Beitrag vom 27.03.2023
FAZ
Der lange Schatten der Sklaverei
Hat der Reichtum aus der Sklavenhaltung die industrielle Revolution in Großbritannien beschleunigt? Neue Daten deuten darauf hin.
Von Hans-Joachim Voth
Baute die industrielle Revolution auf dem Blut, Schweiß, der harten Arbeit und dem tausendfachen Tod ausgebeuteter Sklaven auf? Europäer versklavten nach der Entdeckung Amerikas Millionen Menschen aus dem afrikanischen Kontinent. Die Überlebenden der transatlantischen Überfahrt wurden gezwungen, auf Zucker-, Tabak-, Baumwoll- und Kaffeeplantagen in der Karibik und Nord- und Südamerika zu arbeiten. Dabei gewannen die Europäer immense Reichtümer, entweder aus dem Sklavenhandel selbst, der Plantagenproduktion oder dem weiteren Dreieckshandel zwischen Europa, Afrika und Amerika. Der Wohlstand in Europa begann just während des Jahrhunderts zu steigen, als der Sklavenhandel und die Kolonialsklaverei in europäischen Kolonien ihre größte Ausprägung erreichten. Trug der aus der Sklaverei gewonnene Reichtum zum Wachstum und zur wirtschaftlichen Entwicklung des modernen Europas bei? Wenn dem so wäre, würde das Argument gestärkt, Reparationen für die Sklaverei zu zahlen.
Die Idee, dass Sklaverei und der Handel mit versklavten Menschen die industrielle Revolution angestoßen haben, ist fast so alt wie die Wirtschaftswissenschaft selbst. Adam Smith sah Sklaverei als grundsätzlich ineffizient an und glaubte, dass die britischen Zuckerinseln eher die Ressourcen des Mutterlandes aussaugten. Karl Marx hingegen argumentierte in seinem Buch „Das Kapital“ im Jahr 1867, dass der moderne industrielle Kapitalismus auf der Kapitalakkumulation aufbaute, den die Sklaverei erst ermöglichte: „Ueberhaupt bedurfte die verhüllte Sklaverei der Lohnarbeiter in Europa zum Piedestal [Sockel] die Sklaverei sans phrase [ohne Hülle] in der neuen Welt.“
Entschädigt wurden die Sklavenhalter, nicht die Sklaven
Wirtschaftshistoriker haben dieses Thema schon leidenschaftlich diskutiert. Einige Wissenschaftler argumentieren, dass Großbritannien durch den Dreieckshandel immense Reichtümer anhäufte und diese Reichtümer dazu nutzte, seine industrielle Revolution zu finanzieren. Im Gegensatz dazu argumentiert eine andere Forschungsrichtung, dass die Gewinne aus dem Sklavenhandel nicht höher waren als in anderen Geschäftsbereichen und dass absolute Gewinne aus dem Sklavenhandel im Vergleich zur Größe der britischen Wirtschaft relativ gering waren – die Sklaverei spielte somit nur eine relativ geringe Rolle bei der industriellen Entwicklung Großbritanniens.
Bis jetzt haben die meisten Analysen auf nationaler Ebene stattgefunden. In einer neuen Forschungsarbeit analysieren Steve Redding, Stephan Heblich und ich geographisch disaggregierte Daten. Wir nutzen dafür neue Informationen zur Geographie der Sklavenhaltung in England und zur wirtschaftlichen Entwicklung sowie eine neue Quelle exogener Variationen des Sklavenreichtums. Großbritannien schaffte per Gesetz die Sklaverei im Jahr 1833 ab. Dabei wurden Kompensationszahlungen in Höhe von 20 Millionen Pfund an bestehende Sklavenhalter vereinbart. Diese Kompensationszahlungen waren beträchtlich; sie entsprachen 40 Prozent des Staatshaushalts und 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). In heutigem Geld entspräche dies 2 Milliarden Pfund (kaufkraftbereinigt) bis 109 Milliarden (Anteil am BIP).
Wir verwenden individuelle Daten über die Kompensationszahlungen an mehr als 25.000 Sklavenhalter, die Historiker am University College London zusammengetragen haben. Damit können wir direkt den Sklavenreichtum jedes Sklavenhalters erfassen und diese Sklavenhalter geographisch lokalisieren. Wir kombinieren dieses Maß an Sklavenhalterreichtum aus den Forderungen nach Entschädigung mit detaillierten Informationen über Bevölkerung, Beschäftigungsstruktur und Immobilienwerte an verschiedenen Orten in Großbritannien.
Über ganz Großbritannien hinweg besteht ein starker Zusammenhang zwischen industrieller Aktivität und dem Reichtum aus der Sklaverei zur Zeit ihrer Abschaffung. Die Karte (oben) zeigt die Ansprüche auf Sklavenentschädigungen in den verschiedenen Regionen Großbritanniens. Je größer die blauen Kreise, umso höher die im Jahr 1833 gezahlte Entschädigung an Sklavenhalter an einem Ort. Wir finden die größten Anhäufungen an Reichtum aus der Sklaverei in den Gebieten um die drei Häfen, die am meisten in den Sklavenhandel und in die Produkte der Sklavenwirtschaft (insbesondere Zucker, Tabak, Kaffee und Baumwolle) verwickelt waren: Liverpool im Nordwesten, Bristol im Südwesten und London im Südosten. Aber Sklavereivermögen findet sich in weiten Teilen Englands und Wales, vor allem in Küstengebieten und in den wichtigsten Ballungszentren.
Die vorangegangene Grafik zeigt den Anteil der Beschäftigung in der Industrie in den verschiedenen Regionen Englands im Jahr 1831. Damals betrug der Anteil der industriellen Beschäftigung in England und Wales ungefähr 42 Prozent. Die Landwirtschaft beschäftigte immer noch ungefähr 27 Prozent der Bevölkerung. Dabei gibt es erhebliche Unterschiede zwischen einzelnen Regionen. Dabei zeigt sich ein klarer Zusammenhang: Überall dort, wo die örtliche Bevölkerung mehr Sklaven (in Übersee) besessen hat, war der Anteil der industriellen Beschäftigung höher und der der Landwirtschaft geringer. Auch andere Gradmesser industrieller Entwicklung lassen sich gut durch unseren Indikator für Sklavenreichtum vorhersagen. So finden wir mehr Dampfmaschinen und eine höhere Anzahl von Textilbetrieben überall dort, wo mehr Sklavenhalter residierten.
Diese Beziehung zwischen wirtschaftlicher Aktivität und Sklavenhaltertum entwickelt sich erst in der Zeit von 1640 an, als der transatlantische Sklavenhandel an Fahrt gewann. Vor der industriellen Revolution gibt es keinen Zusammenhang von Sklavenhalterei und wirtschaftlichem Erfolg – es sieht nicht so aus, als ob gewisse Regionen schon immer reich waren und dann dort mehr Sklavereireichtum angehäuft wurde.
Viele Sklavenhändler wurden letztendlich selbst Sklavenhalter und investierten ihr Vermögen in westindische Plantagen. Wir nutzen diesen Umstand, um nachzuweisen, dass die Korrelation zwischen Wirtschaftstätigkeit und Sklavenhaltertum tatsächlich kausal ist. Im Zeitalter der Segelschiffe beeinflussten Wind und Wetter die Dauer der transatlantischen Reisen stark. Die beengten und unmenschlichen Bedingungen auf den Sklavenschiffen führten zu hohen Sterblichkeitsraten – und je länger die Reise dauerte, umso höher war die Sterblichkeit. Hohe Mortalität minderte die Gewinne der Sklavenhändler und machte ihre weitere Beteiligung am Handel unwahrscheinlicher. Daher reduzierten ungünstige Wetterschocks den Reichtum und führten dazu, dass Händler aufgaben. Wir durchsuchen die Familienstammbäume der Sklavenhändler, um herauszufinden, aus welchen Orten sie und ihre Vorfahren stammen – und wohin sie häufig später zurückkehren. An genau diesen Orten finden wir dann, im Jahr 1833, viel häufigere Sklavenhalterei.
Kapital für den britischen Industriesektor
Um die Bedeutung dieser Ergebnisse zu beurteilen, kombinieren wir diese empirischen Schätzungen mit einem Modell der räumlichen Verteilung der wirtschaftlichen Aktivität in verschiedenen Branchen und Orten innerhalb Großbritanniens. Sklavereivermögen erleichtert die inländische Kapitalakkumulation, was wiederum eine Expansion des kapitalintensiven inländischen Industriesektors und einen Rückgang des landwirtschaftlich intensiven Sektors hervorruft. Einige Standorte profitierten enorm: Orte mit den höchsten Sklavenhaltervermögen sahen einen Anstieg des Gesamteinkommens von mehr als 40 Prozent, eine Bevölkerungszunahme um 6,5 Prozent, einen Anstieg des Einkommens der Kapitalisten um mehr als 100 Prozent und einen Rückgang des Einkommens von Grundbesitzern um knapp 7 Prozent.
Auf aggregierter Ebene finden wir mindestens einen Anstieg des Nationaleinkommens um 3,5 Prozent. Das entspricht auch ungefähr einem Jahrzehnt des Wirtschaftswachstums zu dieser Zeit. Kapitalbesitzer waren die größten Nutznießer mit einem Anstieg ihres aggregierten Einkommens um 11 Prozent, sowohl wegen der direkten Einkommen aus Investitionen in koloniale Plantagen als auch wegen der induzierten Expansionen inländischer Investitionen. Bodenbesitzer erleben kleine aggregierte Einkommensverluste von knapp unter einem Prozent aufgrund der Umverteilung der Arbeit weg von der Landwirtschaft. Die erwartete Arbeiterwohlfahrt steigt durch die erheblichen Lohnsteigerungen an Sklavenhalterorten und die Umverteilung der wirtschaftlichen Aktivitäten in Richtung dieser Orte um 3 Prozent.
Insgesamt legen unsere Ergebnisse zwei wichtige Schlussfolgerungen nahe. Erstens hatte die Beteiligung am Sklavenhandel und der daraus entstandene Reichtum einen wichtigen Einfluss auf die Geographie der wirtschaftlichen Entwicklung während der britischen industriellen Revolution. Die plötzliche Neuordnung der Wirtschaftsgeographie Englands nach 1750 galt lange als rätselhaft. Unsere Evidenz bietet eine Erklärung dafür, warum einige Orte sich plötzlich wirtschaftlich entwickelten, während andere zurückfielen. Zweitens deuten unsere Ergebnisse stark darauf hin, dass „Marx recht hatte“ – der Reichtum aus der Sklaverei beschleunigte in der Tat die industrielle Revolution in Großbritannien.
Hans-Joachim Voth ist UBS Stiftungsprofessor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Zürich.