZ sagte Mukwege Anfang Dezember, er sehe seine Kandidatur als Fortsetzung seiner medizinischen Arbeit: Er wolle die tieferen Ursachen von Kongos Problemen angehen und das Land heilen.

2. Weshalb ist diese Wahl wichtig?
Kongo-Kinshasa ist so gross wie Westeuropa (oder mehr als 50-mal so gross wie die Schweiz) und hat schätzungsweise 100 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner. Die Grösse ist nicht der einzige Grund, weshalb das Land wichtig ist. Es hat gleichzeitig gewaltiges Potenzial und gewaltige Probleme. In Kongo-Kinshasas Böden liegen die wertvollsten Rohstoffvorkommen der Welt, das Land ist zum Beispiel der wichtigste Produzent von Cobalt, eines essenziellen Bestandteils von Elektroauto-Batterien. Auch an Kupfer, Diamanten, Gold und Coltan ist Kongo reich.

Zudem ist das Land von globaler Bedeutung bei der Bekämpfung des Klimawandels: Die Wälder des Kongobeckens bilden nach dem Amazonas den zweitgrössten Regenwald der Welt und sind ein wichtiger Kohlenstoffspeicher. Kongo verfügt auch über die weltgrössten Torfmoore, in denen so viel CO2 lagert, wie die Welt in drei Jahren ausstösst.

Die natürlichen Schätze von Kongo sind ein Hauptgrund für die chronische Instabilität des Landes, das 1960 von Belgien aus einer brutalen Kolonialherrschaft entlassen wurde. Seit den 1990er Jahren haben in mehreren Kriegen laut Schätzungen sechs Millionen Kongolesinnen und Kongolesen ihr Leben verloren. Trotz Milliarden von Dollar an Hilfsgeldern und internationalen Friedensmissionen ist Kongo nach wie vor ein riesiger Unruheherd mitten in Afrika.

Voller Zuversicht, trotz durchzogenem Leistungsausweis: Félix Tshisekedi. Ihm kommt entgegen, dass es nur einen Wahlgang gibt und er den Staatsapparat hinter sich weiss.
Voller Zuversicht, trotz durchzogenem Leistungsausweis: Félix Tshisekedi. Ihm kommt entgegen, dass es nur einen Wahlgang gibt und er den Staatsapparat hinter sich weiss.

3. Welches sind die Themen der Wahl?
Die Wirtschaft, die Sicherheitslage, die Korruption – in allen drei Bereichen fällt der Leistungsausweis von Präsident Tshisekedi durchzogen aus.

Die Wirtschaft von Kongo-Kinshasa ist eine der am schnellsten wachsenden in Subsahara-Afrika. Sie wuchs 2022 um 8,5 Prozent, angetrieben vom Minensektor. Tshisekedi versucht die Erträge im Rohstoffsektor unter anderem dadurch zu erhöhen, dass er Verträge neu aushandelt – etwa ein Abkommen über 6,2 Milliarden Dollar mit China. Dieses gewährt den Chinesen 70 Prozent der Erträge aus einem Minen-Joint-Venture im Tausch gegen den Bau von Strassen und Spitälern.

Die kongolesische Bevölkerung spürt wenig vom Wirtschaftswachstum. Der kongolesische Franc hat seit Beginn des Jahres einen Fünftel seines Wertes gegenüber dem Dollar verloren, die Bevölkerung kämpft mit stark steigenden Lebensmittelpreisen. Zwei Drittel der Kongolesinnen und Kongolesen leben unter der Armutsgrenze, im Entwicklungsindex der Uno belegte das Land jüngst Rang 179 von 191 Ländern.

Die Sicherheitslage in Teilen des Landes ist katastrophal. Im Osten terrorisieren mehr als 100 Rebellengruppen die Bevölkerung. Für besondere Unruhe sorgen die vom Nachbarland Rwanda unterstützte M23-Miliz sowie die Allied Democratic Forces (ADF), ein Ableger des Islamischen Staates (IS). Fast sieben Millionen Menschen sind intern vertrieben, 26 Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Manche Experten befürchten einen Krieg zwischen Kongo-Kinshasa und Rwanda – unter anderem weil Präsident Tshisekedi im Wahlkampf aggressiv Stimmung macht gegen Rwanda.

Die Korruption, oft in Zusammenhang mit den Bodenschätzen, hat sich unter Tshisekedi nicht gebessert. Seine Regierung verantwortet mehrere Skandale. So verschwanden 400 Millionen Dollar spurlos, die das staatliche Minenunternehmen Gécamines in die Staatskasse einzahlte – ohne dass jemand zur Verantwortung gezogen worden wäre.

Fast sieben Millionen Kongolesinnen und Kongolesen sind intern vertrieben. Viele wählen trotzdem. Ein Bewohner eines Flüchtlingslagers in Goma im Osten des Landes zeigt seine Identitätskarte.
Fast sieben Millionen Kongolesinnen und Kongolesen sind intern vertrieben. Viele wählen trotzdem. Ein Bewohner eines Flüchtlingslagers in Goma im Osten des Landes zeigt seine Identitätskarte.

4. Werden die Wahlen fair verlaufen?
Im Vorfeld der Wahlen kam es zu gewaltsamen Zusammenstössen von Anhängern der verschiedenen politischen Lager. Die Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch rief die kongolesische Regierung Mitte Dezember dazu auf, mehr gegen die Gewalt zu unternehmen.

Die Regierung hat auch ein fragwürdiges Verhältnis zur Meinungsfreiheit. Seit September sitzt zum Beispiel der prominente Journalist Stanis Bujakera in Haft. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm die Verbreitung von Falschnachrichten vor – er hatte über die mögliche Beteiligung des Militärgeheimdiensts an der Ermordung eines Oppositionspolitikers geschrieben. Während der Präsidentschaft von Félix Tshisekedi wurden fünf Journalisten getötet, Hunderte wurden zum Ziel von Angriffen.

Viele Kongolesinnen und Kongolesen misstrauen auch der Wahlbehörde. Sie werfen dem Leiter allzu grosse Nähe zum Präsidenten vor. Bei der Vorbereitung der Wahlen kam es zu Unregelmässigkeiten. Viele Wählerausweise wurden in so schlechter Qualität gedruckt, dass die Informationen darauf nicht lesbar waren. Auch die Verteilung von Wahlmaterial in dem riesigen Land verlief so chaotisch, dass viele bezweifelten, dass die Wahl termingemäss würde stattfinden können. In den Konfliktgebieten im Osten werden mehr als eineinhalb Millionen Menschen nicht wählen können. Die EU zog ihre Beobachtermission zurück, nachdem die kongolesische Regierung die Einführung von Kommunikationsgeräten verweigert hatte.

5. Gibt es trotzdem Grund für Zuversicht?
Die in Kongo-Kinshasa sehr einflussreiche katholische Kirche entsendet Zehntausende von Beobachtern im ganzen Land, um möglichst faire Wahlen sicherzustellen. Die Wahlbehörde hat zudem versprochen, die Resultate laufend zu veröffentlichen, nicht erst ein Endresultat. Das erhöht die Chance, dass ein allfälliger Überraschungssieger nicht ganz am Schluss um den Sieg gebracht werden könnte, wie das bei der letzten Wahl geschah.

Kongos Bevölkerung nimmt ihre demokratische Pflicht ernst. Das gilt gerade für die vielen Jungen. Eliane Feza zum Beispiel, eine 24-jährige Poetry-Slammerin, sagt bei einem Gespräch in Goma, der Stadt im Zentrum der Krise im Osten: «Ich glaube, dass Wandel möglich ist. Die Leute, die wir wählen, sind dazu aufgerufen, für uns zu arbeiten. Wenn sie sich nur schon bei dieser Wahl vor der Bevölkerung rechtfertigen müssen, kann das der Anfang von Wandel sein.»