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Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 28.12.2021

NZZ

«Die Wirksamkeit war, dass Mobutu oder Suharto nicht gestürzt wurden» – was 60 Jahre Schweizer Entwicklungshilfe gebracht haben

Seit 1961 hat die Deza über 24 Milliarden Franken für die bilaterale Auslandshilfe ausgegeben. Trotz unzähliger Projektevaluationen ist fraglich, was der Bund damit erreicht hat.

Tobias Gafafer, Fabian Urech

Anfangs setzte die Schweiz in der Ferne auf das Vertraute: Sie engagierte sich in der Viehzucht – von Indien über Tansania bis Peru. Seit 1961, als der Bundesrat erstmals einen Delegierten für die Entwicklungszusammenarbeit ernannte, hat sich diese stark gewandelt. Die Mittel der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) und ihrer Vorgängerorganisation sind laufend gestiegen.

Über 24 Milliarden Franken hat diese von 1961 bis 2020 über Hilfswerke und andere Organisationen allein bilateral ausgegeben. Das zeigt eine Auflistung der Deza für die NZZ. Hinzu kommen Ausgaben für die Entwicklungshilfe über multilaterale Organisationen in Milliardenhöhe. Die Liste der Länder, in denen sich die Schweiz kontinuierlich engagiert, ist lang.

Vertreterinnen der Deza sprachen an einem virtuellen Jubiläumsanlass von Erfolgsgeschichten. Doch was hat das Engagement gebracht? Eine Antwort ist schwierig. Lange wurde die Wirkung nicht systematisch und unabhängig gemessen. Zudem ging es oft nicht nur um die Armutsbekämpfung vor Ort, sondern auch um die Umsetzung aussenpolitischer Interessen der Geberstaaten.

«Bis 1989 war die westliche Entwicklungszusammenarbeit darauf ausgerichtet, Freunde an der Macht zu halten», sagt Peter Niggli. Er befasst sich seit Jahrzehnten mit dem Thema und leitete die entwicklungspolitische Organisation Alliance Sud. Von der Entwicklungszusammenarbeit hätten Diktatoren wie Mobutu in Kongo-Kinshasa oder Suharto in Indonesien profitiert, sagt Niggli. «Die Wirksamkeit war, dass sie nicht gestürzt wurden. Der Rest interessierte die Geber nicht.»

In Ländern wie Indien ging es zunächst darum, den Einfluss des Kommunismus zurückzudrängen und neue Märkte zu erschliessen. Erst nach dem Ende des Kalten Kriegs wurde die Entwicklungszusammenarbeit hinterfragt. Nun schwenkte auch die Schweiz auf neue Schwerpunkte wie die Förderung der Demokratie, der Menschenrechte und der Zivilgesellschaft um.

Umstrittene Umstellung

Parallel rückte die Wirksamkeit der eingesetzten Mittel stärker in den Fokus. Etwa ab Mitte der neunziger Jahre begann die Deza, die Wirkung ihrer Arbeit anhand von Projektevaluationen systematisch und unabhängig zu messen. Der Fokus auf nachweisbare Resultate gefiel nicht allen. «Manchen Alteingesessenen hat die Umstellung viel Mühe gekostet», sagt Walter Fust. Er war von 1993 bis 2008 Direktor der Deza und galt als einer der mächtigsten Chefbeamten in Bern.

Doch auch unter Fust wurde der Fokus auf den Nutzen des Engagements kein Selbstläufer. Die ersten umfassenden Wirkungsanalysen, die die Arbeit der Deza oder einzelner Themenbereiche zu eruieren versuchten, entstanden erst ab der Jahrtausendwende. Zumindest zu Beginn erinnerten sie eher an Werbeprospekte als an kritische Analysen.

Das hat sich verbessert. Zuletzt liess die Deza jährlich zwischen 50 und 90 unabhängige Evaluationen durchführen – ein im internationalen Vergleich guter Wert. Die OECD lobt heute ebenfalls die «resultatorientierte Kultur» der Deza. Diese wird von Fachleuten auch damit erklärt, dass aussenpolitische Interessen in der Entwicklungszusammenarbeit eine geringere Rolle spielten als im Ausland. «Die neutrale Schweiz ist nicht gefährlich und hat keine Geopolitik», sagt Niggli.

Die jüngsten Resultate, die der Bund für die Deza ausweist, klingen auf dem Papier ebenfalls gut. Demnach sollen zwischen 2017 und 2020 etwa neun Millionen Menschen Zugang zu Grundbildung und Berufsbildung erhalten haben.

«Diese Dinge messen zu wollen, ist Unsinn.»

Trotzdem bleiben auch nach 60 Jahren Fragezeichen. Der unmittelbare Nutzen eines Hilfsprojekts, etwa die Anzahl Begünstigter eines Wasserversorgungsprojekts, lässt sich relativ leicht messen. Anspruchsvoller ist es dagegen, den längerfristigen Nutzen eines Projektes für die Entwicklung einer Gemeinschaft, einer Region oder eines Landes zu eruieren. Zudem ist es in gewissen Themenbereichen schwierig, die Wirkung zu überprüfen. Die Deza habe in Bangladesh die Zivilgesellschaft und den Aufbau von Bauern- und Frauenorganisationen gefördert, sagt Niggli. «Diese Dinge messen zu wollen, ist Unsinn.»

Fachleute warnen denn auch davor, die unmittelbaren Resultate eines Projekts als abschliessende Aussage über deren Erfolg zu verstehen. «Evaluationen und Wirkungsanalysen sind wichtig und werden in immer umfassenderem Stil gemacht», sagt der Entwicklungsexperte Tobias Hagmann, der die Arbeit der Deza seit langem verfolgt. «Aber man misst, was man messen kann und will. Dadurch werden viele Faktoren, die die Realität beeinflussen, ausgelassen.» Die Angaben etwa zur Zahl der Begünstigten eines Projektes seien sinnvoll. «Aber sie verraten nur bedingt, was das Projekt für die nachhaltige Entwicklung des Lebenskontextes dieser Menschen wirklich brachte.»

Zudem ist die Schweiz im Vergleich zu anderen Gebern in vielen Ländern eine kleine Akteurin. Es sei deshalb kaum möglich, die Wirkung des Engagements in einem spezifischen Land in den letzten 60 Jahren zu messen, sagt Toni Stadler. Er arbeitete bis zu seiner Pensionierung 25 Jahre in diversen Funktionen für die Deza, das IKRK und die Uno – und übte in den letzten Jahren immer wieder Kritik. Stadler bezweifelt aber, dass durch die bilaterale Projektarbeit der Deza und von NGO viele Fortschritte erzielt wurden. Vor allem diese sei viel weniger wirksam gewesen als allgemein angenommen, sagt er.

Stadler war unter anderem in Kambodscha und in Rwanda im Einsatz. Als erfolgreich erachtet er primär Projekte an der Schnittstelle von humanitärer Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit, wie das im Kambodscha der neunziger Jahre der Fall war. «Man hat Dörfer entmint, Strassen und Schulen gebaut sowie Saatgut bereitgestellt, dies mit finanzieller Beteiligung der Einheimischen.» Diese Projekte hätten sich auch nach dem Abzug der westlichen Helfer positiv weiterentwickelt. Zentral ist es gemäss Stadler, eine Exit-Strategie zu haben. «Ob ein Projekt nachhaltig ist, zeigt sich erst, wenn der Geber die Finanzierung einstellt.»

Einen Teil der Ungewissheit über den Nutzen der eingesetzten Mittel hat die Deza selber zu verantworten. Bis anhin gibt es nur wenige unabhängige Analysen darüber, welchen langfristigen Nutzen spezifische Projekte vor Ort hatten. Zudem kommuniziert die Deza bis heute ziemlich unausgewogen über ihre Arbeit. Sie stellt anekdotische Erfolgsgeschichten ins Zentrum und erwähnt Misserfolge höchstens in Nebensätzen.

Dass Entwicklungszusammenarbeit oft – und nicht selten notgedrungen – von Rückschlägen begleitet wird, findet kaum je Erwähnung. Auch die ernüchternde Tatsache, dass man in manchen Schwerpunktländern trotz beträchtlichen Hilfsgeldern seit Jahren keine Fortschritte sieht, ist selten Thema.

Der grösste Misserfolg

Als grössten Misserfolg der 60-jährigen Geschichte der Deza sehen viele Beobachter das Engagement in Rwanda vor dem Genozid. Das Land sei vor den tragischen drei Monaten im Frühjahr 1994, als zwischen 500 000 und einer Million Menschen umgebracht wurden, als Erfolg der Entwicklungszusammenarbeit gefeiert worden, sagt Stadler. «Zwischen 1989 und 1994 wurden durch westliche Geber im Eiltempo Menschenrechte und Demokratie installiert, ohne dass die dafür notwendige politische Kultur vorhanden war.» Der Entwicklungszusammenarbeit dafür die Schuld zu geben, wäre verkürzt, doch diese habe das Drama auch nicht verhindert.

Zugleich hat die Deza Erfolge vorzuweisen und gilt heute in den meisten Entwicklungsländern als zuverlässiger Partnerin, die in einigen Themenbereichen – etwa bei der Berufsbildung oder im Wasserbereich – international führend ist. Peter Niggli verweist auf die längerfristig positiven Folgen des Engagements in Indien, das bis 2011 ein Schwerpunktland der Deza war. «Was die Schweiz in Kerala in der Milchwirtschaft gemacht hat, hat Eingang in die Leitfäden an den Hochschulen gefunden und ist von anderen Bundesländern aufgenommen worden.» Solche Spuren finde man wohl in jedem Land, in dem sich die Schweiz engagiert habe. Ob dies angesichts der eingesetzten Mittel genügt, bleibt eine andere Frage.