Beitrag vom 01.01.2022
FAS
ZUM TOD VON DESMOND TUTU
Ein großer Kämpfer für den Frieden
Desmond Tutu war Bischof, Freiheitskämpfer und ein Symbol für das Ende der Apartheid in Südafrika.
Im Südafrika der Jahre nach 1948 hatte er keine Lebensperspektive, die irgendwie verlockend erschienen wäre. Sein größtes „Manko“ war natürlich seine Hautfarbe. Die Regierung propagierte nämlich die strikte Rassentrennung. Und da waren die Hierarchien eindeutig. Die Weißen hatten zu bestimmen, alle anderen, vor allem die Schwarzen, hatten zu gehorchen. Dieser Gesellschaftsordnung widersetzte sich Desmond Tutu mit Leidenschaft. Er tat dies aber, darin unterschied er sich von vielen seiner Mitkämpfer, immer mit friedlichen Mitteln. Und obwohl diejenigen, die sich gegen jede Gewalt in der politischen Auseinandersetzung wenden, oft und gerne belächelt werden, gibt es auch immer wieder Beispiele dafür, dass nicht nur in der Natur steter Tropfen am Ende doch den Stein höhlt. Besonders schwer mag Tutu das Festhalten an der Gewaltlosigkeit nach der Überwindung der Apartheid gefallen sein. Vor der von ihm geleiteten Versöhnungs- und Wahrheitskommission berichteten Täter und Opfer von einst über all die Schrecklichkeiten des alten Regimes. Dass es danach nicht zu Rachefeldzügen kam, grenzt an ein Wunder.
Tutus Kampf kam zugute, dass er als Erzbischof von Kapstadt über eine gewissermaßen amtliche Autorität verfügte. Die hätte ihm freilich wenig genützt, wenn er nicht mit jener Leidenschaft und Klarheit argumentiert hätte, die nur wenigen gegeben ist. So wurde er zu einer führenden Stimme des „anderen“ Südafrika. Schon frühzeitig fand er auch international Gehör. Vielen anderen Anti-Apartheid-Kämpfern war dies nicht möglich, weil sie – wie Nelson Mandela – noch im Gefängnis waren.
Entweder man war für die Apartheit, oder man war dagegen
Tutus Ansichten stießen durchaus nicht überall auf Gegenliebe. Wenn es nämlich um sein Lebensthema ging, kannte er nur Gut oder Böse. Entweder man war für die Apartheid, oder man war dagegen. Versuche westlicher Staaten und Unternehmen, durch „konstruktives Engagement“ Veränderungen unterhalb eines Systemwechsels herbeizuführen, erteilte er eine klare Absage.
Kompromisslos geißelte er freilich auch nach der Demokratisierung Südafrikas die Politik der ehemaligen Freiheitskämpfer des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC). Gerade weil der Friedensnobelpreisträger sich und seinen Prinzipien bis zum Ende treu blieb, fielen die Reaktionen auf seinen Tod am 26. Dezember so einhellig aus. Der kleine Mann aus Kapstadt war ein Großer. pes.
* * *
Desmond Tutus Nobelpreisrede (gekürzt), gehalten am 11. Dezember 1984 in Oslo:
Meine Damen und Herren,
bevor ich Südafrika verließ, ein Land, das ich leidenschaftlich liebe, hatten wir eine außerordentliche Sitzung des Exekutivausschusses des Südafrikanischen Kirchenrates mit den führenden Vertretern unserer Mitgliedskirchen. Der Grund für diese Sitzung war die Verschärfung der Krise in unserem Land, die allein in diesem Jahr nahezu 200 Menschenleben gefordert hat. Wir besuchten einige der Brennpunkte im Witwatersrand. Zusammen mit anderen ging ich nach East Rand. Wir besuchten die Wohnung einer alten Dame. Sie erzählte uns, dass sie sich um ihren Enkel und einige Nachbarskinder kümmerte, wenn die Eltern auf der Arbeit waren. Eines Tages verfolgte die Polizei einige Schüler, die den Unterricht boykottierten, doch sie verschwanden zwischen den Häusern der Township. Die Polizei fuhr durch die Straße der alten Dame. Sie saß in der Küche im hinteren Teil des Hauses, während ihre Schützlinge im vorderen Teil im Hof spielten. Plötzlich stürmte ihre Tochter ins Haus und rief nach ihr, sie solle rasch kommen. Die alte Dame eilte aus der Küche ins Wohnzimmer. Ihr Enkel lag gleich an der Tür im Haus, tot. Ein Polizist hatte ihm in den Rücken geschossen. Er war sechs Jahre alt. Ein paar Wochen später fuhr eine weiße Mutter, die ihre schwarze Hausangestellte zur Arbeit abholen wollte, durch eine schwarze Township. Schwarze Randalierer bewarfen ihr Auto mit Steinen und töteten ihr wenige Monate altes Kind – das erste weiße Opfer der gegenwärtigen Unruhen in Südafrika. Das sind zwei Tote zu viel. Und das gehört zu den hohen Kosten der Apartheid. (. . .)
Ich komme aus einem wunderschönen Land, reich beschenkt von Gott mit wunderbaren Bodenschätzen, weiten Landschaften, hügeligen Bergländern, zwitschernden Vögeln, hell an einem blauen Himmel glänzenden Sternen und strahlendem, goldenem Sonnenschein. Es gibt genug gute Dinge, die aus Gottes Gnade stammen, genug für alle, doch die Apartheid bestärkt manche in ihrer Selbstsucht und veranlasst sie, gierig nach einem unverhältnismäßig großen Anteil zu greifen, dem Löwenanteil, weil sie die Macht haben. Sie haben sich 87 Prozent des Landes angeeignet, obwohl sie nur 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Die Übrigen müssen sich mit den restlichen 13 Prozent begnügen. Die Apartheid verordnet eine Politik der Ausschließung, die 73 Prozent der Bevölkerung jede nennenswerte Beteiligung an den politischen Entscheidungsprozessen im Land ihrer Geburt vorenthält. (. . .) Man beraubt die Schwarzen systematisch ihrer südafrikanischen Staatsbürgerschaft, wodurch sie zu Fremden im Land ihrer Geburt werden. Das ist die Endlösung der Apartheid, ganz wie die Nazis in Hitlers Arierwahn ihre Endlösung für die Juden verfolgten. (. . .)
In Verfolgung des ideologisch-rassistischen Traums der Apartheid hat man mehr als drei Millionen Kinder Gottes entwurzelt, ihr Heim zerstört und sie in den Umsiedlungslagern des Bantustan-Homelands entsorgt. Ich sage ganz bewusst „entsorgt“, denn nur Dinge oder Abfälle werden entsorgt, nicht jedoch Menschen. Die Apartheid sorgt jedoch dafür, dass Kinder Gottes, nur weil sie schwarz sind, so behandelt werden, als wären sie Dinge und nicht Wesen von unendlichem Wert, die nach dem Bilde Gottes geschaffen sind. Diese „Müllhalden“ liegen in weiter Entfernung von Regionen, in denen sich Arbeit und Nahrung leicht beschaffen ließen. Die Kinder hungern und leiden an den oft nicht wiedergutzumachenden Folgen der Unterernährung – und das nicht durch Zufall, sondern infolge einer ganz bewussten staatlichen Politik. Sie hungern in einem Land, das der Brotkorb Afrikas sein könnte und normalerweise ein Nettoexporteur von Nahrungsmitteln ist. Der Vater lässt seine Familie im Bantustan-Homeland zurück, die dort ein elendes Dasein fristet, während er, falls er Glück hat, als Migrant in die „Stadt des weißen Mannes“ geht und elf Monate im Jahr ein unnatürliches Leben in einem Männerwohnheim führt, wo er der Prostitution, der Trunksucht oder Schlimmerem zum Opfer fallen kann. (. . .)
Diesem System gilt es als feindlicher Akt, dass unser Volk sich zumindest seit 1912 durch die Gründung des Afrikanischen Nationalkongresses friedlich zu schützen versucht. Man verwendet die herkömmlichen Methoden friedlichen Protests – Petitionen, Demonstrationen, Abordnungen und sogar Kampagnen passiven Widerstands. (. . .) Unser Volk ist zutiefst friedliebend. Unsere staatlichen Institutionen antworten darauf mit wachsender Unnachgiebigkeit und Gewalt, der Gewalt von Polizeihunden, Tränengas, Inhaftierung ohne Gerichtsurteil, Exil und sogar Tod. (. . .)
Im Westen gibt es kaum Abscheu oder Empörung über diese frevelhafte Vernichtung von Menschenleben. Nebenbei gesagt: Könnte mir jemand bitte etwas erklären, das ich nicht recht verstehe. Wenn ein Priester vermisst wird und dann tot aufgefunden wird, berichten die Medien im Westen ausführlich darüber. [Eine Anspielung auf die Ermordung von Pater Jerzy Popieluszko durch den polnischen Geheimdienst im Oktober 1984, Anmerkung der Red.] Es freut mich, dass der Tod eines Menschen derart große Aufmerksamkeit erregen kann. Doch wenn in derselben Woche, in der man die Leiche des Priesters fand, südafrikanische Polizisten 24 Schwarze töten, die an Protesten teilgenommen hatten, und 6000 Schwarze aus demselben Grund gefeuert werden, kann man froh sein, wenn überhaupt darüber berichtet wird. Sagt man uns damit etwas, das ich gar nicht glauben mag, nämlich dass wir Schwarzen überflüssig sind, dass Blut dicker als Wasser ist, dass man den Weißen, wenn es darauf ankommt, nicht trauen darf, weil sie sich dann gegen uns verbünden? Ich möchte nicht glauben, dass dies die Botschaft ist, die man uns damit übermittelt.
Wie dem auch sei, wir haben hier ein Land mit einem großen Mangel an Gerechtigkeit vor uns, in dem es deshalb auch keinen Frieden und keine Sicherheit gibt. Die Unruhen sind endemisch und werden unverändert ein Kennzeichen der südafrikanischen Szene bleiben, bis die Apartheid, die Wurzel von alledem, endlich abgeschafft wird. Gegenwärtig wird die Armee gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt. Ein Bürgerkrieg wütet im Land, mit Südafrikanern auf beiden Seiten. Als der Afrikanische Nationalkongress und der Panafrikanische Kongress 1960 verboten wurden, erklärten sie, man habe keine andere Wahl als den bewaffneten Kampf. Wir im Südafrikanischen Kirchenrat sagen, wir sind gegen jegliche Art von Gewalt – die eines repressiven, ungerechten Systems und die all derer, die dieses System stürzen wollen. Wir fügen jedoch hinzu, dass wir diejenigen verstehen, die sagen, sie müssten nach dem Mittel greifen, das ihnen als letzter Ausweg erscheint. (. . .)
In Südafrika gibt es keinen Frieden. Es gibt keinen Frieden, weil es dort keine Gerechtigkeit gibt. Es kann erst dann echten Frieden und wirkliche Sicherheit geben, wenn allen Einwohnern dieses wunderbaren Landes Gerechtigkeit widerfährt. Der Frieden Gottes, Shalom, setzt unausweichlich Rechtschaffenheit, Gerechtigkeit, Ganzheit, Lebensfülle, Beteiligung an den Entscheidungen, Güte, Lachen, Freude, Mitgefühl, Teilen und Versöhnung voraus.
Ich habe zunächst einmal so ausführlich über Südafrika gesprochen, weil ich dieses Land am besten kenne, aber auch weil es einen Mikrokosmos der Welt und ein Beispiel für Dinge darstellt, die sich in unterschiedlichen Graden auch in anderen Ländern finden: Wenn es Ungerechtigkeit gibt, bleibt der Frieden unausweichlich auf der Strecke. (. . .)
Wann werden wir lernen, dass Menschen einen unendlichen Wert haben, weil sie nach dem Bilde Gottes geschaffen sind, und dass es Gotteslästerung ist, sie so zu behandeln, als wären sie weniger als das, und dass solch ein Verhalten letztlich auf die zurückfällt, die dies tun? Mit der Entmenschlichung anderer entmenschlicht man sich selbst. Vielleicht entmenschlicht Unterdrückung den Unterdrücker ebenso oder sogar noch mehr als den Unterdrückten. Sie brauchen einander, um wirklich frei zu werden, um Mensch zu werden. (. . .)
Gott ruft uns dazu auf, mit ihm gemeinsam an der Erweiterung seines Reiches zu arbeiten, eines Reichs des Friedens, der Gerechtigkeit, der Güte, des Mitgefühls, der Fürsorge, des Teilens, des Lachens, der Freude und Versöhnung, damit die Reiche dieser Welt das Reich unseres Gottes und Jesu Christi werden und er für immer und ewig herrscht. Amen. Dann wird die wunderbare Vision in der Offenbarung des Johannes (Offenbarung 7:9–12) in Erfüllung gehen:
„Danach sah ich und siehe, eine große Schar aus allen Nationen und Stämmen, Völkern und Sprachen; niemand konnte sie zählen. Sie standen vor dem Thron und vor dem Lamm, gekleidet in weiße Gewänder, und trugen Palmzweige in den Händen. Sie riefen mit lauter Stimme und sprachen: Die Rettung kommt von unserem Gott, der auf dem Thron sitzt, und von dem Lamm. Und alle Engel standen rings um den Thron, um die Ältesten und die vier Lebewesen. Sie warfen sich vor dem Thron auf ihr Angesicht nieder, beteten Gott an und sprachen: Amen, Lob und Herrlichkeit, Weisheit und Dank, Ehre und Macht und Stärke unserem Gott in alle Ewigkeit. Amen.“
Aus dem Englischen von Michael Bischoff.