Beitrag vom 07.09.2023
NZZ
Neun Militärputsche in drei Jahren
In Afrika finden immer wieder Staatsstreiche statt – die Ursachen sind je nach Land verschieden
Samuel Misteli, Nairobi
Im Juli war Niger an der Reihe, wenige Wochen später Gabon. In Afrika fallen die Regierungen wie Dominosteine. Seit 2020 haben Militärs in sieben Ländern erfolgreich geputscht, in Mali und Burkina Faso taten sie es sogar je zweimal. Uno-Generalsekretär António Guterres hat die Vorgänge als «Epidemie von Putschen» bezeichnet – er sagte das lange vor den beiden jüngsten Staatsstreichen.
Inzwischen stellt sich eher die Frage, wann die nächste Regierung stürzt – nicht ob. Mehrere Langzeitherrscher auf dem Kontinent sind offensichtlich nervös. Kameruns Präsident Paul Biya zum Beispiel, im Amt seit 1982, sortierte nach dem Putsch im Nachbarland Gabon wichtige Posten im Verteidigungsministerium neu.
In mehreren Ländern haben sich nach den Coups Jubelszenen auf den Strassen abgespielt. Laut Umfragedaten des panafrikanischen Meinungsforschungsinstituts Afrobarometer von Anfang Jahr sind nur 42 Prozent der Befragten in 20 afrikanischen Ländern der Meinung, das Militär dürfe in keinem Fall in die Politik eingreifen. 54 Prozent sind der Ansicht, Armeen dürften intervenieren, wenn gewählte Regierungen ihre Macht missbrauchten. Was bedeutet das für die Demokratie in Afrika? Und wie konnte es so weit kommen, dass viele Afrikanerinnen und Afrikaner Männer in Uniformen gewählten Politikern vorziehen?
Die Gründe: Wieso all die Coups?
Die Ursachen der Coups sind je nach Land verschieden: In den Sahelstaaten führte die Sicherheitskrise dazu, dass sich die Armeen und die zivilen Regierungen überwarfen; im Sudan wollte die Armee eine Demokratisierung stoppen, die ihre Machtposition gefährdete; in Guinea und Gabon entfernten Militärs unbeliebte Präsidenten, die sich mit fragwürdigen Wahlen und Referenden an der Macht hielten.
Es gibt aber zwei wichtige Erklärungen für die Häufung von Putschen: Erstens glauben die Putschisten, Regierungen ungestraft entfernen zu können. Zweitens profitieren die Putschisten davon, dass grosse Teile der Bevölkerung wütend auf eine politische Elite sind, die sie für selbstherrlich und unfähig halten.
Coups führen zu mehr Coups.
Je länger die Liste der Länder wird, in denen
Militärs erfolgreich putschen, desto eher glauben mögliche Nachahmer, dass
auch sie erfolgreich sein können. Dass die Putschisten so erfolgreich
sind, liegt unter anderem daran, dass der internationale Druck nicht
ausgereicht hat, um sie dazu zu bewegen, die Macht so rasch als möglich
wieder abzugeben. Malis Putschführer Assimi Goïta führt das Land seit mehr
als zwei Jahren. Nach dem Putsch in Niger reagierte das Ausland
energischer. Die Regionalorganisation Ecowas drohte mit einer
Militärinvasion. Dass sie diese tatsächlich durchführt, ist aber
unwahrscheinlich. Leere Drohungen lassen das Ausland noch ohnmächtiger
erscheinen.
Wut auf die Elite.
Die Putschisten werden dadurch bestärkt, dass sie in den meisten Ländern
grosse Unterstützung aus der Bevölkerung erhalten. Diese rührt daher, dass
die Bevölkerung in vielen afrikanischen Ländern genug hat von zivilen
Regierungen, die alle paar Jahre vordergründig demokratische Wahlen
durchführen lassen, dazwischen aber mehr für sich selber und ihr Umfeld
sorgen als dafür, ihr Land aufzubauen. Die meisten gestürzten Regierungen
galten als korrupt oder bestenfalls als Scheindemokratien. Das gilt selbst
für Niger, dessen Regierung im Westen oft als Vorbild für die Region
dargestellt wurde. Tatsächlich war auch sie 2021 in einer fragwürdigen
Wahl an die Macht gekommen und erstickte oppositionelle Kritik. Viele
Afrikanerinnen und Afrikaner werfen den westlichen Partnern (und vor allem
Frankreich) vor, diese Regierungen unterstützt zu haben, weil sie ihren
Interessen dienten. Das ist ein wichtiger Grund dafür, dass die
Putschisten sich ihre Beliebtheit sichern, indem sie Stimmung gegen den
Westen und insbesondere Frankreich machen.
Rückblick: Eine frühere Welle
Die gegenwärtige Welle von Coups in Afrika ist nicht so ungewöhnlich, wie sie erscheint. Die meisten afrikanischen Länder wurden um 1960 unabhängig. In den folgenden Jahrzehnten kam es zu zahlreichen Coups: Bis 2000 waren es durchschnittlich vier Putschversuche pro Jahr. Nigeria allein, das bevölkerungsreichste afrikanische Land, erlebte fünf Coups und wurde von 1966 bis 1999 fast ununterbrochen von Militärs regiert.
Die Putsche nach der Unabhängigkeit waren so zahlreich, weil die Regierungen in den meisten Ländern enttäuschten. Viele Afrikanerinnen und Afrikaner hatten grosse Hoffnungen, dass ihre Länder befreit vom Joch des Kolonialismus endlich Wohlstand schaffen würden. Das geschah nicht oder nur sehr langsam, was unter anderem daran lag, dass sich viele der jungen Regierungen als unfähig oder korrupt erwiesen. Die Coups wurden auch dadurch begünstigt, dass die staatlichen Institutionen schwach waren und es wenig Mechanismen gab, die Interventionen durch das Militär hätten stoppen können.
Die erste Welle von Coups ging um 1990 stark zurück. Mit dem Ende des Kalten Krieges kam stattdessen eine Welle der Demokratisierung. In vielen Ländern fanden kompetitive Wahlen statt. Wenige Afrikanerinnen und Afrikaner trauerten den Militärführern nach, denn diese hatten sich als noch unfähiger – und gewalttätiger – als die zivilen Regierungen erwiesen. Auch sie hatten nicht mehr Wohlstand geschaffen – und waren häufig nicht weniger korrupt.
In den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts sank die Zahl der Coups in Afrika stark. Die Entwicklung wurde auch dadurch begünstigt, dass die Afrikanische Union und die Ecowas Abschreckungsmassnahmen gegen Coups erliessen. Regierungen, die durch Putsche an die Macht kamen, wurden gezwungen, strikte Zeitpläne für die Rückkehr zu ziviler Herrschaft zu entwerfen. In den vergangenen Jahren hat das Pendel zurückgeschlagen: Die Putsche häufen sich, weil zivile Regierungen abermals enttäuschen und manche Staaten noch immer zu schwach sind, um militärische Interventionen zu verhindern.
Fazit: Ein Zyklus, der bald endet?
Die gegenwärtige Welle von Coups in Afrika ist beunruhigend, und es könnte noch schlimmer kommen. Es gibt zahlreiche Staaten in Afrika, in denen unbeliebte und undemokratische Präsidenten auf wackligem Fundament regieren. Es ist kein Zufall, dass Kameruns 90-jähriger Präsident Paul Biya, der üblicherweise wenig Enthusiasmus für die Staatsgeschäfte zeigt, nach dem Putsch in Gabon in Aktivismus verfiel und sein Verteidigungsministerium neu aufstellte.
Wenige trauern den gefallenen Präsidenten nach. Das Problem ist aber, dass die Militärs in den meisten Fällen noch schlechtere Staatslenker sind als die gestürzten zivilen Regierungen. Das zeigt sich etwa im Sahel. In Mali hat es die Militärregierung in zwei Jahren nicht geschafft, die Sicherheitslage zu verbessern. Die Zahl der im Konflikt Getöteten ist gestiegen, die jihadistischen Gruppen haben ihr Einflussgebiet ausgeweitet. Zudem bricht im Norden des Landes ein Konflikt mit separatistischen Tuareg-Gruppen neu auf. Im Sudan hat das Militär das Land in einen Bürgerkrieg gestürzt, der mehrere Millionen Menschen vertrieben hat.
Man könnte aufgrund der Jubelszenen nach den Coups und der Umfragen, die auf Toleranz für Militärinterventionen hinweisen, davon ausgehen, dass Afrikanerinnen und Afrikaner genug haben von Demokratie. Tatsächlich zeigen Umfragen (wiederum vom angesehenen Meinungsforschungsinstitut Afrobarometer) konstant, dass sich eine grosse Mehrheit in Afrika die Demokratie als Staatsform wünscht. Die Umfragen zeigen aber auch, dass eine (wachsende) Mehrheit unzufrieden damit ist, wie Demokratie in ihren Ländern funktioniert. Man kann die Unterstützung für die Putsche deshalb so verstehen, dass die meisten Afrikanerinnen und Afrikaner genug haben von Scheindemokratien – zum Beispiel von Wahlen, in denen die Sieger zum Vorneherein feststehen.
Es ist wahrscheinlich, dass die gegenwärtige Welle an Coups ein historischer Zyklus ist, der enden wird. Vermutlich wird er nicht Jahrzehnte dauern, wie die Coup-Welle nach 1960. Viele der Demonstranten, die gerade den Putschisten zujubeln, sind so jung, dass sie die früheren Putschregierungen nicht erlebt haben. Sie werden sehen, dass diese keinen Fortschritt bringen.
Die grosse Frage ist, ob es den zivilen Regierungen bei der nächsten Chance gelingt, einen besseren Job zu machen. So zu regieren, dass ihre Politik das ganze Land begünstigt, nicht nur ihr Umfeld. Es gibt zivilgesellschaftliche Bewegungen in vielen afrikanischen Ländern, die fähige Politiker hervorbringen können.
Es gibt auch weiterhin eine Rolle für den Westen, den die gegenwärtige Welle von Coups gerade aus Teilen Afrikas zu vertreiben scheint. Es wird möglicherweise eine bescheidenere Rolle sein, die den Wunsch nach Selbstbestimmung und die öffentliche Meinung in afrikanischen Ländern respektiert. Die bisherige Politik, Scheinwahlen zu akzeptieren, wenn diese genehme Präsidenten an der Macht hielten, hat sich als kurzsichtig erwiesen. Sie fördert mittelfristig die Instabilität – und die Coups.