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Beitrag vom 28.11.2022

SZ

Europas letzte Hoffnung im Sahel

Von Paul Munzinger

Nach Frankreich beschließt auch Deutschland den Abzug aus Mali. Einen Neuanfang soll es in Niger geben, das als „Stabilitätsanker“ in der Region gilt. Doch was heißt stabil – angesichts von Klimawandel, Terror und Ukraine-Krieg?

Niamey/Ouallam/Maradi – Mit leichtem Fieber fing es an, erzählt die junge Frau. Sie sitzt auf der Kante eines Bettes im Krankenhaus von Ouallam im Westen Nigers, auf dem Arm ihre Tochter. Sie ist zwei Jahre alt und heißt Hapsatou. Als sie Fieber bekam, brachte ihre Mutter sie ins nächste Krankenhaus. Die Ärzte gaben ihr Proteinkekse, eine Art Erste Hilfe für unterernährte Kinder. Doch Hapsatous Zustand wurde schlechter. Das Fieber stieg, der Bauch schwoll an. Also schickten die Ärzte Mutter und Kind nach Ouallam, wo Notfälle aus der Region versorgt werden.

Einen Krankenwagen gab es nicht. Zu gefährlich. Ouallam liegt in der Region Tillabéri, an der Grenze zu Burkina Faso und Mali. Nirgendwo in Niger schlagen die Islamisten öfter zu. Also machten Mutter und Kind sich allein auf den Weg. Sie fuhren mit dem Bus, übernachteten in einem Dorf auf dem Weg. Drei Wochen ist das her, Hapsatou geht es besser. Sie liegt in dem Raum für Kinder, die keine Notfälle mehr sind.

Hapsatou ist eins von 27 Kindern unter fünf Jahren, die im Oktober nach Ouallam kamen, weil sie stark unterernährt waren. Man kann das in einer Tabelle nachlesen, die in Klarsichthülle an einer Pinnwand hängt. Die Tabelle besteht nur aus Zahlen und erzählt doch viel darüber, wie es Niger gerade geht. 2018 kamen 490 Kinder, 2021 noch 256. Es ging bergab mit den Zahlen, bergab mit dem Hunger. Doch der Trend hat sich gedreht. Schon im Oktober haben sie die Zahlen des Vorjahres übertroffen.

Es ist kein gutes Jahr für Niger. Und dafür gibt es viele Gründe. Dürren, Überschwemmungen, Klimawandel, Terror. Und der Krieg in der Ukraine, der auch 4000 Kilometer entfernt Benzin und Getreide teurer macht, mit verheerenden Folgen für eines der ärmsten Länder der Erde. David Beasley, Chef des UN-Welternährungsprogramms, spricht von der „schlimmsten Hungerkatastrophe seit der Gründung der Vereinten Nationen“. Niger ist einer der Hauptbetroffenen.

Aus europäischer Sicht aber steht Niger am Ende des Jahres 2022 vor allem für die Hoffnung, die Sahelzone nicht sich selbst und dem russischen Einfluss überlassen zu müssen. Man könnte auch sagen: die letzte Hoffnung. Die Region südlich der Sahara versinkt immer tiefer in Chaos und Gewalt. Banditen treiben ihr Unwesen, Dschihadisten suchen Dörfer heim, töten Hunderte und vertreiben Hunderttausende. In Mali, im Tschad, in Burkina Faso putschte sich in den vergangenen zwei Jahren das Militär an die Macht. Mittendrin: Niger – das dem Sturm bislang erfolgreich trotzt.

Nach Frankreich und Großbritannien hat nun auch Deutschland beschlossen, seine Truppen aus Mali abzuziehen, 2024 soll es so weit sein. Doch die Region wollen die Europäer nicht verlassen. Es geht dabei auch um Wirtschaftsinteressen – die einstige Kolonialmacht Frankreich deckt einen großen Teil ihres Uranbedarfs in Niger – und um die Sorge, dass in Europa die Flüchtlingszahlen steigen und die Gefahr von Anschlägen wächst. 2023 will die EU eine militärische Ausbildungsmission nach Niger entsenden. Noch im Dezember könnte der Einsatz beschlossen werden.

Die Bundeswehr ist in Niger bisher mit der Ausbildungsmission „Gazelle“ vertreten, die als Erfolg gilt und der EU-Mission als Vorbild dienen könnte. Bei einem Besuch des Bundeskanzlers im Mai pries die Bundesregierung Niger als „Stabilitätsanker“. Doch wie stabil kann ein Land sein, das von so vielen Seiten bedrängt wird?

Eine Insel der Sicherheit ist Niger jedenfalls nicht. Terroristen und Banditen kommen seit Jahren aus Libyen, Nigeria oder Mali über die Grenze, längst laufen ihnen auch die einheimischen jungen Männer zu. Laut Global Terrorism Index starben 2021 in Niger 588 Menschen bei Anschlägen, zehnmal so viele wie 2018. Die meisten gehen auf das Konto des „Islamischen Staats in Westafrika“. Das Bundesverteidigungsministerium nennt die Sicherheitslage in Teilen des Landes „überwiegend nicht kontrollierbar“. Auch für Journalisten ist Niger gefährlich, die SZ-Recherche fand im Rahmen einer vom Welternährungsprogramm (WFP) der Vereinten Nationen organisierten Journalistenreise statt.

Auch in der Hauptstadt Niamey versuchte vergangenes Jahr das Militär, die Regierung zu stürzen. Der Unterschied zu Nigers Nachbarn: Es blieb beim Versuch. Und auch der ist aus Sicht von Fachleuten kein Beleg für einen Bruch zwischen Militär und Regierung. „Im Moment weist nichts darauf hin, dass die Regierung in Niger nicht die Unterstützung des Militärs hat“, sagt Lisa Tschörner, Sahel-Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik.

Zwei Tage nach dem vereitelten Putsch gelang Niger erstmals seit der Unabhängigkeit 1960 eine demokratische Machtübergabe. Mahamadou Issoufou trat nach zwei Amtszeiten als Präsident ab, zu seinem Nachfolger wurde Mohamed Bazoum gewählt. Lupenreine Demokraten sind beide eher nicht, doch wer mit westlichen Diplomaten oder UN-Vertretern spricht, hört fast nur Gutes über die Regierung.

Das liegt an Bazoums prowestlichem Kurs – und an seiner Agenda, die im Land durchaus auf Widerstand stößt: Die Regierung will etwas für die Schulbildung von Mädchen und gegen das rasante Bevölkerungswachstum tun. 6,8 Kinder bekommt eine Frau in Niger im Schnitt, nirgendwo sind es mehr. Geht es so weiter, wird sich die Bevölkerung bis 2040 verdoppeln – von aktuell 25 auf 50 Millionen.

Das Bevölkerungswachstum ist für Niger auch eine Frage der Sicherheit. Immer mehr Menschen konkurrieren um immer weniger Anbaufläche, der fruchtbare Streifen im Süden des Landes schrumpft. Beschleunigt vom Klimawandel dehnt sich die Wüste aus, nach WFP-Angaben verschlingt sie 100 000 Hektar Ackerland im Jahr. Und es wären noch mehr, würden sich die Menschen der Trockenheit nicht entgegenstemmen. So wie in Rafa.

Die Kräfte, die Niger erschüttern, erscheinen oft stärker als die Kräfte, die das Land stützen

In dem Dorf im Süden Nigers hat das WFP mit anderen Organisationen 2018 ein Projekt gestartet, um die rissigen Sandböden in Weiden und Felder zurückzuverwandeln. Die Menschen sollen wieder von ihrem Land leben können, statt woanders nach einem besseren Leben zu suchen. Der Schlüssel besteht darin, keinen Tropfen des seltenen Regens zu verschwenden. In Rafa speichern sie das Wasser in Löchern, die in regelmäßigen Abständen gegraben werden – die Technik heißt Zai – oder in Mulden, die wie Halbmonde geformt sind.

Es hat sich viel verändert, erzählt Hapsou Raky, eine 48-jährige Bäuerin, die im Schatten eines Baumes am Dorfrand steht. Der Wind fegt nicht mehr so durchs Dorf. Es gibt wieder Bäume und Büsche, in denen er sich verfängt. Die Kinder, sagt sie, werden seltener krank. Wilde Tiere sind zurückgekehrt, die Raky Jahre nicht gesehen hatte, Affen, Hasen, Schlangen. Und die Ernte ist besser geworden. So gut, dass Raky ihre Ziege nicht verkaufen musste und trotzdem über die Runden kam.

In ganz Niger hat das WFP nach eigenen Angaben fast 40 000 Hektar Ackerland allein in der ersten Hälfte dieses Jahres wiederbelebt. Das ist mehr als die Fläche Münchens. Aber immer noch weniger, als im gleichen Zeitraum verloren ging.

Die Kräfte, die Niger erschüttern, erscheinen oft stärker als die Kräfte, die das Land stützen. Die EU-Mission soll vom kommenden Jahr an helfen, das zu ändern. Doch die Gefahr besteht, dass mehr ausländische Truppen im Land am Ende das Gegenteil bewirken. In Mali waren die französischen Truppen 2014 mit offenen Armen empfangen worden. Knapp zehn Jahre später hatte sich die Stimmung gegen sie gewendet. Auch deshalb jubelten viele den Putschisten zu, – die sich im Kampf gegen Islamisten nun lieber von russischen Wagner-Söldnern helfen lassen wollen.

Dass die Regierung Nigers dem Westen die Unterstützung aufkündigt, ist derzeit nicht zu erwarten. „Doch die Frage ist, wie lange Präsident Bazoum mit dieser Politik den Rückhalt aus der Bevölkerung hat“, sagt Lisa Tschörner von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Ein „starkes antifranzösisches Ressentiment“ gebe es auch hier. Die Bundeswehr hat im Land einen besseren Ruf, doch Tschörner warnt: „Der Unmut richtet sich nicht nur gegen Frankreich, sondern gegen alle externen militärischen Interventionen. Anstatt die Sicherheit der Bevölkerung zu verbessern, werden sie von Vielen als Vorwand gesehen, die Ressourcen des Landes auszubeuten.“