Beitrag vom 14.11.2023
Finanz und Wirtschaft
Afrika vor einer weiteren verlorenen Dekade
Seite der Jahrtausendwende hat sich Afrikas Bevölkerung verdoppelt. Der Kontinent braucht daher BIP-Zuwachsraten von wenigstens 5%, um die Armut zu überwinden, ist jedoch weit davon entfernt.
Wolfgang Drechsler
Das Ritual ist kein ganz Neues: Alle zehn bis 15 Jahre, so scheint es, wird Afrika im Westen einer grundsätzlichen Neubewertung unterzogen. Exemplarisch ablesbar ist dies im «Economist», dem renommierten britischen Wirtschaftsmagazin. Nannte das Blatt Afrika noch im Jahr 2000 nach zwei verlorenen Dekaden den «lost continent», titelte es dort nur zehn Jahre später geradezu enthusiastisch: «Africa rising».
Grund für den damals diagnostizierten Aufstieg waren jedoch nicht etwa grössere Reformanstrengungen afrikanischer Regierungen oder gar eine neue Entwicklungsdynamik, sondern der zu Jahrtausendbeginn von China befeuerte Rohstoffboom. Dieser hat nicht nur Afrikas Rolle in der Welt, sondern auch sein wirtschaftliches Schicksal zeitweilig verändert. Lag sein Sozialprodukt (BIP) pro Kopf im Jahr 2001 noch niedriger als 1981, verdoppelte sich das BIP von 2004 bis 2014 – und schien damit diejenigen zu bestätigen, die Afrika bereits in den Fussstapfen Asiens wähnten.
Inzwischen ist die Euphorie von damals verflogen: Eine Reihe von Militärcoups im Sahel, dem Südsaum der Sahara, hat vielerorts für starke Ernüchterung gesorgt. Mit seiner jüngsten Titelgeschichte («Africa loses faith in democracy») ist auch der «Economist» wieder dort angelangt, wo Afrika schon die ganze Zeit stand: inmitten einer politischen wie wirtschaftlichen Dauerkrise, unterbrochen allein vom Strohfeuer des einen oder anderen Rohstoffbooms. So wie auch in den 1950er- und 1960er-Jahren, als es Europa und Japan waren, die Afrikas Bodenschätze für den Neuaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg brauchten.
Der Rohstofffluch
In diesem Prozess hat sich die fast völlige Abhängigkeit nahezu aller afrikanischen Staaten von oft nur einem einzigen Rohstoff als verhängnisvoll erwiesen, ja: als Fluch erwiesen. Als Folge der einseitigen Ausrichtung und des darüber versäumten Aufbaus einer eigenen industriellen Basis sind sowohl die chinesischen Auslandsinvestitionen wie auch die privaten Direktinvestitionen (FDI) weitgehend versiegt. Es fehlen einfach Projekte und Gelder über den einfachen Rohstoffabbau hinaus. Auch sind die Finanzierungskosten der seit 2010 massiv von Afrika aufgenommenen Kredite durch die nun stark gestiegenen Zinsen auf ein unhaltbares Niveau gestiegen. Schliesslich leidet der Kontinent noch immer unter den Nachwirkungen der Covid-Pandemie, die seinen schon immer fragilen Gesundheitsdiensten weiteren Schaden zugefügt hat.
«Die Kernursachen der Misere sind überall identisch: das kaputte, von Korruption zerfressene politische System und die Stagnation der Wirtschaft.»
Vielerorts müssen sich Regierungen, so wie jetzt in Kenia, sogar entscheiden, entweder die Gehälter ihrer Staatsbeamten zu zahlen oder die in den vergangenen Jahren aufgenommenen Milliardenkredite zu bedienen. Unter diesen Umständen muss es fast überraschen, dass der Kontinent nicht schon viel früher von politischem Aufruhr geschüttelt wurde, so wie er nun besonders von vielen jungen Menschen auf der Strasse ausgelebt wird – mehr als die Hälfte aller Afrikaner ist inzwischen unter 19 Jahre jung.
Angesichts der Vielschichtigkeit des Kontinents und seiner 54 Länder liefert das Sozialprodukt noch immer den besten Anhaltspunkt, um Wohlstand und Entwicklung zu messen: War das BIP in den 48 Ländern südlich der Sahara dabei noch 2014 auf den Rekordstand von 1950 $ pro Kopf gestiegen, ist es seitdem über 10% auf etwa 1700 $ gefallen (2022). Dies, obwohl es weltweit im selben Zeitraum 15% gestiegen ist.
Viele Arme, kleine Mittelschicht
Selbst nach Ansicht der sonst stets optimistischen Weltbank deutet inzwischen vieles darauf hin, dass der ärmste Kontinent vor einer weiteren verlorenen Dekade steht. Verschärft wird die Lage noch dadurch, dass ein grosser Teil der Afrikaner bereits jetzt unter der (bei 2 $ am Tag definierten) Armutsgrenze lebt und Afrikas vergleichsweise kleine Mittelklasse als extrem anfällig für einen Rückschlag gilt. Konsumgüterhersteller wie Nestlé oder Unilever haben längst erkannt, wie schnell diese Gruppe bei wirtschaftlichen Schocks schrumpft – und dass der afrikanische Markt keineswegs nur viele neue potenzielle Kunden, sondern auch jede Menge politischen Zündstoff birgt.
Als besonders schwierig hat es sich erwiesen, das Wachstum vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Bevölkerungsexplosion zu steigern. Seit der Jahrtausendwende hat sich Afrikas Bevölkerung auf rund 1,35 Mrd. Menschen verdoppelt. Um bei der gegenwärtigen Bevölkerungszunahme von durchschnittlich 2,6% real zu wachsen, bräuchte der Kontinent folglich BIP-Zuwachsraten von mindestens 5% oder viel mehr, um seine tiefe Armut zumindest ansatzweise zu reduzieren. Für Südafrika, das einzige Industrieland des Kontinents, hat die Weltbank zu diesem Zweck sogar eine Wachstumsrate von mindestens 7% veranschlagt. Doch seit Jahren erreicht sie kaum 1%, also schrumpft Südafrikas Wirtschaft real Jahr für Jahr.
In vielen anderen Ländern wie etwa Nigeria oder Kenia ist das Bild kaum anders. Überall dort sind die Kernursachen der Misere identisch: das kaputte, von Korruption zerfressene politische System und die Stagnation der Wirtschaft – nur einige wenige werden sehr schnell märchenhaft reich, doch die allermeisten bleiben bitterarm. Statt mit dem Rückenwind aus den Rohstoffeinnahmen neu durchzustarten, ist der Kontinent, bedingt durch seine oft mehr sich selbst als dem Gemeinwohl verpflichteten Eliten in schweres Fahrwasser geraten. Ein aktueller Bericht der Weltbank spricht offen davon, dass Afrikas Wirtschaftswachstum selbst auf lange Sicht «nicht ausreicht, um die extreme Armut zu lindern und seinen Wohlstand signifikant zu stärken».
Auslandsinvestitionen sinken
Bedingt durch die neuen geopolitischen Brennpunkte von der Ukraine bis Nahost hat zuletzt auch der Westen seine Hilfsbudgets für Afrika stark reduziert. Dies muss angesichts der in den vergangenen 60 Jahren als Entwicklungshilfe (eher sinnlos) eingesetzten 2500 Mrd. $ nicht schlecht sein, zumal dadurch oft nur alte Abhängigkeiten zementiert wurden. Allerdings sind nun zeitgleich auch Chinas Investitionen, die 2016 noch auf dem Rekordwert von 28 Mrd. $ lagen, auf kaum 2 Mrd. $ Dollar (2020) gefallen. Auch private Auslandsinvestitionen in Fabriken, Unternehmen und andere Projekte sind nach jüngsten Zahlen der Weltbank im vergangenen Jahr südlich der Sahara auf 7 Mrd. $ gesackt, nachdem sie während der Spitzenphase des chinesischen Rohstoffbooms (2012) noch bei 45 Mrd. $ gelegen hatten.
Der ungute Mix dürfte es Afrika noch schwerer machen, neben funktionsfähigen Institutionen auch die dringend benötigte Infrastruktur und die industrielle Basis aufzubauen, um international Anschluss zu finden. Vor allem dürften die stark rückläufigen Mittel es unmöglich machen, die oft auf einen einzigen Rohstoff wie Kupfer, Öl oder Kakao ausgerichteten Volkswirtschaften auf eine breitere Basis zu stellen. Zumal die Preise der Rohstoffe zuletzt hinter denen der veredelten Güter zurückgeblieben sind, was Afrikas Handelsbilanz weiter schwächt.
Nicht nur Afrika selbst, sondern auch der Rest der Welt haben ein starkes Interesse daran, dass der Kontinent auf die Beine kommt. Viele der gegenwärtigen weltpolitischen Probleme, von Flüchtlingsströmen bis hin zu Pandemien, werden schwerer zu bewältigen sein, wenn Afrika nicht funktioniert. Allerdings dürfte es nach den verlorenen Jahrzehnten nicht einfach sein, Afrikas gegenwärtige Abkehr von der Demokratie und die damit verbundene wirtschaftliche Stagnation zu stoppen. Der Westen kann dazu seinen Beitrag leisten. Zur Rettung müssten jedoch die Afrikaner ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, denn am Ende kann der Kontinent nur durch mehr Mut und Selbstverantwortung seine tiefe politische, wirtschaftliche und kulturelle Krise überwinden.
Wolfgang Drechsler ist Afrika-Korrespondent in Kapstadt.