Beitrag vom 26.09.2023
NZZ
Eritreer prügeln sich seinetwegen in Europa
Der Diktator Isaias Afewerki kämpfte lange für die Unabhängigkeit seines Landes
Samuel Misteli, Nairobi
Er ist ein bisschen wie Lord Voldemort, der böse Magier und Erzfeind von Harry Potter. Man spricht seinen Namen selten aus, und noch seltener bekommt man ihn zu Gesicht. Doch er zieht alle Fäden, in seinem Land sowieso und auch weit darüber hinaus: Isaias Afewerki. Der 77-Jährige ist der erste und einzige Präsident von Eritrea. Er führte das Land 1993 in die Unabhängigkeit und verwandelte es danach in ein Gefängnis. In Afewerkis Eritrea gibt es keine freie Presse, keine Verfassung und kein Parlament. «Kein Land der Welt ist eine reinere Autokratie», schrieb der Politikwissenschafter Alex de Waal, der sich seit langem mit Eritrea befasst.
Hunderttausende von Eritreerinnen und Eritreern sind vor und nach der Unabhängigkeit des Staates geflohen, in die USA, nach Deutschland, Schweden, in die Schweiz. Dort spaltet sich die Diaspora in zwei Gruppen: Für jene, die schon lange weg sind, ist Isaias Afewerki noch immer der Held, der Eritrea die Unabhängigkeit brachte. Für die andern ist er ein Mörder. In den vergangenen Monaten hat sich der Hass zwischen den Lagern gewaltsam entladen. Eritreer in mehreren Ländern sind aufeinander losgegangen, mit Steinen, Holzlatten und Flaschen. Dutzende von Personen und Polizisten wurden verletzt. Wer ist Isaias Afewerki, der Mann, an dessen Regime sich die Gewalt entzündet?
Dreissig Jahre Krieg
Wenige Länder sind so eng mit der Biografie einer Person verbunden wie Eritrea. Als Isaias Afewerki 1946 geboren wurde, stand Eritrea unter britischer Verwaltung. Die Briten hatten während des Zweiten Weltkriegs Italien besiegt, dessen Kolonie Eritrea bis dahin gewesen war. 1950 bugsierte die Uno Eritrea in eine Föderation mit dem Nachbarn Äthiopien, der Ruf vieler Eritreerinnen und Eritreer nach einem Unabhängigkeitsreferendum fand kein Gehör. Ende der 1950er Jahre gründeten Studenten und Intellektuelle die Eritreische Befreiungsfront. Aus deren Wunsch nach Unabhängigkeit wurde ein Krieg, der dreissig Jahre dauerte. Isaias Afewerki schloss sich der Guerilla 1966 an. Zuvor hatte er in Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba Ingenieurwissenschaft studiert, verliess die Universität aber nach einem Jahr. 1967 schickte ihn die Befreiungsfront zur militärischen Ausbildung ins kommunistische China, das die Eritreische Befreiungsfront unterstützte. Es war das China von Mao Zedong, der die Kulturrevolution gestartet hatte. Später hiess es, Afewerki habe sich bei Mao abgeschaut, wie man ein Volk unter totaler Kontrolle halte.
Zurück in Afrika, entwickelte sich Afewerki zum wichtigsten Anführer des Unabhängigkeitskampfes. Die Autorin Michela Wrong, die ein Buch über Eritreas Geschichte schrieb, nennt ihn eine «zielstrebige, getriebene Persönlichkeit, perfekt dafür geeignet, eine Guerillaorganisation zu führen». Der Kampf war lange und letztlich erfolgreich: 1991 nahmen mit den eritreischen Kämpfern verbündete äthiopische Kämpfer Addis Abeba ein und stürzten das dortige kommunistische Regime. 1993 stimmte eine überwältigende Mehrheit der Eritreerinnen und Eritreer in einem Referendum für die Unabhängigkeit. Teile der Diaspora, die während des langen Krieges geflohen waren, kehrten zurück. Viele hofften, das endlich von fremdem Joch befreite Eritrea würde eine Demokratie werden. Sie täuschten sich.
Die Wende kam 1998: Afewerki warf sein Land in einen Grenzkrieg mit Äthiopien, in dem es um ein Dorf ging, von dem zuvor kaum jemand gehört hatte, das aber beide Länder für sich beanspruchten. Der Krieg dauerte zwei Jahre, Zehntausende von Soldaten wurden getötet. Afewerki verlor den Krieg, konnte sich aber an der Macht halten. Seither lautet seine Rechtfertigung für die Art, wie er regiert: Eritrea wird ständig von fremden Mächten bedroht – und muss dafür gewappnet sein.
Der Journalist Martin Plaut, einer der besten Eritrea-Kenner, hat das Land als eine «Mischung aus Militärcamp und Spionagezentrum» beschrieben. Das wichtigste Element von Afewerkis Herrschaft ist der «Nationaldienst», der offiziell achtzehn Monate dauert, tatsächlich aber Jahre, manchmal Jahrzehnte. Eritreische Jugendliche müssen für ihr letztes Schuljahr in ein Militärlager einrücken, wo sie zu guten Patrioten und Soldaten ausgebildet werden sollen. Der Nationaldienst ist auch ein System der Zwangsarbeit: Soldatinnen und Soldaten arbeiten auf Feldern, bauen Strassen oder unterrichten als Lehrer – für umgerechnet wenige Franken pro Monat. Eritreerinnen haben erzählt, Vorgesetzte hätten sie im Dienst zu Sex gezwungen. Uno-Berichterstatter haben den Nationaldienst mit Sklaverei verglichen.
Der Nationaldienst ist der wichtigste Grund dafür, dass Hunderttausende von Eritreern das Land verlassen haben. Wer nicht bereits eingezogen wurde, muss stets damit rechnen, an einem der zahlreichen Checkpoints im Land kontrolliert und aufgegriffen zu werden. Wer sich im Land bewegen will, braucht Dokumente, die bescheinigen, dass er zum Reisen befugt ist. Leute, die vor dem Militärdienst zu fliehen versuchen, werden in den Dienst gezwungen, indem das Regime Verwandte festnimmt oder sie aus ihren Wohnungen wirft. Spitzel in fast jedem Ort des Landes liefern Informationen und halten die Angst in der Bevölkerung aufrecht.
Gefangene in Schiffscontainern
Den Dienstleistenden ergeht es noch relativ gut im Vergleich zu Oppositionellen, Dienstverweigerern oder an der Grenze Aufgegriffenen, die die eritreischen Gefängnisse bevölkern. Niemand weiss, wie viele es sind, doch über die Haftbedingungen ist dank den Berichten von Menschenrechtsorganisationen vieles bekannt: Manche Gefangene werden in Schiffscontainern gehalten, bei Temperaturen um die 40 Grad. Andere verbringen Monate in kompletter Dunkelheit in Untergrundzellen. Insassen werden mit Schlägen und Elektroschocks gefoltert.
Der Arm des Diktators beschränkt sich nicht nur auf Eritrea. Afewerki hat sich seit den 1990er Jahren in Nachbarländer eingemischt. Dies meist mit dem Ziel, dort Instabilität zu fördern, die ihm hilft, die eigene Macht zu sichern. Er hat Kriege mit mehreren Nachbarländern ausgefochten und die islamistische Terrororganisation al-Shabab in Somalia unterstützt. Zuletzt schickte Afewerki seine Truppen nach Tigray, Äthiopiens nördlichster Provinz, in der zwischen November 2020 und November 2022 ein Krieg zwischen der äthiopischen Armee und einer abtrünnigen Regionalregierung stattfand. Wieder verloren Zehntausende von eritreischen Soldaten ihr Leben. Gleichzeitig machten Menschenrechtsorganisationen die eritreische Armee für einige der schlimmsten Greueltaten in dem Krieg verantwortlich, dem laut Schätzungen Hunderttausende von Menschen zum Opfer fielen. Eritreische Militärangehörige sollen wahllos Zivilisten massakriert und vergewaltigt haben.
Der Einfluss von Afewerkis Diktatur reicht aber weit über Ostafrika hinaus. Kaum ein Regime weltweit greift so stark in die Geschicke seiner Diaspora ein wie das eritreische. Sein wichtigstes Instrument sind die Botschaften und Konsulate. Diese treiben eine Einkommenssteuer von zwei Prozent ein. Wer die Steuer nicht bezahlt, kann zum Beispiel keinen neuen Pass beantragen oder Erbangelegenheiten in Eritrea regeln. Die Diaspora ist so eine der wichtigsten Einnahmequellen für Afewerkis Regime.