Beitrag vom 10.09.2023
FAS
Honeckers Experiment
1982 zogen 900 Kinder aus Mosambik in die Kleinstadt Staßfurt in der DDR. Es war ein einzigartiges und folgenreiches Experiment.
Von Stefan Locke
Am ersten Septembersonntag sitzt Paulino Miguel auf einer Bühne in Berlin. Der Bundestag hat zum Tag der offenen Tür geladen und stellt Pläne vor. Einer handelt von einem Migrationsmuseum, das in Köln entstehen wird. Das Haus soll vielen Menschen Anknüpfungspunkte für ihre eigene Geschichte geben, sagt die Vizepräsidentin des Parlaments, Aydan Özoguz. Ausdrücklich weist sie darauf hin, dass Deutschland historisch gesehen zwei Migrationsgeschichten hat: die der Gastarbeiter, die vor allem aus Italien und der Türkei in die Bundesrepublik kamen, und die der Vertragsarbeiter, die meist aus Algerien, Angola, Kuba, Mosambik und Vietnam in der DDR arbeiteten.
Paulino Miguel ist einer dieser Vertragsarbeiter, aber seine Geschichte ist eine ganz besondere: Er kam bereits als Schüler in die DDR, zusammen mit 900 anderen Kindern aus Mosambik. Es war ein einzigartiges Experiment. Quasi von heute auf morgen landeten die Kinder 1982 in der 25.000-Einwohner-Stadt Staßfurt, gelegen auf halben Weg zwischen Magdeburg und Halle, und wussten gar nicht, wie ihnen geschieht. Die Regierungen Mosambiks und der DDR hatten das so vereinbart, aber weder die Eltern in Mosambik gefragt noch die Menschen in Staßfurt darüber informiert. Bis heute gibt es über die „Schule der Freundschaft“, so der offizielle Name, Spekulationen.
„Ich hatte keine Vorstellung, was das ist: die DDR, Europa“
„Ich bin doch kein Projekt, ich bin ein Mensch“, habe einer seiner damaligen Mitschüler gesagt, als sich einige von ihnen 2022 anlässlich der Schulgründung vor vierzig Jahren trafen. „Genauso ist es“, sagt auch Miguel. Er ist inzwischen 52 Jahre alt, lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Heidelberg und will die Erinnerung an die Schule wachhalten. Für ihn beginnt die Geschichte im Frühsommer 1982, er ist zehn Jahre alt und hat gerade die 4. Klasse einer Dorfschule beendet. Die meisten Kinder gehen danach ab, helfen in der Landwirtschaft mit, nur die wenigsten bekommen einen Platz auf einer weiterführenden Schule im Land. Miguel rechnet als einer der besten Schüler fest damit – aber die Schule ruft seinen Namen nicht aus. „Ich war schon den Tränen nahe, da hebt einer der Lehrer einen Zettel“, erzählt er. Darauf stand: Berlin, DDR. „Dort gehst du hin“, sagt der Mann.
Jetzt weint Miguel tatsächlich. „Ich hatte keine Vorstellung, was das ist: die DDR, Europa.“ Seine Eltern sind ebenso überrascht, sein Vater jedoch rät ihm: „Wenn du ausgewählt bist, gib dein Bestes.“ Erst später erfährt Miguel die Dimension des Projekts: Aus jeder der zehn Provinzen des Landes hat die Regierung 90 Schüler ausgewählt, um für vier Jahre in der DDR eine Schule zu besuchen und anschließend einen Beruf zu erlernen. Zwei Jahre zuvor, im Herbst 1980, hatten Mosambik und die DDR das Projekt vereinbart. Mosambik, das sich erst wenige Jahre zuvor von der Kolonialmacht Portugal befreit hat und eines der ärmsten Länder der Welt ist, braucht Entwicklungshilfe, die DDR wiederum Rohstoffe. Zudem hofft die SED, durch landwirtschaftliche Großprojekte in Afrika Importe aus dem NSW, dem nicht sozialistischen Wirtschaftsgebiet, senken und Devisen sparen zu können.
Binnen anderthalb Jahren lässt die SED am Rande von Staßfurt einen Campus aus dem Boden stampfen. Vier Neubaublöcke mit je sechs Etagen als Internate für Schüler und Lehrer, eine Schule samt Turnhalle und Speisesaal mit Großküche. Staßfurt eignet sich, weil es in der Region viel Industrie sowie Ausbildungsbetriebe gibt. 1981 notiert das SED-Blatt „Neues Deutschland“ anlässlich der Grundsteinlegung: „Kurt Ranke, Vorsitzender des Rates des Bezirkes Magdeburg, widmete die drei traditionellen Hammerschläge dem Frieden, der antiimperialistischen Solidarität und der Freundschaft zwischen der DDR und dem ostafrikanischen Land.“ 32 Millionen DDR-Mark, die aus „Solidaritätsbeiträgen“, also obligatorischen Spenden der DDR-Bevölkerung stammen, kostet der Bau für das in jeder Hinsicht in der DDR-Geschichte einzigartige Projekt.
Paulino Miguel kommt am 13. August 1982 in Staßfurt an und ist erst mal überfordert. „In meiner Heimat waren Weiße die Feinde, die meine Eltern gedemütigt haben“, erzählt er. In Staßfurt aber geben sie ihm Essen, Obdach, Kleidung. „Es gab auf einmal mehr zum Anziehen als in den zehn Jahren davor.“ Besonders beeindrucken ihn die Schuhe. „Ich hatte zuvor nie welche. Und jetzt gleich fünf Paar: Halbschuhe, Winterschuhe, Sandalen, Sport- und Hausschuhe.“
Neuland – auch für die Lehrer
Die Genossen überlassen nichts dem Zufall, die „Schule der Freundschaft“ untersteht direkt dem Volksbildungsministerium von Margot Honecker und ist generalstabsmäßig organisiert. Es gibt dreißig Klassen mit je dreißig Schülern, jeweils 24 Jungen und sechs Mädchen. Stadt- und Landkinder werden gemischt, was die Einheit des Landes fördern soll. Zu jeder Klasse gehören ein Klassenlehrer sowie drei Erzieher, davon einer aus Mosambik. Sie gehören zur Befreiungsfront Frelimo, die das Land nach der Unabhängigkeit sozialistisch entwickeln will. Ihre Forderung an die Schule lautet, „bewusste, den Ideen des Sozialismus und der Politik der Frelimo-Partei treu ergebene junge Staatsbürger“ auszubilden. „Aus uns sollten neue Menschen werden“, sagt Miguel.
Im September 1982 beginnt der Unterricht. Auch für die meisten Lehrer ist das absolutes Neuland. Die Kinder seien „superdiszipliniert“ gewesen, erinnert sich Uta Kruse. Sie ist Biologie- und Chemielehrerin und hat als eine von wenigen Erfahrung im Ausland gesammelt. Drei Jahre hat sie für ein DDR-Entwicklungshilfeprojekt in Mosambik an einer Landschule unterrichtet. Sie kennt Kultur und Mentalität, vor allem aber kann sie Portugiesisch und ist auch als Dolmetscherin und Trösterin sehr gefragt. „Wir Lehrer waren natürlich kein Elternersatz, aber wir haben versucht, Empathie zu entwickeln, den Kindern auch Liebe zu geben.“ Bei Heimweh, Schul- oder Alltagsproblemen kommen sie oft zu ihr, auch nach der Schule.
Die Kinder lernen zunächst Deutsch und Portugiesisch, viele können nur eine der zwanzig verschiedenen Regionalsprachen, die es daheim gibt. Die Fächer in Staßfurt sind auf Deutsch, nur mosambikanische Landeskunde und politische Erziehung geben mitgereiste Lehrer auf Portugiesisch. Honeckers Ministerium hat eigene Lehrbücher drucken lassen, die etwa in Biologie, Geographie und Geschichte die Verhältnisse Mosambiks berücksichtigen. „Der Unterricht war gut“, sagt Paulino Miguel, obwohl sie vierzig Schulstunden pro Woche haben, von Montag bis Samstag. „Was ich am meisten vermisst habe, war, sich mal zurückziehen können, allein ein Buch lesen.“ Die Schüler wohnen je zu viert in kleinen Zimmern und sind ständig zusammen.
Die Staßfurter sehen die Mosambikaner stets in Gruppen durch die Stadt laufen. Das Projekt ist ihnen nicht verborgen geblieben, aber der Campus ist eingezäunt, Zutritt verboten. „Wir haben sehr für einen Tag der offenen Tür plädiert“, erzählt Herbert Hofmann, der damals als Erzieher arbeitet und mit Frau und Tochter auf dem Campus lebt. „Das wurde alles abgelehnt, so schossen die Gerüchte ins Kraut.“ Es gebe Südfrüchte, Westgeld, Kino und Schwimmbad, wird in der Stadt erzählt. „Nichts davon stimmte“, sagt Hofmann. „Aber die Leute konnten sich nicht selbst überzeugen.“ So kam schnell Neid auf.
Mit der Patenfamilie in den Urlaub
„Die Geheimniskrämerei war kontraproduktiv“, sagt auch Uta Kruse, die außerhalb des Campus lebte. Ihren sehr interessierten Nachbarn steht sie oft beim Kaffee Rede und Antwort, auf der Straße wird ihr auch mal „Negerschlampe“ hinterhergerufen. „Aber es war nicht die Regel“, sagt sie. Miguel erinnert sich, dass Staßfurter Kinder Spielzeug über den Zaun warfen. „Sie wollten mit uns spielen, aber das war nicht vorgesehen.“ Als jedoch für die Schüler Patenfamilien für Weihnachten oder Sonntagsausflüge gesucht werden, kommen alle unter. Manche Familie nimmt „ihre“ Mosambikaner sogar mit in den Urlaub. An die Vorgabe, zu Feiertagen nur kleine Geschenke zu machen, um Konflikte zu vermeiden, halten sich nicht alle. „Manche wollten sich nicht lumpen lassen“, erzählt Hofmann. „Der erste Sekretär der SED-Bezirksleitung hat ‚seinen‘ beiden Kindern je ein Fahrrad geschenkt, da war vielleicht was los!“
Großen Ärger gibt es erstmals 1986, als nach dem Abschluss der 8. Klasse die Lehrberufe verteilt werden. „Wir hatten keine Wahl“, erzählt Miguel. „Ich hätte gerne Agrotechniker gelernt, musste aber Instandhaltungsmechaniker werden.“ Die 900 Schüler werden auf 37 Lehrberufe vornehmlich im Raum Staßfurt, aber auch in alle Bezirke der DDR verteilt. Mosambik fordert Fachleute aus allen Branchen, doch erzürnt sind vor allem jene, die Koch und Kellner lernen sollen. „Das galt bei uns nicht als Beruf“, sagt Miguel. Aber die Regierung will auch Hotels errichten, die Schüler müssen sich fügen. Nicht gut zu sprechen sind sie auch auf die obligatorischen Arbeitseinsätze in der Landwirtschaft, wo sie bei der Apfelernte helfen oder Kartoffeln auslesen müssen. „Einmal haben wir gestreikt“, erinnert sich Miguel. „Die deutschen Schüler kriegten dafür Geld, wir nur Kekse und Limo.“
Doch sie können sich nun relativ frei bewegen, für ihr Lehrlingsentgelt einkaufen oder samstags zur Disco gehen. Sie rebellieren gegen das strikte Internatsregime und kosten ihre Jugend aus. Wer allerdings schwanger wird, muss zurück nach Mosambik. Das trifft 28 junge Frauen, aber nur sechs Männer, weil sie meist ihre Vaterschaft bestreiten. Es kommt zu Liaisons mit einheimischen Mädchen, die nachts über den Zaun zu den Schülern steigen. Und zu Schlägereien mit Deutschen wegen dieser Mädchen. Im September 1987 eskaliert ein Streit zwischen Deutschen und Mosambikanern, am Ende liegt Carlos Conceição, ein 18 Jahre alter Schüler, der nach Aussage vieler Beteiligter lediglich schlichten wollte, von einer Brücke gestoßen tot im Fluss. Einige Mosambikaner fordern Rache; Polizei, Stasi und Botschaft haben alle Hände voll zu tun. In der Schule, die sie neben der Lehre samstags weiter besuchen, ist nur von einem „unglücklichen Umstand“ die Rede, erzählt Miguel. „Ansonsten wurde öffentlich nicht darüber gesprochen.“
Und die Stimmung wird noch schlechter, als sie bemerken, dass ihnen oft wichtige Informationen aus ihrem Heimatland vorenthalten werden. Paulino Miguel etwa erfährt vom Tod seiner Eltern erst Jahre später. Auch dass Mosambik im Bürgerkrieg versinkt, nachdem Präsident Samora Machel 1986 bei einem Flugzeugabsturz gestorben ist, erfahren sie nicht. Als sie 1988 mit Schulzeugnis und Facharbeiterbrief zurück in ihr Heimatland kommen, werden fast alle Männer direkt zur Armee eingezogen. Ihre Abschlüsse werden nicht anerkannt, das Versprechen und die Hoffnung, am Aufbau einer neuen Gesellschaft mitwirken zu können, sind dahin. „Mosambik wollte nichts mehr von uns wissen“, sagt Miguel. Im Frühjahr 1989 geht er als Vertragsarbeiter zurück in die DDR. Er ist nicht der Einzige. Und die Regierung ihres Heimatlandes verdient gut an ihnen, weil die DDR sechzig Prozent des Lohns direkt nach Mosambik überweist.
Rund 100 Absolventen leben noch in Deutschland
Gut ein Jahr später ist die DDR Geschichte, die Bundesrepublik will Miguel zurück nach Mosambik schicken. „Das wollte ich auf keinen Fall“, sagt der. Also schlägt er sich durch in den harten Jahren des Umbruchs, arbeitet bei Umzugsfirmen, im Kranbau, als Stahlbauschlosser bei BASF. „Der DDR-Facharbeiterbrief war Gold wert“, erzählt er. Im Westen haben Migranten oft keine Ausbildung. Mit seinen Jobs finanziert er Abitur und Studium, heiratet, wird Vater und arbeitet heute in Stuttgart mit Migranten.
Im vergangenen Jahr haben sich Absolventen der „Schule der Freundschaft“ wieder in Staßfurt getroffen. Rund 100 von ihnen leben heute in Deutschland, sie arbeiten als Gymnasiallehrer, Designer, Erzieher. In die Schule kamen Ende der Achtzigerjahre noch 400 Kinder aus Namibia, danach wurde sie aufgelöst. „Die Schule war eine Chance, von der viele Kinder aus meiner Heimat nur träumen konnten“, sagt Paulino Miguel. Zugleich erinnere er sich an Angst, Hilflosigkeit und Entwurzelung. All diese Facetten sollen auch in das Migrationsmuseum einfließen, sagt er: „Dieses Kapitel DDR-deutsch-mosambikanischer Geschichte darf nicht vergessen werden.“