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Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 17.04.2022

welt.de

Mit einer grünen Sahelzone gegen Armut und Klimawandel

Von Hans Christoph Buch

Der neue Film von Volker Schlöndorff erzählt von einer sensationellen Entdeckung: Unter der ausgetrockneten Erdoberfläche wuchern weiter die Wurzeln der einstigen Wälder. Eine Chance für die Staaten in dieser Region – wenn sie etwas daraus machen, schreibt der Schriftsteller H. C. Buch.

Lieber Volker Schlöndorff, wir kennen uns seit 1984, als Francois Mitterrands Kulturminister Jack Lang Künstler und Intellektuelle aus aller Welt nach Paris einlud. Seitdem warte ich auf die Realisierung Ihres Filmprojekts zur Kongo-Konferenz von 1884/85, bei der Europas Großmächte Afrika wie eine Schokoladentorte aufteilten und mit Schuhcreme geschwärzte Berliner Kinder für den „Kolonialschwindel“ warben, dem Bismarck skeptisch gegenüberstand. Statt des erhofften Spielfilms über den Afrikareisenden Henry Morton Stanley, der sich als Lobbyist für Belgiens König Leopold II. betätigte, sah ich kürzlich die Premiere Ihres abendfüllenden Dokumentarfilms „Der Waldmacher“, der gerade in den Kinos gestartet ist.

Um es vorweg zu sagen: Ihr Film hat mich begeistert, weil ihm die Quadratur des Kreises gelingt, einen spröden und sperrigen Stoff einfühlsam zu dramatisieren und die fortschreitende Erderwärmung, sprich Klimakatastrophe, so zu präsentieren, dass die Zuschauer das Kino hoffnungsvoll statt verzweifelt verlassen. Und das vor dem Hintergrund von Putins Überfall auf die Ukraine, der elementarste Menschenrechte wie auch diplomatische Verträge mit Füßen tritt und alle für Europa vereinbarten Klimaziele konterkariert.

Worum geht es? Den „Waldmacher“ gibt es wirklich: Er heißt Tony Rinaudo, ist Australier und entdeckte beim gescheiterten Versuch, die Sahelzone zu begrünen, dass das Wurzelwerk der durch Monokultur und Dürre zerstörten Wälder unter der Erdoberfläche weiterwuchert und relativ leicht rekultiviert werden kann. Eine bahnbrechende Erkenntnis, das Ei des Kolumbus, wenn man so will, für eine innerafrikanische Region, aus der die Jugend in die Slums der Städte abwandert, um von dort mit Lastwagen und/oder seeuntüchtigen Booten nach Europa zu gelangen.

Schlöndorff hat die auf dem Land verbliebenen Kleinbauern, oft von Männern verlassene Frauen, die mit ihren Kindern im Dorf zurückbleiben, nicht von oben herab interviewt, sondern liebevoll porträtiert, indem er sie statt als Hilfsobjekte als selbstbestimmte Subjekte behandelt. Dass sein freundlicher Gewährsmann Tony Rinaudo die Haussa-Sprache spricht und sich in afrikanische Mentalitäten einfühlen kann, hat dem Regisseur im Senegal, im Niger, in Ghana und Äthiopien Türen geöffnet und Einblicke in sonst verschlossene Bereiche erlaubt.

Das Ergebnis überrascht: Sein Film gibt den Ärmsten der Armen ihre Würde und Schönheit zurück, die man in den Villen der Superreichen, die es auch in Afrika gibt, und ihrem Gegenstück, den Slums der Großstädte, vergeblich sucht.

Ich weiß, wovon ich rede, denn ich kehre soeben aus Haiti zurück, der in die Karibik verpflanzten afrikanischen Diaspora, wo die Probleme der Dritten Welt sich wie in einem Brennglas bündeln. Das Wort steht hier nicht von ungefähr, denn obwohl ich Haiti gut zu kennen glaubte – ein Teil meiner Familie stammt von dort – erblickte ich etwas, das mir, wörtlich und nicht nur im übertragenen Sinn, den Atem verschlug: einen durch Plastikabfälle verstopften Fluss, den Blitzschläge oder Glasscherben in Brand gesetzt hatten.

Das Gegenstück zum brennenden Fluss war die Brandung am Strand von Cap Haitien, wo, wer sich ins Wasser wagt, bis zu den Hüften im Plastikmüll versinkt, den die Meeresströmung hier deponiert. Nicht nur Seevögel und Fische, auch Rinder und Ziegen fressen Plastikabfälle, die nach Salz schmecken, wie Schlöndorff aus Afrika berichtet, und sterben qualvoll daran – vielleicht hat er deshalb den Müll nicht gefilmt.

Haiti ist das Paradebeispiel eines gescheiterten Staates, dessen Regierung nur auf dem Papier existiert, während kriminelle Banden die Hauptstadt Port-au-Prince zur No-Go-Area machen. Überfälle und Entführungen sind an der Tagesordnung, die Ermordung des Präsidenten Moise im Juli 2021 ist bis heute nicht aufgeklärt, die Säuglingssterblichkeit so hoch wie die Arbeitslosigkeit.

Die Frauen holen Wasser, die Männer haben sich davongemacht

Auf Einladung der Welthungerhilfe besichtigte ich Projekte im Norden des Landes, die nur auf Schlammpisten zu erreichen sind, auf denen Autos sich querstellen oder in Schluchten fallen. In dem Bergdorf Gens de Nantes traf ich die Zivilgesellschaft, bestehend aus 18 Frauen mit insgesamt 65 Kindern. Ich wollte wissen, warum nur Frauen und Mädchen Wasserbehälter auf dem Kopf transportieren – eine Frage, die auch Schlöndorffs Film thematisiert.

Die Antwort war eine Notlüge: Auch Männern sei das Wasserholen erlaubt, aber die hätten sich über die Berge davongemacht, um Arbeit zu suchen in der Dominikanischen Republik. Meine Replik enthielt nur die halbe Wahrheit: Ich versprach, mich dafür einzusetzen, die Frauen aus Haiti nach Nantes einzuladen. Dass die Hafenstadt an der Loire einst Zentrum des Sklavenhandels gewesen war, verschwieg ich wohlweislich.

Ihr Film ist eine Wohltat, lieber Volker Schlöndorff, weil er Ambivalenzen sichtbar macht – anders als das von Kritikern hochgelobte Dokudrama „Rottet die Bestien aus!“ des Haitianers Raoul Peck. Der lastet alle Übel der Welt bösen weißen Männern an, von denen einer, wild um sich schießend wie der Schurke im Italo-Western, von einer Gräueltat zur nächsten schreitet.

Auch Sie, Herr Schlöndorff, sind ein alter weißer Mann. Aber anders als es Wokeness-Aktivistinnen heute unisono verkünden, blicken Sie nicht besserwisserisch auf Afrika herab, sondern begegnen den Menschen dort, wo einst die Wiege der Menschheit war, auf Augenhöhe und mit Respekt.

Trotzdem bliebt die Frage, ob das optimistische Denken und Handeln eines Tony Rinaudo genügt, um Afrikas Misere, die auch hausgemacht und nicht nur ein Erbe der in den 1960er-Jahren beendeten Kolonialherrschaft ist, zu überwinden und den Massenexodus der Jugend zu stoppen? Die Antwort lautet nein, denn Ihr Film spart die politischen Verhältnisse, die Korruption und Brutalität selbsternannter Eliten mit Absicht aus und verzichtet darauf, monokausal alle Missstände der Gegenwart aus einer einzigen Ursache namens Kolonialismus herzuleiten. Dafür gebührt Ihnen Dank!

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Hans Christoph Buch ist Schriftsteller und lebt, wenn er nicht auf Reisen ist, in Berlin. Von ihm erschien kürzlich „Nächtliche Geräusche im Dschungel – Postkoloniale Notizen“ (Transit Verlag).