Beitrag vom 28.12.2021
NZZ
«Wenn die Schweizer kamen, rannte ich los wie der Teufel.» Was in einer ostafrikanischen Kleinstadt nach sechs Jahrzehnten Entwicklungshilfe bleibt
Die Schweiz hat in Tansania bisher fast 900 Millionen Franken an Entwicklungshilfe investiert. Ergibt das Sinn? Und was hat sich verändert? Eine Spurensuche.
Samuel Misteli Ifakara
An einem Samstagmorgen Ende November rollen zwei schwere Toyota Landcruiser eine Schotterpiste in Tansania hinunter. Vorne auf einem der Wagen ist eine kleine Schweizer Flagge befestigt. Im Auto sitzt Patricia Danzi, die Chefin der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza). Sie ist die oberste Schweizer Entwicklungshelferin, im Amt seit Mai 2020.
Als Danzi antrat, landeten hohe Budgetanträge für ein neues Vier-Jahres-Programm in Tansania auf ihrem Schreibtisch. Tansania ist seit Jahrzehnten eines der wichtigsten Länder für die Deza. Tansania war zu dem Zeitpunkt aber auch ein Land mit einem exzentrischen Präsidenten, der das Ausland, und vor allem den Westen, für alles verantwortlich machte, was schieflief.
Patricia Danzi fragte: «Macht unser neues Vier-Jahres-Programm unter diesen Umständen Sinn?»
Nun, eineinhalb Jahre später, ist die Direktorin auf Visite in Ostafrika. Der exzentrische Präsident ist vor neun Monaten gestorben, laut Gerüchten an Covid-19. Danzi hat seine Nachfolgerin getroffen, die versucht, die Beziehungen zu den Geldgebern zu kitten. Danzi sagt, sie habe einen guten Eindruck gehabt.
Jetzt ist die Direktorin unterwegs, um sich zu vergewissern, dass die Hilfe sinnvoll ist. Sie hat im Hotel Edelwyss übernachtet, in den Hügeln oberhalb der Stadt Morogoro. Das Hotel gehört einem schweizerisch-tansanischen Ehepaar, was symbolisch sinnvoll ist. Als Danzi am Abend ankam, warteten bereits junge Leute, die erzählen wollten, wie sie mit Deza-Geld ihr Land verbessern, das noch immer zu den ärmsten der Welt gehört. Es ging um Wertschöpfungsketten und um Module, das ist der Sound der modernen Entwicklungshilfe.
Was die Millionen und die Rhetorik bringen, ist manchmal schwierig zu sagen. Vielleicht findet man es am besten heraus an einem Ort, an den Patricia Danzi aus Zeitgründen nicht reist. Der Ort liegt vier Stunden entfernt von Morogoro und heisst Ifakara. Die Deza investiert in Ifakara seit den 1960er Jahren, also seit ihren Anfängen. Und Schweizerinnen und Schweizer leisteten in Ifakara schon Entwicklungshilfe, bevor diese so hiess.
Jagdtrophäen und Grabsteine von Schweizern
Ifakara ist eine Kleinstadt wie aus einem Western. Ein paar wenige geteerte Strassen, eine Hauptstrasse mit Läden, die Eisenwaren, Autoersatzteile und Zahnpasta verkaufen. Ein paar Bars, ein Markt. 2012, beim letzten Zensus, hatte Ifakara 100 000 Einwohner.
Es gibt in Ifakara ein Spital mit 350 Angestellten – es wurde von Schweizern gegründet. Es gibt ein Forschungsinstitut – von einem Schweizer gegründet. Es gibt verschiedene Schulen – von Schweizern gegründet. In Ifakara hängen an Hauswänden Jagdtrophäen, die Schweizer dort hingehängt haben. Und auf Grabsteinen in Ifakara stehen Schweizer Namen.
Ältere Bewohner von Ifakara sagen:
«Früher dachten wir, alle Weissen seien Schweizer.»
«Die Schweizer brachten Entwicklung hierher.»
Mehrere sagen: «Du kannst die Geschichte dieser Gegend nicht erzählen ohne die Schweizer.»
In den 1920er Jahren kamen Kapuzinermönche und Franziskanerschwestern. Sie waren die ersten Schweizer. Die Missionare bauten Schulen, Häuser und Krankenstationen, Brunnen und Wasserleitungen. Sie verteilten Post, sie beschafften Geld in Dar-es-Salam. Sie waren der Staat in einer Gegend, für die sich die britischen Kolonialherren kaum interessierten – weil es dort nichts gab ausser weitem Land und Malaria.
1961 wurde Tansania unabhängig, es gab nun einen Staat, und dieser wollte zeigen, dass er die Zügel übernommen hatte. Das hiess nicht, dass er keine Hilfe angenommen hätte. Doch diese sollte nicht mehr nach Barmherzigkeit tönen, sondern nach Fortschritt. Hilfe zur Selbsthilfe. Manche Missionare fragten sich, ob es Zeit sei, zu gehen.
Im selben Jahr richtete der Bund einen Dienst für technische Zusammenarbeit ein, die Vorgängerorganisation der Deza. Fünf Jahre später unterzeichneten die Schweiz und Tansania ein bilaterales Abkommen. 1968 flossen 950 000 Franken nach Tansania. Bis heute sind fast 900 Millionen dazugekommen, 2021 waren es 22 Millionen.
Als die spätere Deza nach Ifakara kam, goss sie Geld in die Institutionen, die Schweizer schon gegründet hatten. Sie bezahlte die Löhne von Schweizer Ärzten im Spital, das die Kapuziner 1927 gegründet hatten. Sie finanzierte Forschung am Institut, das Rudolf Geigy, der Direktor des Basler Tropeninstituts, in den 1950er Jahren gegründet hatte. 1981 bestimmte die Schweiz Tansania zu einem Schwerpunktland – und die Region um Ifakara wurde zum Labor.
Das Entwicklungslabor
Schweizer Ingenieure halfen in den 1980ern mit, 400 Kilometer Strassen und Dutzende von Brücken zu bauen. Sie sollten den Bauern der Region ermöglichen, ihren Reis auf Märkten zu verkaufen, die vorher unerreichbar waren. Deza-Beiträge in den ersten sechs Jahren: 19,2 Millionen Franken.
Schweizer Experten stellten Kleinbauern Zuchtbullen zur Verfügung für ein «Kuhverbesserungsprojekt». Es sollte den Bauern zu mehr Milch verhelfen. Deza-Beiträge in den ersten zehn Jahren: 10,4 Millionen Franken.
Schweizer Forscher fanden in den Dörfern Probanden. Zum Beispiel in Kikwawila, einem Dorf gleich neben Ifakara, in dem in den 1980ern die Bilharziose umging, eine Infektionskrankheit.
Dort sitzen Ende November vier Männer auf Plastikstühlen, die sie in den Schatten eines Baumes gerückt haben. Auf einem fünften Stuhl sitzt die Dorfvorsteherin; manchmal macht sie Notizen, manchmal döst sie weg. Die Männer kichern, sie schwelgen in Erinnerungen.
«Wenn die Schweizer kamen», sagt Shabani Salahange, «rannte ich los wie der Teufel.»
«Wenn wir das Auto kommen sahen, legten wir uns hin wie Schlangen», sagt Issa Mkwezi. «Wir warteten, bis es vorbeigefahren war.»
«Mumiani», riefen sie, wenn die Schweizer kamen: Blutsauger. Und das halbe Dorf flüchtete.
Tatsächlich wollten die Schweizer Blut. Ihre Forschung zu Malaria und Bilharziose, von der Entwicklungshilfe des Bundes finanziert, sollte bald Weltrang haben. Das konnten die vier Männer nicht wissen, sie waren damals Schulkinder.
Dann bauten die Schweizer eine Wasserversorgung. Zuvor kam das Wasser aus einem Bach, und im Bach hatte es Schnecken, die als Wirte dienten für die Larven, die die Bilharziose verursachten. Die Dorfbewohner bauten mit, sie gruben Kanäle für die Leitungen, die Kinder schleppten Röhren. Man könnte den Bau als vertrauensbildende Massnahme bezeichnen. Oder, boshafter, als Tauschhandel: Ihr kriegt sauberes Wasser, wir Blut für die Forschung.
Und es funktionierte. Die Bilharziose ging zurück, die Kinder rannten nicht mehr weg. Wenn die Schweizer und ihre Helfer nun kamen, stellten sie drei Tische unter die grossen Mangobäume vor dem Schulgebäude. Die Glocke tönte, und die Lehrer reihten die Kinder auf im Hof. Am ersten Tisch nahmen die Forscher Blut, um auf Malaria zu testen. Am zweiten händigten sie Behälter aus für Stuhlproben. Am dritten gab es Tabletten.
So lief das ab im Labor der Schweizer Entwicklungshilfe. Es war nicht von Dauer – denn die Entwicklungshilfe hat ihre Modezyklen, und jener von Ifakara ging langsam zu Ende.
Was bleibt aus diesen Jahren? Man realisierte, dass Strassen nicht nur gebaut, sondern auch unterhalten werden müssen. Ein Unterhaltsfonds wurde eingerichtet, die tansanische Regierung finanziert ihn bis heute über einen Treibstoffzuschlag.
Die mit Schweizer Hilfe hochgezüchteten Milchkühe fanden bei den Kleinbauern keinen Anklang – sie wurden leicht krank. Das Projekt überlebte trotzdem bis 2003, dann wurde es eingestellt.
Und in Kikwawila liegt 100 Meter von dort, wo die vier Männer im Schatten sitzen, ein Brunnen aus Zement. «Maji 1986» steht darauf, Wasser 1986. Doch es fliesst kein Wasser mehr. Die Bevölkerung von Kikwawila hat sich verfünffacht seit den 1980er Jahren. Bewohner zapften die Leitungen an, damit das Wasser auch zu ihren Häusern gelangen würde. Schliesslich kam keines mehr zum Brunnen.
Ob die Schweiz nicht ein neues Projekt finanzieren könne, um die Leitungen zu erneuern, fragen die Männer. Aber die Schweiz baut keine Brunnen mehr. Sie leistet sektoriellen Support.
Adieu, Ifakara
In den 1990er Jahren veränderten sich die Philosophie und mit ihr die Sprache der Entwicklungshilfe. Man fragte: Was bringt es, Spitäler, Strassen und Wasserleitungen zu bauen, wenn die Tansanier sie dann nicht selber unterhalten können? Man sprach nun vom «System», und das System war das Gegenteil des Leuchtturmprojekts. Es gibt Leute bei der Deza, die das Wort «Projekt» aussprechen, als wäre es ein Schimpfwort.
Und so gab die Deza in den 1990er Jahren Geld, um die Gesundheitsversorgung in der Millionenmetropole Dar-es-Salam zu dezentralisieren. Das hiess zum Beispiel: die Bestellung von Medikamenten an die einzelnen Gesundheitsstationen zu delegieren.
«Man rückte davon ab, die Arbeit selber zu machen. Stattdessen half man den anderen, ihre Arbeit besser zu machen», sagt Christian Lengeler. Der Epidemiologe und Malaria-Experte forschte in den 1980er Jahren in Ifakara. Heute arbeitet er für das Basler Tropeninstitut und ist immer noch an Projekten in Tansania beteiligt.
Der Entwicklungshilfe kamen die grossen Gesten und ein Stück weit die Emotionen abhanden. Schweizerinnen und Schweizer nahmen kein Blut mehr, sie gaben Budgethilfe, damit der tansanische Staat sich selber helfen konnte. «Sektorieller Support» nannte sich das.
Die moderne Entwicklungshilfe klingt nach Betriebsökonomie und IT. Deza-Berichte sind für Laien unlesbar. Die Entwicklungshilfe hat sich damit auch ein Kommunikationsproblem eingehandelt. «Strassen und Brücken versteht jeder», sagt Christian Lengeler. «Aber versuchen Sie mal einer Schweizer Familie zu erklären, was sektorieller Support ist.»
Für Ifakara hiess das alles: Es kam weniger Geld und damit weniger Schweizer. In den 2010er Jahren finanzierte die Deza unter Zähneknirschen die Erneuerung des Spitals. Micheline Calmy-Rey, die frühere Aussenministerin, wollte es so. Sie fand, man könne das Spital nicht verlottern lassen. Bei der Deza waren sie anderer Meinung.
In Ifakara denken sie schon längst nicht mehr, alle Weissen seien Schweizer. In Ifakara denken sie: «Muzungu ist Muzungu», ein Weisser ist ein Weisser. Bauen tun in Ifakara andere: Chinesen haben eine Brücke gebaut über den Kilombero, den grossen Fluss der Region. Israeli teeren die Strasse, die nach Ifakara führt. Italiener sind zuständig für die Bauarbeiten am Spital.
So gesehen ist Sabine Renggli ein Anachronismus: eine moderne Schweizer Entwicklungshelferin, die für ein von der Deza unterstütztes Projekt in Ifakara arbeitet. Die 36-jährige Epidemiologin spricht Swahili so fliessend wie einst die Kapuziner. Doch von ihrer Arbeit werden nicht Schulen und Kirchen bleiben. Was bleiben wird, ist ein Algorithmus.
Das Projekt, in dem Renggli arbeitet, heisst «Dynamic». Es zielt darauf, die Verschreibung von Antibiotika an Kinder zu reduzieren. Zu diesem Zweck verteilen Renggli und ihr Team Tablets an Ärztinnen und Ärzte in den Dörfern der Region. Auf den Tablets hat es eine App, sie leitet die Ärzte mit Fragen durch den Diagnoseprozess wie durch ein Quiz. Am Ende schlägt die App vor, was der Arzt verschreiben soll.
Um den Diagnoseprozess in der App zu verbessern, sammelt Rengglis Team Daten. Sie registrieren die behandelten Kinder, und sie fragen eine Woche nach der Behandlung nach, wie sich die Krankheit entwickelt hat. Die Daten trainieren dann den Algorithmus, auf dem der Diagnoseprozess beruht.
Manchmal läuft das mit den Daten schief. Weil das Internet die Dörfer nicht erreicht, der Strom ausfällt, oder weil die Helferinnen und Helfer in den Krankenstationen Fehler machen. Wenn das passiert, jagt Sabine Renggli verschwundene Kinder, so wie sie es in den 1980er Jahren in Kikwawila taten.
Zum Beispiel am letzten Freitag im November. Renggli steht vor der Gesundheitsstation im Dorf Sonjo, eineinhalb Stunden von Ifakara entfernt. Vor ihr auf der Mauer liegen zwei Tablets und zwei Handys, neben ihr steht Ibrahim Mtebene, der IT-Experte des Teams. Die beiden beugen sich über das Tablet, das die Daten übermitteln sollte. Es hat vor einer Woche fünfzehn neu registrierte Kinder gemeldet. Doch die Helferin vor Ort hat nur von fünf Kindern Detaildaten geschickt.
«Zehn verschwundene Kinder», sagt Renggli, «das können wir nicht akzeptieren. Ich weiss nicht, was falsch gelaufen ist.»
Kurz darauf: «Ah, ich hab’s. Schau, was passiert ist: Sie hat das Formular dreimal geschickt. Und was das System dann macht . . .»
«Es kumuliert sie», sagt Mtebene.
«Genau, schau hier, da waren fünf. Und dann hier . . .»
«Nochmals fünf.»
«Das macht zehn. Und dann nochmals fünf, das macht fünfzehn.»
«Das heisst, das System hat die fünf Kinder dupliziert.»
«Tripliziert.» Problem gelöst.
So klingt die moderne Entwicklungszusammenarbeit. Sabine Renggli sagt: «Früher konnten Entwicklungshelfer Bilder zeigen von Moskitonetzen, die vor Malaria schützen. Bei uns sehen alle Bilder aus wie Sitzungen.» Und das ist auch in Ordnung so, sie sagt, sie habe kein Bedürfnis, jeden Tag eine Gesundheitsstation zu eröffnen. Hauptsache, ihre Arbeit habe Bestand.
Ergibt das Sinn?
895 Millionen Franken sind geflossen, und sechs Jahrzehnte sind vergangen, seit sich die öffentliche Schweizer Entwicklungshilfe in Tansania engagiert. Ergibt das Sinn?
In Ifakara gibt es ein Spital, von Schweizer Kapuzinern gegründet, von der Deza einst unterstützt, es hat in diesem Jahr rund 10 000 Patientinnen und Patienten stationär behandelt. Es gibt in Ifakara ein Forschungsinstitut, von einem Schweizer gegründet, von der Deza unterstützt, es gehört in der Malaria- und der HIV-Forschung zu den besten in Afrika. Es gibt Schulen in Ifakara, von Schweizern gegründet, und es gibt Sabine Renggli und einen Algorithmus, der die Entwicklung von Antibiotikaresistenz bremsen soll.
Es gibt noch immer kaum eine geteerte Strasse in Ifakara. Es gibt Brücken in der Region, von der Deza finanziert, doch ihr Metall ist langsam rostig. Es gibt Wasserleitungen in Kikwawila, doch Wasser fliesst keines mehr durch sie.
Vier Stunden entfernt von Ifakara sitzt Patricia Danzi im Hotel Edelwyss beim Frühstück. In wenigen Minuten wird sie den Berg runterfahren, sie wird junge Frauen treffen, die Startups gegründet haben, und junge Männer, die sich mit biologischer Landwirtschaft auskennen. Sie wird zu ihnen sagen: «Keep it up», macht weiter so.
Beim Frühstück sagt Patricia Danzi, sie sehe viel Dynamik in Tansania, und sie sagt: «Die Entwicklungshilfe des letzten Jahrtausends hat teilweise Abhängigkeiten geschaffen, obwohl sie gut gemeint war. Idealerweise müsste ein Land nicht 60 Jahre auf Entwicklungszusammenarbeit angewiesen sein.»
Die Schweizer sind überzeugt, dass sie heute besser helfen. Und die Empfänger?
Bei der Deza treffen noch immer Anfragen ein, ob man nicht einem Spital die neuesten Instrumente liefern könne. Die Gegenfragen lauten dann: Gibt es jemanden, der sie bedienen kann? Jemanden, der repariert? Ein Budget für Ersatzteile?
Sie bleiben meist unbeantwortet.